1.1 Die anfängliche Ausweglosigkeit
Bücher sind voll von Worten der Weisen, voll von Beispielen aus alten Zeiten, voll von Bräuchen, Gesetzen und Religion. Sie leben, verkehren und sprechen mit uns, lehren, bilden und trösten uns, zeigen uns die Dinge, die unserem Gedächtnis besonders fernstehen, so als ob sie gegenwärtig sind, und stellen sie uns vor Augen. So groß ist ihre Macht, Würde und Hoheit und sogar göttliche Kraft, daß wir alle, gäbe es nicht die Bücher, ungebildet und unwissend wären, kein geschichtliches Wissen um die Vergangenheit, kein Beispiel, ja keine Kenntnis von menschlichen und göttlichen Dingen hätten. Dasselbe Grab, das den Leib der Menschen deckt, würde auch ihren Namen verschütten73.
Unter den Büchern, die im Jahr 1468 der Kardinal Bessarion der Republik Venedig vermachte, befindet sich ein Pergamentkodex, der in höchstem Maße den obigen Zeilen im Schenkungsbrief74 des Kardinals entspricht. Es handelt sich um eine Prachthandschrift, die wohl für einen vornehmen Gelehrten bestimmt war75. Die Handschrift trägt den Titel: Damaskios’ des Nachfolgers Aporien und Lösungen bezüglich der ersten Prinzipien76. Am Ende der Handschrift findet sich der Kolophon: Damaskios’ des Nachfolgers Aporien und Lösungen bezüglich Platons Parmenides in ständiger Auseinandersetzung mit dem Kommentar des Philosophen (sc. Proklos) zur selbigen Schrift77. In der tabula librorum der Schenkung trägt der Kodex den Titel: Damasceni de principiis in Parmenidem78. Dieser Titel führt in die Irre, denn es handelt sich eigentlich um zwei Werke, die in ein und derselben Handschrift vereinigt wurden. Das erste Werk ist eine rein systematische Abhandlung, während das zweite ein Kommentar zu Platons Parmenides darstellt, der sich in ständigem Vergleich mit Proklos’ Auslegung dieses Dialogs entfaltet. Der eigentliche Traktat „über die Prinzipien“ bricht mitten in den Ausführungen zur metaphysischen Problematik der „Teilhabe“ ab. Dagegen fehlt dem Parmenides-Kommentar der Anfang, der die Interpretation der ersten Hypothesis und des Beginns der zweiten Hypothesis enthielt. So wie sie in demselben Kodex zusammengebracht wurden, ergänzen sich De principiis und In Parmenidem thematisch: Die systematische Prinzipienschrift behandelt vor allem die Metaphysik des Absoluten, welches laut der neuplatonischen Tradition den skopós der ersten Hypothesis ausmacht, während die Erläuterungen zum Parmenides, die sich im zweiten Traktat als Stellenkommentar entwickeln, den „unsagbaren“ Hervorgang aus dem Absoluten bis zu dessen Abspiegelung in den prekärsten Formen des Seins und im privativen Nichts verfolgen – Themen der letzten, negativen Hypothesen des Platonischen Dialogs Parmenides. Zweifellos besaß Damaskios’ De principiis, zumindest im Projekt des Verfassers, einen sinnvollen Abschluß, der das Programm einer systematischen Darstellung der Realität zur Vollständigkeit gebracht hätte. Zweifellos besaß auch der Parmenides-Kommentar einen sinnvollen Anfang, der sowohl die ersten Zeilen der zweiten Hypothesis als auch die gesamte erste Hypothesis auslegte. Man hat in der Forschung behauptet, daß die systematische Abhandlung den Kommentar der ersten Hypothesis ersetzt haben muß79. Nicht nur die äußere, grundverschiedene Form der zwei Werke macht diese Annahme sehr unwahrscheinlich. Es ist vor allem der Inhalt, der für einen tatsächlichen Verlust eines ergänzenden Stellenkommentars zur ersten Hypothesis spricht: De principiis ist kein Kommentar zur ersten Hypothesis des Parmenides. Vielmehr ist diese schwierigste Schrift des antiken Neuplatonismus80 ein Kommentar zu einer, laut Damaskios, ungeschriebenen Hypothesis des Parmenides: zu jener Hypothesis, die den Urgrund jenseits des Einen behandelt, einen Urgrund, der im Parmenides gerade dadurch angedeutet wird, daß ihn Platon vollkommen verschweigt81.
