1.1 Gegenstand, Akteure und Ziele der Wirtschaftspolitik
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Abläufe können in vielfältiger Weise politisch beeinflusst werden. Im weitesten Sinne umfasst Wirtschaftspolitik alle Maßnahmen, mit denen staatliche oder nicht-staatliche Akteure das Wirtschaftsgeschehen in der Volkswirtschaft oder einzelnen Regionen, Sektoren oder Gruppen (z. B. Handwerk, Mittelstand, Existenzgründer) beeinflussen.
Im Bereich der Ordnungspolitik geht es dabei um die Gestaltung der „Spielregeln“ bzw. Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Dazu gehören unter anderem die rechtliche und institutionelle Ordnung der Eigentumsverhältnisse, des Wettbewerbs, des Geldwesens, der Währung und der Besteuerung, aber auch Regeln für die außenwirtschaftlichen Beziehungen, den Arbeitsmarkt und den Sozial- und Umweltbereich. Die Gestaltung der Rahmenbedingungen umfasst auch die Gestaltung der Informations-, Entscheidungs-, Kontroll- und Sanktionsbefugnisse (Kompetenzverteilung), und die Abgrenzung der staatlichen Kompetenzen gegenüber privaten Akteuren.
Wesentliche ordnungspolitische Grundentscheidungen sind in Deutschland z. B. das Sozialstaatsgebot und der föderale Staatsaufbau (Art. 20,1 und Art. 28,1 GG), der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG), die Einbindung in die Europäische Union (Art. 23 GG), die Übertragung der geldpolitischen Kompetenzen an die unabhängige europäische Zentralbank (EZB) sowie die Tarifautonomie (Art. 9 GG), seit dem Jahr 2015 lediglich eingeschränkt durch den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.
Eine weitere wesentliche ordnungspolitische Grundentscheidung ist die dezentrale Entscheidungskompetenz der Unternehmen und Verbraucher, deren Entscheidungen über Märkte und Preise unter Wettbewerbsbedingungen koordiniert werden. Insofern kommt der Wettbewerbspolitik eine grundlegende Bedeutung zu, da Marktsteuerung im Wesentlichen nur unter Wettbewerbsbedingungen gute Marktergebnisse herbeiführt. Wettbewerbspolitik ist zum einen Marktöffnungspolitik, d. h. sie umfasst Maßnahmen zum Abbau staatlicher Regulierung in Bereichen, die bisher vom Wettbewerb ausgenommen sind. Zum anderen richtet sich Wettbewerbsschutzpolitik gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch Unternehmen in Form von Kartellen und Fusionen sowie gegen den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen (vgl. Band Mikroökonomie, Kap. 3).
Prozesspolitische Maßnahmen beinhalten Eingriffe in den Wirtschaftsablauf und werden innerhalb des Ordnungsrahmens vorgenommen. Sie verändern den Planungsrahmen für private Wirtschaftssubjekte; in manchen Fällen tritt der Staat auch selbst als Anbieter oder Nachfrager auf verschiedenen Märkten auf. Prozesspolitik liegt z. B. vor, wenn die Zentralbank im Rahmen ihrer Kompetenzen die Leitzinsen ändert (Geldpolitik) oder der Staat die laufenden Einnahmen und Ausgaben gestaltet (Fiskalpolitik), etwa mit dem Ziel, die Entwicklung von Wachstum, Beschäftigung und Preisniveau zu verstetigen (Stabilisierungspolitik). Oft können sowohl ordnungs- als auch prozesspolitische Instrumente zur Zielerreichung eingesetzt werden. Ziele der Wirtschaftspolitik werden nach kurz- und langfristigen Zielen unterschieden und es bestehen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Zielen und unterschiedlichen Handlungsfeldern der Wirtschaftspolitik. Beispielsweise kann die Finanzpolitik kurzfristig zur Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung eingesetzt werden, sie trägt aber langfristig auch zum Wachstum bei. Gleiches kann für die Geldpolitik gelten. Zwischen den verschiedenen Handlungsfeldern bestehen gleichzeitig Wechselwirkungen. Zum Beispiel können sowohl Stabilität als auch Wachstum finanz- und geldpolitisch beeinflusst werden. Dabei können aber auch Konflikte zwischen Zielen und Handlungsfeldern auftreten, die im Folgenden z. T. erörtert werden.
