Freigeistige Organisationen in Deutschland
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Freigeistige Organisationen in Deutschland

Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende

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Freigeistige Organisationen in Deutschland

Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende

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Über dieses Buch

Die Entwicklung freigeistiger Organisationen in Deutschland nach 1945 ist bislang unter dem Radarschirm der Sozial- und Kulturwissenschaften geblieben. Dabei lassen sich gerade seit der humanistischen Wende in den 1980er Jahren dynamische Wandlungsprozesse innerhalb der Szene wahrnehmen, deren Untersuchung einen wichtigen Beitrag zu interdisziplinären Debatten und öffentlichen Diskursen um das Verhältnis von Religion und Säkularität in der Gegenwart leisten kann.

Diese Grounded Theory geleitete Studie entwickelt in diesem Zusammenhang eine Organisationstypologie, mit deren Hilfe nicht nur weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen innerhalb der gegenwärtigen freigeistigen Szene offengelegt, sondern auch gängige säkularisierungstheoretische Wahrnehmungsmuster des Gegenstandsfeldes hinterfragt und reinterpretiert werden. Der Fokus liegt dabei auf einer Ethnografie des Humanistischen Verbandes Deutschlands und der Giordano Bruno Stiftung. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, das von der einen freigeistigen oder humanistischen "Bewegung" nicht die Rede sein kann.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783110611625

1 Einleitung

,Freigeistige Organisationen‘ – auf den ersten Blick erscheint schon das Konzept wie ein Widerspruch in sich. Der freiheitsliebende Freigeist, der nach Autonomie und Individualismus strebt und jede Form von Abhängigkeit und Dogmatismus ablehnt, auf der einen; die Organisation, die sich durch Kollektivität und eine corporate identity auszeichnet, auf der anderen Seite. „Organizing atheists is like herding cats“, heißt es im angloamerikanischen Volksmund. Der Religionswissenschaftler Günter Kehrer spricht sogar von einer „Unmöglichkeit, Religionslosigkeit zu organisieren.“ (Kehrer 2006, 201)
Es mag mit solchen Einschätzungen zusammenhängen, dass die Entwicklung freigeistiger Organisationen in Deutschland seit 1945 weitestgehend unter dem Radarschirm der Sozial- und Kulturwissenschaften geblieben ist. Dessen ungeachtet existieren solche Organisationen nach wie vor, darunter einige, die sich sowohl hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen als auch mit Blick auf ihre gesellschaftspolitische Tragweite in einem kontinuierlichen Wachstumsprozess befinden. Die mitgliederstärkste unter ihnen, der Humanistische Verband Deutschlands (HVD1, 20.000 Mitglieder), ist in fünf Bundesländern Körperschaft des öffentlichen Rechts (K.d.ö.R.), beschäftigt in ihren Landesverbänden über 1.500 hauptamtliche Mitarbeiter, ist Träger von rund 50 Kinderbetreuungseinrichtungen, richtet einen konfessionell-humanistischen Unterricht (Lebenskunde) an öffentlichen Schulen in Berlin und Brandenburg und an einer eigenen Weltanschauungsschule in Fürth (Bayern) aus, an dem über 50.000 Schüler2 teilnehmen und erreicht jährlich über 10.000 Teenager und ihre Familien über ihre Jugendfeiern. Die Giordano Bruno Stiftung (GBS), 2004 durch den pensionierten Unternehmer Herbert Steffen und den Philosophen Michael Schmidt-Salomon gegründet, versammelt rund 8.500 Unterstützer in ihrem Förderkreis, aus dem heraus sich mittlerweile über 50 Regional- und Hochschulgruppen im gesamten deutschsprachigen Raum gegründet haben. Sie hat zahlreiche bekannte Persönlichkeiten mit akademischem oder künstlerischem Hintergrund für ihren Beirat und ihre aufsehenerregenden Kampagnen gewonnen und zeichnet als Träger für den Humanistischen Pressedienst (HPD) verantwortlich, dessen Online-Artikel jährlich millionenfach aufgerufen werden. Diese oberflächliche Betrachtung allein fordert das oben genannte Narrativ heraus.
Die vorliegende Studie widmet sich auf explorative, theoriebildende Weise gegenwärtigen freigeistigen Organisationen in Deutschland. Sie nimmt diese als kollektive Akteure in den Blick und fragt danach, welche Weltanschauungen3, Handlungspraxen, Strategien und Ziele solche Zusammenschlüsse von sogenannten Freigeistern in Wechselwirkung mit Kontextfaktoren wie Recht, Politik oder Medien vertreten beziehungsweise verfolgen. Dabei werden schließlich zwei Organisationstypen innerhalb der Szene rekonstruiert und voneinander unterschieden: der sozialpraktische und der weltanschaulich-agonale Organisationstypus. Anders als im oben genannten Narrativ entsteht somit nicht das Bild einer in unzählige Einzelmeinungen zersplitterten oder gar „unmöglichen“, sondern einer strategisch gespaltenen freigeistigen Organisationslandschaft in Deutschland.