Dem Loblied des Kardinals Bessarion auf die Bedeutung der Bücher wird Damaskios’ Werk, vor allem die Aporien und Lösungen bezüglich der ersten Prinzipien (De principiis), in höchstem Sinne gerecht. Diese Schrift ist „voll von Worten der Weisen“ und zweifellos auch voll von religio82, denn der überlieferte Teil der Abhandlung kulminiert in einem Überblick sämtlicher mythologischen Systeme der alten Welt. Trotz einiger Versuche, Damaskios’ Hauptwerk a-theistisch zu lesen, bleibt die Stimmung dieses Buches von einer tiefen Ehrfurcht vor dem Göttlichen geprägt. Was wäre „unser geschichtliches Wissen“ von dem Ausklang des antiken Platonismus ohne dieses Zeugnis aufrichtigen und mächtigen Bemühens um die Erfassung der ersten Urgründe, in einer Epoche, der man lange Zeit die Anzeichen des Verfalls aufsetzen wollte? Auch darf man sich nicht scheuen, ein wirkliches numen83 in diesem Werk zu sehen, das uns erheben möchte zu einer wahrhaften „Kenntnis von menschlichen und göttlichen Dinge“84, wie Bessarion sich ausdrückt. Die Einsicht in die „göttlichen Dinge“ wird uns der letzte Scholarch der platonischen Akademie anhand einer radikalen negativen Dialektik erschließen, die uns das Höchstmaß solcher Einsicht in einem gelehrten Nicht-Wissen um die göttlichen Dinge präsentiert. Die Erkenntnis der „menschlichen Dinge“ wiederum wird in einer Selbstbesinnung des Denkers auf die Tragweite seiner geistigen Kräfte bestehen. Damaskios entwickelt das gelehrte Nicht-Wissen, das er uns nahelegen möchte, anhand einer aporetischen Methode, die uns die Dringlichkeit metaphysischen Fragens auf lebhafte Weise vor Augen führt und „uns die Dinge, die unserem Gedächtnis besonders fernstehen“85, zeigt. Und welche Dinge sind in höherem Maße unserem Gedächtnis fern als die ersten Prinzipien?
Mit Proklos war der Neuplatonismus zur Ruhe und zur Selbsterfüllung „seines axiomatischen Bewußtseins“86 gelangt. Damaskios wird dagegen die Selbstsicherheit des Proklischen Systems in Frage stellen: Kein anderer Vertreter der platonischen Schule hat die Grundbegriffe seiner Tradition mit einer ähnlichen Radikalität neu durchdacht wie er. Die Hauptannahmen der Prinzipienlehre, die Konzeption des Hervorgangs (πρόοδος), die Natur der Seele, die Implikationen einer hypostatischen Zeitauffassung werden von Damaskios in ihren äußersten Konsequenzen verfolgt und teilweise bis an den Rand der Selbstaufhebung gedrängt. Sein Hauptanliegen besteht darin, die Philosophie teils zu re-theologisieren, teils von ihren theurgischen Überlagerungen zu befreien. In diesem Sinne konnte ein „Hegelianisch“ geprägtes Geschichtsbild das Damaskenische System mit einem Moment der ἐπιστροφή, also der Rückbesinnung auf die eigenen Grundlagen, innerhalb des Neuplatonismus identifizieren87. In der Folge der „philosophischeren Behandlungsart“88, die Damaskios zur Methode seines Denkens erhebt, läßt er sein Hauptwerk De principiis mit einer Aporie beginnen. Das letzte systematische Werk des antiken Platonismus setzt also mit dem grundlegenden philosophischen Akt des Zweifelns an. Damit vollzieht Damaskios eine Rückwendung zum ursprünglich Sokratischen Philosophieren89 und kommt zugleich der Aristotelischen Forderung entgegen, dergemäß die „gesuchte Wissenschaft“ bei der Aporie anzusetzen habe, weil die „Ausweglosigkeit des Denkens“ eine ebensolche Ausweglosigkeit „in der Sache selbst offenlegt“90. In welch hohem Maße diese Bemerkung für die Eingangsaporie von De principiis zutrifft, wird sich im folgenden zeigen, denn das Dilemma, mit dem dieses Werk eingeleitet wird, läßt sich nicht durch Argumentation entweder für die erste oder für die zweite Alternative der Disjunktion entscheiden, sondern verweist auf eine fundamentale Ambiguität und Schwierigkeit im behandelten Gegenstand selbst.