Wichtige Bereiche der Wirtschaftspolitik sind in der folgenden Übersicht genannt – die Aufzählung lehnt sich an den Aufbau dieser Einführung in die Wirtschaftspolitik an (vgl. Tab. 1.1).
Tab. 1.1: Bereiche und Ebenen der Wirtschaftspolitik.
Bereich der Wirtschaftspolitik | Ordnungspolitische Vorgabe (Beispiel) | Prozesspolitischer Eingriff (Beispiel) | Finanzpolitik | Finanzverfassung (z. B. föderalistisch) | Staatsausgaben, Besteuerung |
Geldpolitik | Geldordnung (z. B. Befugnisse der Zentralbank) | Geldschöpfung, Leitzinsvariation |
Stabilisierungspolitik | Vorgaben des StabG, Tarifautonomie | Konjunkturprogramm |
Umweltpolitik | Internationale Klimaschutzabkommen | Ökosteuer, Emissionsrechtehandel |
Wachstumspolitik | Leistungsfördernde Eigentumsordnung | Technologieförderung |
Strukturpolitik | Wettbewerbspolitik, Öffnung regulierter Märkte | Spezifische Subventionen |
Verteilungspolitik | Eigentumsordnung | Sozialtransfers |
Außenwirtschaftspolitik | WTO-Regeln (z. B. GATT) | Spezifische Importzölle |
Europäische Union | EU-Binnenmarkt, Europäische Währungsunion | Technische Detailharmonisierung |
Quelle: eigene Darstellung.
Wirtschaftspolitik wird von vielen Akteuren mit unterschiedlichen, nicht immer widerspruchfreien Zielen beeinflusst. Im „politischen Kräftefeld“ wollen verschiedene Akteure die wirtschaftspolitischen Entscheidungen jeweils in spezielle Richtungen beeinflussen.
Im Prinzip betreiben alle Akteure, die Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen nehmen, Wirtschaftspolitik. Von zentraler Bedeutung ist das Agieren der hoheitlichen Entscheidungsträger der (nationalen) staatlichen Wirtschaftspolitik. Dazu gehören vor allem
- − die Parlamente der Gebietskörperschaften (in Deutschland: Bund, Länder und Gemeinden), welche Gesetze und Verordnungen beschließen können (Legislative),
- − als Exekutive die Bundes- und Landesregierung(en) sowie die kommunalen Verwaltungen (Umsetzung der Gesetze und Verordnungen) sowie
- − als Jurisdiktion die Gerichte (z. B. Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof, Arbeitsgerichte).
Weitere öffentliche Entscheidungsträger sind (im Regelfall weisungsgebundene) Behörden – in Deutschland z. B. das Bundeskartellamt und die Bundesanstalt für Arbeit. Diese Behörden üben ihre Aufgaben innerhalb ihres gesetzlichen Auftrags im Rahmen ihrer Kompetenzen aus und unterliegen einer Kontrolle durch die zuständigen Minister. In Deutschland sind auch die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern mit hoheitlichen Aufgaben betraut, z. B. im Rahmen der Berufsausbildung. Die Erfüllung dieser Aufgaben wird durch Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträge der jeweils zugehörigen Gewerbetreibenden bzw. Handwerker gesichert.
Wichtig sind ferner die im Rahmen der Tarifautonomie autonom agierenden Tarifparteien – Gewerkschaften und Unternehmensverbände. Auch andere Wirtschaftsverbände haben Einfluss. Bei vielen Gesetzgebungsvorhaben werden inhaltlich betroffene Verbände „gehört“ oder in anderer Weise an der Entscheidung beteiligt. Dabei sind auch Spitzenverbände von Bedeutung, z. B. der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI).