1.1 Zu den Begriffen ,freigeistige Organisation‘ und ,freigeistige Szene‘

Das Attribut ,freigeistig‘ hat sich in der Forschungsliteratur (zum Beispiel Fincke 2002; Weir 2006; Mastiaux 2013) als Bezeichnung für eine Reihe von Organisationen4 etabliert, die sich in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst als freireligiöse Reformgemeinden, im weiteren historischen Verlauf auch als religionskritische Freidenkerverbände außerhalb der beiden Großkirchen herauszubilden begannen. Eine nähere Bestimmung des Begriffes ,freigeistige Organisation‘ bleibt jedoch in der Regel aus. In dieser Studie seien darunter Organisationen gefasst, die sich durch ein naturalistisches Weltbild sowie eine herausfordernde Haltung gegenüber dem jeweiligen religiösen Establishment auszeichnen. Letztere wird mitunter aus einer explizit religiösen Perspektive heraus eingenommen – beispielhaft genannt sei hier der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (BFGD)5 –; in der Regel grenzen sich freigeistige Organisationen jedoch bewusst und entschieden von einem religiösen Selbstverständnis ab. Wesentliches Merkmal dieser Organisationen ist aber ihre häufig ausgeprägte Religionsbezogenheit6: Ihr Selbstverständnis konstituiert sich erst im Prozess einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Religion/en. Diese kann von Fall zu Fall unterschiedlich ausgestaltet sein: Neben kritischen Formen der Religionsbezogenheit sind auch dialogorientierte, kooperative oder imitierend-konkurrierende Religionsbezüge möglich (ähnliche Formen beschreiben auch Quack, Schuh und Kind im Erscheinen).
In der Forschungsliteratur werden freigeistige Organisationen innerhalb spezifischer raumzeitlicher Settings häufig unter dem Begriff ,Bewegung‘ zusammengefasst (mit Bezug auf den deutschen Kontext etwa Weir 2006; Mastiaux 2013, 37 – 66; für die Vereinigten Staaten von Amerika [USA] zum Beispiel Cimino und Smith 2007; LeDrew 2016; zu sozialen Bewegungen allgemein vergleiche Heberle [1951] 1967; della Porta, Kriesi und Rucht 1999; Kern 2008; Roth und Rucht 2008). Mastiaux definiert dabei vier Merkmale einer Bewegung:
  • 1. Ein Netzwerk individueller und kollektiver Akteure, die mehr oder weniger informell miteinander in Verbindung stehen.
  • 2. Das Vorhandensein einer kollektiven Identität, also eines Zusammengehörigkeitsgefühls, einer Solidarität oder geteilter Meinungen und Überzeugungen.
  • 3. Kollektives Handeln in einem politischen oder kulturellen Konflikt. Zweck ist dabei die Herausforderung oder die Verteidigung bestehender Autoritäten.
  • 4. Das Beschreiten nicht-institutioneller Wege. (Mastiaux 2013, 40)
Eine Übertragung dieser Definition auf die Gesamtheit gegenwärtiger freigeistiger Organisationen in Deutschland erscheint insofern problematisch, als bei genauerer Betrachtung ein „kollektives Handeln in einem politischen oder kulturellen Konflikt“ in diesem Kontext nicht erkennbar ist. Es existieren vielmehr erhebliche praktische Unterschiede und strategische Widersprüche zwischen dem weltanschaulich-agonalen und dem sozialpraktischen Organisationstypus. Letzterer beschreitet dabei zudem sehr wohl institutionelle Wege (siehe Kapitel 4).
Aus diesem Grund wird der Begriff ,Szene‘ in der vorliegenden Studie gegenüber dem der ,Bewegung‘ bevorzugt. Hitzler und Niederbacher (2010, 15 – 26)7 definieren ,Szene‘ als „Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften“, und das einen „gewissen Organisierungsgrad“ aufweisen kann. Während sich Szenen durch geteilte Interessen und Gesinnungen auszeichnen, die der sozialen Verortung dienen, tritt bei ihnen die gemeinsame strategische Ausrichtung in einem politischen oder kulturellen Konflikt in den Hintergrund. Szenenetzwerke sind labil und dynamisch, und Verbindungen zwischen Szenemitgliedern können sich unterschiedlich ausgestalten und mehr oder weniger lose sein (Hitzler und Niederbacher 2010, 15 – 26). Dies entspricht der Interaktion zwischen freigeistigen Organisationen in Deutschland, deren tatsächliche Intensität und Ausrichtung von Fall zu Fall stark variieren kann. Der Begriff ,freigeistige Szene‘ umfasst somit freigeistige Organisationen und ihre Mitglieder, geht jedoch gleichzeitig über diese hinaus. So gibt es beispielsweise Akteure innerhalb der freigeistigen Szene, die regelmäßig auf Veranstaltungen oder als Autoren in Publikationen freigeistiger Organisationen anzutreffen sind, ohne deren Mitglied zu sein. Um neben freigeistigen Organisationen auch diese ihnen zugewandte Umwelten zu erfassen, sei der Begriff ,freigeistige Szene‘ eingeführt.

