1.1 Ein allgemeines Bild?
Selbstkastrationen, blutige, zerschnittene Arme, nahezu unerträglich laute Musik in schnellen, getrommelten Rhythmen, Kostümierungen, die ihre Träger mehr als Kuriositäten eines Karnevals statt als devote Menschen ausweisen, eine Wirrnis von erhobenen Armen, Gesängen, Gekreische, flehentlichen Bitten und sonderbaren, klappernden Gebrauchsgegenständen, eine nackte Frau, die jaulend den Boden entlangkriecht, dazu ein in Leinen gehüllter Greis mit einer Laterne, der den Weltuntergang prophezeit: All dies und vieles mehr war auf römischen, öffentlichen Plätzen zu beobachten.1
Die religiöse Landschaft Roms bietet offenbar viel Raum für vielfältige Wege, sich einer Gottheit und der Öffentlichkeit mitzuteilen. Weniger spektakulär, aber immer noch vielfältig, sind Bestrebungen, sich als Nomenklator oder gar als Geliebte(r) einer Gottheit zu gebärden.2 Die Wege, sich einer Gottheit zu nähern, folgen offenbar verschiedenen Vorstellungen darüber, was eine angemessene Kommunikation mit ihr ist. Doch was haben diese Szenen mit der Vielfältigkeit des Betens zu tun? Und deuten diese Beschreibungen überhaupt auf repräsentative, religiöse Praktiken ihrer Zeit?
Ein Blick in die bisherigen Untersuchungen lässt Ernüchterung aufkommen. Die geschilderten Szenen werden weder als angemessene Rituale noch als repräsentative Kommunikationsversuche diskutiert. Gängige Kategorien lassen in diesen Erscheinungen kaum mehr als einen verbreiteten Aberglauben erkennen.3 Ein sachgerechtes und repräsentatives Gebet zeichne sich hingegen wie folgt aus: „Tout est prévu, codifié, ritualisé. Rien n’est laissé à l’improvisation ou au libre choix de l’orant“.4 Daraus folgt: „Il n’y a pas de prière libre“.5 Das „traditionelle römische Gebet ist weder abstrakt noch subjektiv und es bringt nicht die persönlichen Anliegen des Betenden zum Ausdruck; es ist vielmehr Teil eines bestimmten Ritus, dessen besonderen Charakter und Beitrag zum pax deorum es zum Ausdruck bringt“.6
In wenigen Worten ausgedrückt soll hiermit gesagt werden, „die Gebetssprache ist formelhaft und somit verbindlich“.7 Und wieder anders ausgedrückt heißt es, dass „vom Zelebrierenden nicht inbrünstige Zuneigung oder Liebe zu Gott gefordert [wurde], sondern nur Genauigkeit und Respekt der Form“.8 Die öffentlichen Gebete folgen dem „Ideal der ruhigen, emotionslosen und routinemäßigen Kultausübung“, die dem Treiben von Mysterien gegenüberzustellen sei,9 denn „die römische Religion ist frei von Zügen der Mystik. Sie bietet weder Erhebung noch Trost“.10 Eine „echte, schöpferische religiöse Kraft fehlt der römischen Pontifikalreligion“.11 Diese Aussage Kurt Lattes hat, so scheint es, in den Darstellungen der Gebete überdauert. Das Gebet scheint eine Vorstellung von römischer Religion im Sinne einer Religion „sans émotion, et sans spiritualité“ widerzuspiegeln, wie sie nicht nur John Scheid jüngst ablehnend kritisiert hat.12
Ausgehend von jüngeren Debatten zum Charakter römischer Religion(en) wird die vorliegende Untersuchung den römischen Gebeten eine völlig neue Deutung zuweisen. Sie wird das kreative Potenzial erschließen, dessen Ausdruck die Gebete waren. Und sie wird die Emotionalität bezeugen, deren Ursache und nicht deren Resultat die Gebete waren. Keine Vorstellung eines sachgerechten und verbindlichen Ritualismus wird diese Untersuchung anleiten, sondern die soziologisch fundierte Unterstellung, der zufolge jegliches (religiöses) Handeln aus dem Moment hervorgeht, in dem es vollzogen wird. Das Gebet wird also nicht legalistisch determiniert. Es wird „gelebt“ und ist entsprechend offen für vielfältige Versuche, sich einer Gottheit gegenüber zu verhalten.
