Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung
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Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung

  1. 438 Seiten
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Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Die Globalisierung in ökonomischer und politischer sowie in kultureller und sozialer Hinsicht rückt das Thema internationale Gerechtigkeit immer stärker in den Fokus. Letztlich geht es um die Frage moralischen Handelns auf globaler Ebene, um eine globale Praxis, die prinzipiell für alle gerecht ist.

Ausgangspunkt der Debatte ist dabei die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit grundlegender Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die zumindest innerhalb demokratischer Nationalstaaten gelten: Inwieweit kann der Anwendungsbereich innerstaatlicher Prinzipien sozialer Gerechtigkeit global ausgedehnt werden? Bestehen auf globaler Ebene andere, gegebenenfalls schwächere Beziehungen moralischer Verantwortung, die entsprechend andere Prinzipien globaler sozialer Gerechtigkeit fordern?

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783110616040



Teil 1: Normative Grundlagen und politische Kontexte

Julian Nida-Rümelin

Verantwortung für internationale Gerechtigkeit: Die globale Herausforderung

Detaillierter werden diese Überlegungen in Nida-Rümelin (2017) ausgeführt.

1 Verantwortung: individuell, kollektiv, global

Wer ist wofür verantwortlich? Wie sind die Kriterien für die individuelle, kollektive oder auch globale Verantwortlichkeit zu fassen? In welchem Verhältnis stehen die unterschiedlichen Verantwortungstypen? Lässt sich jede Form von Verantwortlichkeit auf individuelle Verantwortlichkeit reduzieren? Welche Rolle spielen Institutionen? Sind wir durch die Globalisierung in ökonomischer und kultureller Hinsicht mit einer überbordenden Verantwortlichkeit konfrontiert, der wir als Individuen, möglicherweise aber auch als Einzelstaaten, nicht mehr gerecht werden können? Oder befinden wir uns vielmehr in einer Phase der Weltgeschichte, in der sich politische Verantwortlichkeit auflöst, wir zunehmend in einem System organisierter Unverantwortlichkeit leben (müssen)?
Der Verantwortungsbegriff ist für jede Form der ethischen Stellungnahme unverzichtbar. Wenn Menschen, Kollektive, Staaten für das, was sie tun, keine Verantwortung tragen, dann erübrigt sich jede ethische Beurteilung. Die ethische Beurteilung kommt nicht ex post, sondern ex ante: Es geht um eine Klärung dessen, was wir tun sollen. Wenn es nicht möglich ist, aufgrund der Einsicht in das Richtige zu handeln, wenn Menschen, wie ein zeitgenössischer Feuilleton-Skeptizismus meint, für das, was sie tun, schon deswegen keine Verantwortung tragen, weil es das Ergebnis kausaler Prozesse ist, die sie nicht kontrollieren können, wenn die Eigendynamik von Systemen so ausgeprägt ist, dass Individuen und ihre Praxis keinen Unterschied machen, oder auf globaler Ebene, wenn die Eigendynamik des globalen Wirtschaftssystems jedes einzelstaatliche Agieren zur Makulatur werden lässt, dann verschwinden normative Fragen hinter der bloßen Faktizität. Dann können wir lediglich feststellen, was Sache ist, aber nicht, was zu tun ist.
Verantwortlichkeit ist an die Fähigkeit, Gründe für das eigene Handeln zu geben, gekoppelt. Ohne diese Fähigkeit gibt es keine (Handlungs‐)Verantwortung. So agieren wir, so reden wir, so leben wir – dies entspricht unserer Selbstinterpretation. Dieses menschliche Selbstbild, das der anti-normativen Sichtweise entgegensteht, kann nicht einfach ausgetauscht werden, weder aus philosophischen noch aus politischen oder anderen Gründen. Wenn wir das Phänomen der Verantwortung herausbrechen, kollabiert das, was wir unter dem Humanen verstehen, als Ganzes. Die menschliche Lebensform stünde in Frage.