1.2 Freigeistige Organisationen als Gegenstand der Religionswissenschaft

Aufgrund ihrer häufig ausgeprägten Religionsbezogenheit stellen freigeistige Organisationen eine wichtige Ergänzung zum Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft dar. Während Fachvertreter in den vergangenen 30 Jahren im Nachgang des sogenannten cultural turn innerhalb der Disziplin (dazu ausführlich Gladigow 2005) die religiöse Vielfalt und Pluralisierung von Gesellschaften detailliert in den Blick genommen haben, werden Menschen, die sich keiner Religion/sgemeinschaft zuordnen lassen, noch immer häufig als monolithische „Restkategorie“ (Krech 2005, 123) konzeptualisiert, die aus dem Gegenstandsbereich der Disziplin herausfällt.8 Dies erscheint zum einen empirisch problematisch, weil ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland laut dem Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst (REMID) 2015 bei 31,4 Prozent lag (Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst 2017) – ein sehr umfänglicher „Rest“, der zudem hinsichtlich sozialstatistischer Merkmale, Einstellungen und Handlungspraxen ebenso heterogen zu sein scheint wie religiöse Bevölkerungsschichten (vergleiche dazu zum Beispiel Murken 2008 und Wohlrab-Sahr 2009). Zum anderenen kann eine solche Ausweitung des Gegenstandsfeldes auch auf konzeptueller und theoretischer Ebene einen Mehrwert erzeugen. Der aktuellen interdisziplinären, häufig makrotheoretisch gerahmten Diskussion um die Bestimmung von ,Säkularität‘ oder ,Säkularismus‘ liegt nicht selten ein binäres Verständnis von Religion und Säkularität als „two sides of a coin“ (Davie 2012) zu Grunde, das einer universellen, substanzialistischen Logik folgt (zum Beispiel Taylor 2007). Einem induktiven religionswissenschaftlichen Ansatz folgend werden am empirischen Beispiel freigeistiger Organisationen in der vorliegenden Studie die vielfältigen identitären Klärungs- und Abgrenzungsversuche im objektsprachlichen Grenzbereich von Religion und Säkularität rekonstruiert, die in vielen Konstellationen quer zu dieser Logik liegen, zumindest aber ihre Unschärfe und Mehrdeutigkeit aufzeigen. So lässt sich diese Studie auch als ein Beispiel und ein Plädoyer für die interpretative Rekonstruktion von multiplen beziehungsweise „vielfältigen Säkularitäten“ (Burchardt und Wohlrab-Sahr 2011, 2013; Burchardt, Middell