Einfluss auf wirtschaftspolitische Entscheidungen haben auch wissenschaftliche Beratungsinstitutionen. Diese beraten die staatlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger aus „neutraler“ Perspektive. Sie interpretieren bzw. operationalisieren wirtschaftspolitische Ziele, zeigen Zielkonflikte auf und beschreiben Handlungsspielräume und Mittel, mit denen bestimmte Ziele erreicht werden können. Zu diesen Institutionen gehört in Deutschland z. B. der auf gesetzlicher Grundlage agierende Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Dem gesetzlichen Auftrag zufolge soll er Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzeigen. Er sollte dabei auch versuchen abzuschätzen, welche an sich wünschenswerten Maßnahmen „machbar“, d. h. im politischen Prozess durchsetzbar sind, und welche am Widerstand von Interessengruppen scheitern könnten. Dies führt zu einer – auf Erfahrungswissen und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden – Kunstlehre der Wirtschaftspolitik.
Nationale Wirtschaftspolitik ist eingebettet in grenzüberschreitende Regelungen und Entscheidungsprozesse. Wichtige Träger supranationaler Wirtschaftspolitik sind die Organe der Europäischen Union (EU), z. B. Ministerrat, Kommission, Parlament, Zentralbank und Europäischer Gerichtshof. Wichtige Institutionen der globalen Wirtschaftspolitik sind die Welthandelsorganisation (WTO), welche die weltweiten Handelsregeln überwacht und fortentwickelt, und der Internationale Währungsfonds (IWF), der Ländern mit Zahlungsbilanzproblemen wirtschaftspolitische Beratung und gegebenenfalls finanzielle Hilfe gewährt.
1.2 Begründung der Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft
In die Theorie der Wirtschaftspolitik und in die wissenschaftliche Politikberatung fließen Wertungen ein. Die meisten Ökonomen gehen von einer Überlegenheit marktlicher Koordination aus. Die Abstimmung dezentraler Planungen der Wirtschaftssubjekte über Märkte und Preise innerhalb eines staatlich abgesicherten rechtlich-institutionellen Rahmens führt dieser Auffassung nach im Regelfall zu besseren Ergebnissen als staatliche Eingriffe. Ein rechtlich-institutioneller Rahmen ist „geeignet“, wenn er die Freiheit der Wirtschaftssubjekte, flexibel auf Marktsignale reagieren zu können, sicherstellt bzw. nicht beeinträchtigt, wenn z. B. die Gewerbe- und Vertragsfreiheit garantiert und ein funktionierendes Geld- und Finanzsystem gesichert sind.
In der Marktwirtschaft bedürfen – diesem normativen Grundverständnis zufolge – wirtschaftspolitische Maßnahmen, die über grundlegende Rahmensetzungen hinausgehen, einer gesonderten Rechtfertigung; Diese kann vorliegen, wenn die Ergebnisse der Marktsteuerung in bestimmten Bereichen unbefriedigend sind, insofern also Marktversagen auftritt. Koordinationsmängel beruhen allerdings nicht zwangsläufig auf Schwächen des Marktes, sondern können auch auf den gewählten Regulierungsrahmen zurückgehen. Ein „Anfangsverdacht“ in Richtung Marktversagen liegt jedoch vor
- − bei Wettbewerbsbeschränkungen: Im Vergleich zu einem Zustand mit funktionierendem Wettbewerb werden dann vermutlich weniger Güter zu höheren Preisen bzw. geringerer Qualität angeboten,
- − bei Existenz externer Effekte: Auf Märkten werden z. B. zu viele Güter angeboten, von denen negative externe Effekte (z. B. Umweltbelastungen) ausgehen und zu wenige Güter, von denen positive externe Effekte ausgehen.
Reine Marktsteuerung führt vermutlich auch zu einer Unterversorgung mit verschiedenen Arten von öffentlichen Gütern (vgl. Band Mikroökonomie, S. 162 ff). Beispielsweise wird in vielen Ländern ein öffentliches Bildungsangebot als meritorisches Gut bereitgestellt, weil das über Märkte privatwirtschaftlich bereitgestellte Angebot für zu gering gehalten wird.
In einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist also regelmäßig zu fragen, inwieweit staatliche Aktivitäten erforderlich sind. Erst wenn das bejaht wird, ist gegebenenfalls die Art der staatlichen Maßnahmen zu diskutieren. Dabei ist zu bedenken, dass nicht nur Marktversagen bestehen kann. Auch staatliche Fehlleistungen sind denkbar (Politikversagen). Die Nachteile von Markt- und Politikversagen sind daher gegeneinander abzuwägen.