Die einleitende Aporie der Damaskenischen Prinzipienlehre besteht aus einem doppelten Dilemma, dessen Teile, wie Valerio Napoli bemerkt hat, einen „Chiasmus“91 bilden:
Ist das sogenannte eine Prinzip des Ganzen (1) jenseits des Ganzen oder ist es (2) ein Teil des Ganzen, gleichsam als Spitze der aus ihm hervorgehenden Wesenheiten? Und sagen wir, daß (2) das Ganze zusammen mit dem Prinzip oder (1) nach ihm und von ihm her ist?92
Dabei wird das Ganze im Sinne eines radikalen Begriffs der Totalität (ἡ τῶν πάντων ἁπλῶς ἔννοια)93, als dasjenige, „dem nichts abwesend ist“94, und als „begrenzte Vielheit“95 verstanden. Der so gedachte Begriff der Ganzheit und der Begriff des Prinzips heben sich gegenseitig auf. Wenn das Prinzip dem Ganzen transzendent ist, hört das Ganze auf, ein Ganzes zu sein, denn es fehlt ihm etwas, nämlich genau das Prinzip. Wenn dagegen das Prinzip dem Ganzen immanent ist, dann wird das Prinzip in das Ganze integriert, so daß es nur noch das Ganze gibt, und zwar das Ganze ohne Prinzip.
Die Eingangsaporie von De principiis mündet also in die Einsicht, daß der Urgrund weder transzendent noch immanent sein kann. Und doch schöpfen diese zwei Alternativen die Möglichkeiten des Prinzipiendenkens restlos aus. Diese Aporie wird noch dadurch intensiviert, daß weder das Eine noch das geeinte Sein imstande sind, die Funktion des ersten Urgrundes zu übernehmen, weil beide „Wesenheiten“ Formen des Ganzen sind. Mehr noch, die daraus resultierende Schwierigkeit wird geradewegs hoffnungslos gemacht, wenn Damaskios bemerkt, daß das Prinzip immer „mit den aus dem Prinzip hervorgehenden Wesenheiten zusammengeordnet“ ist, „denn in bezug auf diese Letzteren erhält das Prinzip seine Bezeichnung als Prinzip und sein Wesen, ebenso die Ursache in bezug auf die Verursachten und das Erste in bezug auf das, was auf das Erste folgt“96. Prinzip ist schließlich ein korrelativer Begriff und verlangt nach einer Koordinierung mit dem Begriff eines oder mehrerer Prinzipiate. Genau diese Koordination, die im Begriff eines „Prinzips“ stets mitgedacht wird, widerspricht der wesentlichen Forderung einer jeden Prinzipienlehre, die darin besteht, das erste Prinzip als den alleinigen und deswegen unkoordinierten Urgrund zu denken. Will man diesem Widerspruch durch eine Flucht ins Transzendente entkommen, geht man der Ganzheit der Realität verlustig. Inmitten der Realität wird man in diesem Fall gerade das Wesentliche vermissen, nämlich das erste Prinzip. Damaskios’ Aporie deckt die fundamentale Spannung eines jeden Prinzipiendenkens auf. Sie könnte sogar die prinzipientheoretische Methode als ganze in den Abgrund eines endgültigen Scheiterns hineinmanövrieren. Doch ist es paradoxerweise genau diese Kritik am „klassischen“ Prinzipiendenken, die dem Scholarchen zu einer neuartigen Protologie verhilft.
Die Forderungen, die Damaskios an eine revisionäre Prinzipienlehre richtet und die diese Prinzipienlehre als eine Aufgabe von erheblicher Schwierigkeit aufzeigen, sind die folgenden: Das gesuchte „eine Prinzip des Ganzen“ soll nicht nach dem kategorialen Muster einer Relation von Prinzip und Prinzipiat gedacht werden. Es darf aber wiederum nicht als Seins-immanent konzipiert werden, denn dies würde die Prinzipienlehre auf eine Ontologie der Selbstbegründung reduzieren. Der Urgrund muß also ungegenständlich sein, damit dem Ganzen, dem er sich entzieht, kein „Etwas“ fehle. Mehr noch (und dies scheint die originellste Konsequenz zu sein, die Damaskios aus seinen prinzipientheoretischen Forderungen zieht), das Seinsganze darf auf keine Weise auf den Urgrund Bezug nehmen, denn jeder mögliche Bezug auf den Urgrund würde diesen in einen Zusammenhang mit den begründeten Wesenheiten herabziehen.
Weder das „Geeinte“ aller Seinsformen noch das Eine vermögen diesen Forderungen zu genügen, weil beide Wesen...