und Wohlrab-Sahr 2015) lesen, die meso- oder mikroperspektivisch aus empirischen Kontexten heraus erfolgt. Heuristisch wird dabei auf das Konzept ,Nichtreligion‘ in der Verwendung des Anthropologen und Religionswissenschaftlers Johannes Quack zurückgegriffen (Quack 2013, 2014; Quack, Schuh und Kind im Erscheinen), mit dessen Hilfe sich unterschiedliche Formen individueller und/oder kollektiver Religionsbezüge in konkreten empirischen Konstellationen differenziert analysieren lassen. Während zum deutschen Kontext, vor allem mit Bezug auf den Osten des Landes, der als weitgehend säkularisiert gilt, bereits eine Reihe empirischer Arbeiten vorliegt, die die Säkularität und/oder Religionsbezogenheit von Individuen in den Blick nimmt (zum Beispiel Neubert 1998; Pickel und Pollack 2000; Karstein, Schaumburg und Wohlrab-Sahr 2005; Murken 2008; Wohlrab-Sahr 2009), werden Gruppen beziehungsweise Gemeinschaften9 nur selten überhaupt thematisiert oder haben Mitglieder zum Gegenstand und verbleiben somit indirekt doch auf der Ebene von Individuen (vergleiche dazu etwa Mastiaux 2013). Einzelne Arbeiten existieren zur Geschichte freigeistiger Organisationen in Deutschland bis 1933. Einige von ihnen legen den Schwerpunkt dabei auf deren Entstehungszeit Mitte des 19. Jahrhunderts, die als Emanzipationsprozess in Abgrenzung zu den christlichen Großkirchen verstanden werden kann (Weir 2006; Nanko 2006; Groschopp 2011). Die darauffolgende Entwicklung der Freidenkerverbände zu sozialdemokratisch und sozialistisch politisierten Massenorganisationen mit insgesamt über 700.000 Mitgliedern in den 1920er und 1930er Jahren vollzieht im Detail vor allem Kaiser (1981, 1982) nach. Mit der vorläufigen Zerschlagung der Szene und durch das Verbot oder die Gleichschaltung ihrer Organisationen in der Anfangszeit nationalsozialistischer Herrschaft Mitte der 1930er Jahre reißt auch die historische Auseinandersetzung mit freigeistigen Organisationen in Deutschland weitestgehend ab, obwohl es nach 1945 schon früh zu Neugründungen kam. Die Feststellung, dass diese nicht an die Mitgliederzahlen und die politischen Netzwerke der Vorkriegszeit anknüpfen konnten, mündet in vernichtenden Aussagen zu ihrer (fehlenden) gesellschaftspolitischen Relevanz, wie die des Kirchenhistorikers Jochen-Christoph Kaiser, sie seien „funktionslos geworden.“ (Kaiser 2003, 122)