1.2 Ein kritischer Forschungsüberblick
Betrachtungen zum römischen Gebet sind im Vergleich zum griechischen Bereich nicht nur außerordentlich überschaubar,13 sie sind überdies ein historistisches, philologisch strukturalistisch aufgearbeitetes Relikt. Als Ausdruck eines charakteristischen römischen Ritualismus werden die Gebete als formalisierte Handlungen stilisiert, die auf verbindliche, tradierte, archaische Formeln zurückgehen, denen mitunter ein sakralrechtlicher Hintergrund zuerkannt wird.14 Die Formeln unterliegen laut diesen Darstellungen strengster priesterlicher Geheimhaltung, Verwaltung und Buchführung.15 Das Deutungsschema formalisierter, rechtlich bindender Akte wird getreu auf den Gestengebrauch projiziert.16 Der Gebrauch von Gebetsgesten wird als obligatorische Begleiterscheinung definiert. Mit dem Postulat ihrer Uniformität bestand daraufhin keine Notwendigkeit mehr, sich ihnen zuzuwenden.17
Diese systemische Perspektive geht maßgeblich auf Georg Wissowas Konzept einer „Staatsreligion“ zurück. Dieses Konzept wurzelt in Wissowas historistischem Anliegen, den seinerzeit populären, zumeist protestantisch inspirierten Ideen religiöser Erfahrung entgegenzutreten.18 Bei dieser Staatsreligion handelt es sich um ein Konzept, das darum bemüht war, eine „Volksreligion“ zu ergründen.19 Wissowa setzt auf eine staatsrechtliche Grundlage der Religion,20 die ihm durch Mommsen geboten wird,21 um die unzugänglichen Kriterien „Volk“ und allen voran „Religion“ (im Sinne eines liturgischen Systems) zu überbrücken.22 Volk und Staat werden als Einheit konzipiert,23 über deren einheitliches Rechtssystem eine einheitliche Religion erschlossen wird. Jede religiöse Handlung sei demnach als ein „Akt eines durch feste Normen geregelten und in streng vorgeschriebenen Formen sich vollziehenden Rechtsverkehrs“ zu verstehen, der mit den „privatrechtlichen Vorgängen“ gleichzusetzen sei.24
Auch wenn Wissowas normatives und systemisches Konzept keine explizite Anwendung mehr erfährt, hat die grundlegende Perspektive – trotz aller vehementen Abgrenzungsversuche – im Konzept der Polis-Religion überdauert,25 das für Rom als „Civic Religion“ seine Entsprechung findet.26 Ein solches Konzept schematisiert religiöses Handeln allein in den Grenzen formalisierter Rituale, die von einem kulturellen oder kultischen Wissen (der Eliten) diktiert und mit Hilfe eines schriftlichen Regelwerkes priesterlich verwaltet werden. Das Postulat einer rechtlich verbindlichen Volksreligion ist in eine kohärente und hierarchisierte Wissenskultur übersetzt und mit dem Etikett des „Konservatismus“ oder „Formalismus“ versehen worden.27 Religiöse Werte, Bedürfnisse, Erwartungen und insbesondere jede Art religiösen Handelns werden von den städtischen Eliten dominiert und weiterhin in den gemeinschaftlichen Strukturen oder in einem einheitlichen kulturellen Symbolsystem subsumiert. Jegliches Handeln sowie dessen Sinnzuschreibungen werden auf diejenigen Strukturen reduziert, die sie vermeintlich hervorbringen. Den Menschen wird somit nur wenig Einfluss auf das eigene Handeln zuerkannt.