Zwei Einwände drängen sich hier geradezu auf: Ist nicht das, von dem hier die Rede ist, etwas spezifisch Europäisches, ist es nicht an eine bestimmte Kultur gebunden? Und zweitens, ist das Subjekt nicht eine Erfindung, eine Konstruktion der europäischen Aufklärung, die sich über die Verbreitung bestimmter Denkmuster, darunter das der Menschenrechte, unterdessen globalisiert hat? Mit anderen Worten: Ist das, was hier als die menschliche Lebensform (als conditio humana) apostrophiert wird, nichts anderes als ein partikularer Standpunkt, ein kultureller Kontext, eine spezifische Sichtweise, die historisch und kulturell gebunden ist, unter zahlreichen anderen? Diese Einwände sind weit verbreitet, ja sie gehören fast schon zum common sense der Feuilletons und der literarischen Kultur. Sie scheinen mir jedoch ganz offenkundig in die Irre zu gehen.
Ich verstehe unter individueller menschlicher Verantwortung nichts anderes als die Fähigkeit, Gründe abzuwägen, sich von Gründen affizieren zu lassen und Gründe zur Rechtfertigung des eigenen Handelns geltend zu machen. Spricht irgendetwas dafür, dass diese Fähigkeit erst vor rund 300 Jahren, in der Zeit der europäischen Aufklärung, ausgebildet worden ist? Die Antwort muss zweifellos „Nein“ lauten. Nichts deutet darauf hin, dass zu früheren Zeiten diese Fähigkeit, sein eigenes Handeln gegenüber Kritikern zu begründen, nicht existierte. Dass es sich im Laufe der historischen Veränderungen in immer wieder neuen Formen präsentierte, kann man zugestehen, ohne den Kern in Frage zu stellen, nämlich die menschliche Verantwortungsfähigkeit.1 Die philosophischen Texte aus der Zeit der griechischen Klassik, diese sind rund 2500 Jahre alt, kann man nicht verstehen, wenn man nicht diese wechselseitige Verantwortungszuschreibung voraussetzt. Die Gesprächspartner in den sokratischen Dialogen tun nichts anderes als Gründe für Überzeugungen, für Handlungen, für Einstellungen (Tugenden) vorzubringen, zu kritisieren, sich also an der Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens zu beteiligen. Aristoteles entwickelt in seiner Philosophie der Praxis schon einen ausdifferenzierten Verantwortungsbegriff, auch wenn der Terminus als solcher, bezogen auf die Fähigkeit, Antworten zu geben (verANTWORTUNG, responsibility, responsabilità, responsabilité…), wie wir ihn aus den europäischen Sprachen kennen, erst ein spätes Phänomen ist. Auch sehe ich keinerlei Indizien dafür, dass erst mit der Schriftkultur so etwas wie individuelle Verantwortlichkeit aufkommt. Schon deswegen nicht, weil in den meisten historischen Schriftkulturen das Verfügen über Schrift, der Gebrauch von Schrift, auf eine kleine intellektuelle Elite beschränkt war. Auch sogenannte archaische Kulturen, die es in Rudimenten auch heute noch gibt, kennen die Praxis der Rechtfertigung eigener Handlungen, sie tauschen Gründe aus, sie streiten darüber, ob jemand etwas tun darf oder nicht, sprich: Sie machen sich wechselseitig für das, was sie tun, verantwortlich. Kurz: Weder im historischen noch im interkulturellen Vergleich spricht irgendetwas dafür, dass die Fähigkeit, Gründe für die eigene Praxis abzuwägen und danach zu handeln, sowie das Resultat, nämlich eigene Handlungen gegenüber Kritikern durch das Angeben von Gründen zu rechtfertigen, auf eine spezifische, zum Beispiel europäische, rationalistisch ausgerichtete Kultur beschränkt ist.