1.3 Fragestellung und Zielformulierung

Löst man sich von einem Vergleich mit der Vorkriegszeit und den entsprechenden Maßstäben, so lassen sich seit einigen Jahren jedoch durchaus bemerkenswerte Dynamiken innerhalb der freigeistigen Szene in Deutschland beobachten. Sie entstanden vor allem im Rahmen der wesentlich durch internationalen Austausch herbeigeführten humanistischen Wende (dazu ausführlich Kapitel 2.5) – seit den späten 1980er Jahren wird der Begriff ,Humanismus‘ dem Vorbild nordeuropäischer freigeistiger Verbände folgend zunehmend als Selbstbezeichnung von freigeistigen Organisationen in Deutschland übernommen – und ist wissenschaftlich bislang weitgehend unbeachtet geblieben (Ausnahmen bilden Fincke 2002, 2017 und Groschopp 2016).
Neben der Behebung dieses historischen Desiderates soll diese Studie auch theoretisch neue Wege beschreiten. Die vereinzelten wissenschaftlichen Beiträge, die sich mit freigeistigen Organisationen als kollektiven Akteuren in unterschiedlichen historischen und geographischen Kontexten beschäftigen, tun dies in der Regel mit säkularisierungstheoretischem Hintergrund (zum Beispiel Weir 2006; Schmidt-Lux 2008; Quack 2012a; Campbell [1971] 2013). Sie gehen davon aus, dass Säkularisierung nicht als anonymer Prozess beziehungsweise reines Nebenprodukt fortschreitender Modernisierung verstanden werden kann, konzeptualisieren sie stattdessen als „Konflikt“ (Karstein, Schmidt-Lux und Wohlrab-Sahr 2008) und ergänzen die Säkularisierungsdebatte damit um eine handlungstheoretisch-akteurszentrierte Perspektive. Freigeistige Organisationen erscheinen dann vor allem als religionskritische Akteure, deren Ziel und Funktion darin besteht, die gesellschaftliche Relevanz von Religion/en zurückzudrängen.
So wichtig diese säkularisierungstheoretische Perspektive ist, so verengt ist ihr Blickwinkel auf den Gegenstand. Um ihn zu erweitern, stellt die vorliegende Studie die Ergebnisse eines Grounded Theory geleiteten theoriegenerierenden Forschungsprojektes zu gegenwärtigen freigeistigen Organisationen am Beispiel des deutschen Kontextes vor. Dies eröffnet nicht nur alternative theoretische Horizonte, sondern ebenso die Möglichkeit, säkularisierungstheoretische Thesen zum Gegenstand herauszufordern und neu zu bewerten. So wird am Ende der vorliegenden Studie aufgezeigt, dass nur einem der rekonstruierten freigeistigen Organisationstypen (dem weltanschaulich-agonalen) eine Säkularisierungsfunktion eigen ist, während der sozialpraktische Organisationstypus mit seiner Strategie und Praxis – intendiert oder nicht – sogar eher entgegengesetzte Wirkungen entfaltet, indem er etablierte religionspolitische und staatskirchenrechtliche Arrangements selbst nutzt und dadurch stabilisiert und legitimiert (dazu ausführlich Kapitel 4).

1.4 Aufbau und Gliederung der vorliegenden Studie

Die vorliegende Studie ist in fünf Kapitel untergliedert. Im Anschluss an diese Einleitung wird in Kapitel 2 der Forschungsstand zu freigeistigen Organisationen in Deutschland abgebildet. Dazu wird das Thema zunächst theoretisch in der Diskussion um Säkularität und Nichtreligion verortet. In Abgrenzung zur häufig rein ideengeschichtlichen Atheismusforschung und der das Säkulare als insubstanzielle Restkategorie konzeptualisierenden Säkularisierungsforschung wird dafür plädiert, Säkularität als das Andere von Religion differenziert zu betrachten und zu beschreiben. Nach einer strukturierenden Darstellung des interdisziplinären Säkularitätsdiskurses folgt eine kritische Rezeption der programmatischen Beiträge Johannes Quacks (2013, 2014) zur sogenannten Nichtreligionsforschung, die dem empirischen Teil dieser Studie als Heursitik dient.
Auf einen kurzen Exkurs, in dem der Gegenstand zum ,Neuen Atheismus‘ in Beziehung gesetzt wird, folgt die Fokussierung des Forschungsstandes auf freigeistige Organisationen. Dabei wird eine analytische Trennung zwischen ihrer ge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Danksagung
  6. Abkürzungsverzeichnis
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Theoretischer Horizont und Forschungsstand
  9. 3 Methodologie und Methodik: Grounded Theory
  10. 4 Empirische Analysen: Vergleich des sozialpraktischen und des weltanschaulich-agonalen freigeistigen Organisationstypus
  11. 5 Schlussbetrachtung
  12. Quellenverzeichnis
  13. Personenregister
  14. Sachregister