Da kein betender Mensch, sondern vorrangig die ihn konstituierenden, gemeinschaftlichen oder kulturellen Strukturen zur Debatte stehen, ist der mutmaßliche Charakter des römischen Betens von einer makrostrukturellen Ebene bis zu den kleinsten mikrostrukturellen Details durchdekliniert worden.28 Angefangen bei den Gebeten der sacra publica verläuft die Debatte über die untergeordneten sacra privata bis hin zu einzelnen normativen Texten und Versen.29 Ausgehend von einem Ideal authentischer und archaischer Gebete stehen Kategorien ritus Romanus, ritus Graecus, „orientaler“ Ritus oder gar „Magie“ zur Debatte.30
Die mehrheitlich philologischen Studien zum römischen Gebet orientieren sich nicht nur an dem dargestellten Bild einer authentischen, strukturierten und formalisierten römischen (Staats)Religion. Sie sehen dieses Bild in jeder Einzeluntersuchung bestätigt. Hierbei handelt es sich um Bestätigungsverzerrungen, die auf die eigene strukturalistische Arbeitsweise zurückzuführen sind, die davon ausgeht, „Urtexte“ ergründen und gemeinsame Strukturen aus mehreren Texten erschließen zu können.31 So suchte die bisherige Forschung häufig beflissen und penibel nach konkreten archaischen Gebetstermini und Formulierungen, die auf eine verbindliche Struktur schließen lassen und im Umkehrschluss das Ideal formalisierter und authentischer religiöser Praktiken bedienen.32
Unter Rückgriff auf intellektuelle Diskurse antiker Historiogaphen, Antiquare und Philosophen sind die Gebete der sacra publica in weitere verschiedene Gebetstypologien ausdifferenziert worden. Dies hat eine essentialisierende und generalisierende Tendenz zur Folge. Wie beispielsweise der wissenschaftliche Umgang mit den Gebetstypen votum und consecratio erkennen lässt, wird diesen Praktiken ein verbindlicher Ritualablauf zugeschrieben, der bei einigen antiken Darstellungen jedoch für Unstimmigkeiten sorgt.33 Aber auch Begriffe wie precatio und gratulatio werden als Eigenkategorien geführt, die eine genuine rituelle Praxis impliziert.34 Wie fehlführend die Reduktion eines rituellen Ablaufs auf einen essentialisierten Begriff sein kann, hat Gabriella Gustafsson anhand der devotio und evocatio jüngst darlegen können.35
Zu den priorisierten Autoren in diesen Belangen zählen insbesondere Plinius, Cicero und Valerius Maximus, die das gängige wissenschaftliche Verfahren mit ihren Typologien zu bestätigen scheinen.36 Demgegenüber wird aus ihren jeweils unterschiedlichen Typologien und Betrachtungsperspektiven sehr schnell ersichtlich,37 dass ihre Darstellungen keine normativen Vorstellungen der Bevölkerung oder gar der sie intellektuell dominierenden Elite reflektieren, sondern höchstens auf einen Normativitätsanspruch des jeweiligen Autors verweisen.38 Entsprechend dokumentiert Ciceros Bezeichnung eines Gebets als commercium keinen verbindlichen Rechtscharakter,39 sondern seinen Versuch, das Beten zu deuten und zu rationalisieren.
Diese strukturalistischen und an Wissowas Historismus erinnernden, mehrheitlich philologischen Studien beschränken das Gebet dementsprechend auf dessen Wortlaut.40 Auf diesem Weg wird die intrinsische Logik einer komplexen religiösen Praxis in unmittelbare Abhängigkeit zu der Struktur eines Textes gesetzt und generalisiert, obwohl diese textliche Struktur eher der intellektuellen Leistung eines antiken Autors entspringt, als dass sie ein repräsentatives Bild religiöser Praxis darstellen würde. Sinnbildlich für diese Reduktion steht das jüngste „corpus de p...