Wir sind also verantwortlich, insofern wir die Fähigkeit besitzen, Gründe abzuwägen und aus Gründen heraus zu handeln. Strenggenommen ist dieser Satz trivial, da Handlungen gerade diejenigen Bestandteile unseres Verhaltens sind, die von Gründen geleitet sind. Die vollständig irrationale Handlung gibt es nicht. Wenn wir ein Verhalten als Handlung interpretieren, setzen wir voraus, dass die Person ihr Verhalten unter Kontrolle hatte, dass sie Gründe hatte, sich so zu verhalten und nicht anders. Gründe strukturieren unsere Praxis durch Handlungen. In den Handlungen äußern sich unsere ethischen und empirischen Überzeugungen. Gründe sind dazu da, sicherzustellen, dass die jeweilige Praxis als Ganze in sich stimmig ist und gegenüber Einwänden gerechtfertigt werden kann. Dies gilt für das menschliche Individuum. Gilt dies aber auch für Kollektive, für Staaten, für Institutionen, gilt es auch in der Außenpolitik, in den internationalen Beziehungen, gibt es also so etwas wie globale Verantwortung?
Es hat immer wieder Versuche gegeben, die politische Praxis von der lebensweltlichen zu entkoppeln. Manche haben dies als das der Politik eingeschriebene Phänomen der schmutzigen Hände beschrieben: Demnach muss erfolgreiche Politik mit ethischen Gründen in Konflikt kommen, sonst handelt es sich nicht um Politik. Viele wenden sich gegen eine Moralisierung des Politischen, da sie eine spezifische Systemlogik in der Politik vermuten, die die Moral außen vor hält. Ähnliches gilt für die ökonomische Praxis. Auch dort ist die Auffassung weit verbreitet, dass Märkte moralfrei seien, dass unternehmerisches Handeln allein auf die Optimierung des Gewinns gerichtet sei und das Handeln von Konsumenten ausschließlich auf die Optimierung des Konsums und dort ethische Aspekte keine Rolle spielen oder jedenfalls nicht spielen sollten. Beides scheint mir offenkundig falsch zu sein (vgl. Nida-Rümelin 2006), das heißt – präziser – auf einer gedanklichen Konfusion zu beruhen.
Es gibt keine voneinander isolierten „Systemlogiken“ – eine ökonomische, eine politische, eine lebensweltliche etc. –, sondern vielmehr verschiedene praktische Gründe, auch verschiedene Typen von Gründen, die gegeneinander abgewogen werden müssen, damit sich am Ende daraus eine stimmige, eben kohärente Praxis ergibt. Die behauptete Moralfreiheit der Märkte scheitert schon allein daran, dass ohne Kommunikation ökonomisch erfolgreiche Praxis gar nicht möglich ist. Kommunikation aber ist nicht zum moralischen Nulltarif zu haben, denn Kommunikation setzt voraus, dass wir uns in der Regel wahrhaftig und verlässlich äußern, dass wir nur das behaupten, von dem wir selbst überzeugt sind, und versuchen herauszufinden, was tatsächlich der Fall ist (Verlässlichkeit, Realitätsprinzip). Ökonomische Praxis kann nicht erfolgreich sein, wenn Menschen nicht miteinander kommunizieren, zumindest innerhalb eines Unternehmens, aber auch zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden. Kooperation ist zum moralischen Nulltarif ebenso wenig zu haben. Die vermeintliche ökonomische Systemlogik der Moralfreiheit ist lediglich die Verabsolutierung eines legitimen Handlungsgrundes, nämlich der Optimierung des Gewinns oder der Optimierung des Konsums. Dieser legitime Handlungsgrund spielt in der ökonomischen Praxis eine große Rolle, aber er muss abgewogen werden gegen andere Handlungsgründe. Geschieht dies nicht, dann erodiert die ökonomische Praxis selbst. Mit anderen Worten: Sie lebt von Bedingungen, die sie auf sich selbst gestellt nicht garantieren kann, um ein Diktum des Verfassungsrichters Böckenförde abzuwandeln.
Ähnliches gilt für die politische Praxis. Auch dort gibt es spezifische Typen von Gründen, die zum Beispiel darauf beruhen, dass die kollektive Meinungsbildung eine große Rolle spielt und es daher ohne die Bereitschaft, Kompromisse zu finden, in der Regel keinen politischen Erfolg gibt. Entsprechend müssen Abstriche gegenüber eigenen Zielen gemacht werden, um kompromiss- und kooperationsfähig zu sein. Moralisierung im Sinne einer rigiden Verabsolutierung einzelner Bewertungsaspekte ist in der politischen Praxis in der Tat hinderlich. Dies heißt aber nicht, dass ethische Gründe keine Rolle spielen. Im Gegenteil, eine politische Praxis, die nicht in der Lage ist, sich nachvollziehbar und ethisch adäquat zu rechtfertigen, scheitert zumindest in einer Demokratie an einer kritischen Öffentlichkeit.
Das generelle Muster von Kooperation, auch außerhalb von Institutionen, lässt Individuen gemeinsam handeln, indem sie ihren Teil zu einer gemeinsam erwünschten Praxis beitragen und dabei auf die Optimierung ihrer eigenen Interessen verzichten. Anders ist Kooperation nicht zu haben (Nida-Rümelin 2011, S. 77 – 98). In der institutionell verfestigten Form, zum Beispiel im Rahmen der Bundesregierung, muss jede einzelne Ministerin und jeder einzelne Minister so agieren, dass der eigene Beitrag sich zu einem kohärenten Ganzen fügt, der die Handlungsfähigkeit der Institution Bundesregierung sicherstellt. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu einer institutionellen Krise, und sei es nur in der vorübergehenden Form des Rücktritts eines Ministers. Der Übergang zwischen politischer Praxis im Rahmen fest gefügter Institutionen, wie zum Beispiel einer Bundesregierung, und der politischen Praxis als einer institutionell nicht gefestigten Form der Kooperation ist fließend. Kollektive Verantwortung ist eine spezielle Form kooperativer Verantwortung. Politische Verantwortung ist eine spezielle Form kollektiver Verantwortung. Sie ist in unterschiedlichem Maße institutionell verfestigt und beruht auf einer institutionellen Struktur, die kollektives Handeln reguliert. Unabhängig vom Maß der Institutionalisierung tragen die einzelnen Akteure eine individuelle kooperative Verantwortung.
Es gibt also keinen Ausweg aus der Verantwortlichkeit. Zur conditio humana, zur menschlichen Lebensform, die wir über alle Kulturen und Zeiten teilen, gehört die Fähigkeit, Gründe abzuwägen und entsprechend zu handeln. Wir sind für unsere Praxis verantwortlich. Dies gilt individuell, aber auch kollektiv und politisch. Wie unübersichtlich die Handlungsbedingungen auch immer sind, die einzelnen Akteure formen sich über eine kooperative Praxis zu Verantwortungsgemeinschaften, ob sie es wollen oder nicht. Die globale Dimension macht die Reichweiten, die Wirksamkeiten einzelner Aktionen größer und unübersichtlicher, hebt aber menschliche Handlungsverantwortung nicht auf. Die politische, zumal die demokratische Praxis ist darauf gerichtet, die Gestaltungskraft durch Regelsetzung und Institutionen zu wahren. Die demokratische Ordnung beruht auf der Idee, dass zwar nicht je individuell, aber kollektiv, durch Verständigung auf bestimmte Entscheidungsverfahren, eine Kontrolle zumindest der Regeln möglich ist, die unser Zusammenleben gestalten. Dies gilt in der Kommune, in der Region, auf nationalstaatlicher Ebene, in der EU und auf der ganzen Welt. Insofern gibt es hier eine Kor...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titleseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Abkürzungsverzeichnis
  6. Einführung
  7. Zwischen internationaler Gerechtigkeit und institutioneller Verantwortung –Übersicht über die Beiträge des Sammelbands
  8. Teil 1: Normative Grundlagen und politische Kontexte
  9. Teil 2: Genealogien und Narrative
  10. Teil 3: Brexit and Beyond. Zur Zukunft der Europäischen Union
  11. Teil 4: Migration und Identität
  12. Teil 5: Ökonomie und Ressourcen
  13. Teil 6: Politik und Religion
  14. Personenregister