Orientierungsmodelle und Digitalisierung
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Orientierungsmodelle und Digitalisierung

Kommunikationsprozesse im Wandel

  1. 238 Seiten
  2. German
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Orientierungsmodelle und Digitalisierung

Kommunikationsprozesse im Wandel

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Je digitaler und technischer unsere Umwelt wird, umso mehr suchen wir nach Orientierung. Digitaler Wandel heißt Informationsflut, ständige Neuerungen und Verlust an Privatsphäre. Was kann uns Halt geben? Einige vormals grundlegende, traditionelle Orientierungsgeber wie Print-Medien oder das klassische Fernsehen weichen individualisierbaren Digital-Diensten und haben ihre Rolle weitgehend verloren. Orientierung im digitalen Zeitalter impliziert neue Bildungsanforderungen an die Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Mit diesem Buch bereitet Anabel Ternès von Hattburg die Grundlage für ein neues Orientierungsmodell, das im digitalen Wandel Halt geben kann und auf Transparenz sowie einer kritischen Hinterfragung basiert.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783110644517

1 Einführung

1.1 Der Supermarkt der Orientierungen

Die Diskrepanzen zwischen der natürlichen Lebensumwelt, die einen evolutionär angepassten Menschen hervorgebracht hat, und den Anforderungen, die die Moderne an diesen stellt, sind so augenscheinlich, dass sie kaum noch erwähnt werden müssten – wohl aber verstanden und interpretiert.
Mag die Frage der Orientierung auch als ein Luxusproblem westlich geprägter Überflussgesellschaften angesehen werden, so gilt, dass auch Luxusprobleme tatsächliche Herausforderungen bilden, die eine Vielzahl von Menschen, ihre Lebensqualität, ihr Selbst- und Gemeinschaftsempfinden und ihren Charakter beeinträchtigen. Davon zeugt die Flut der Literatur aus den unterschiedlichsten Wissenschaften, von der sozialen Beobachtung des Gruppenverhaltens bis hin zur Philosophie und Psychologie, die sich stärker dem inneren, emotionalen und kognitiven Verarbeitungsprozess widmen.
Orientierung, dem Wortursprung nach die Ausrichtung nach Osten, ist heute so vielfältig und inflationär verfügbar, so allgegenwärtig, dass sie selbst einer orientierenden Strukturierung bedarf: Jede Religion oder Weltanschauung, jede Werbebotschaft, jeder Ratgeber und jedes Gespräch enthält Inhalte, die als Orientierung bis hin zum kompletten Konzept für einen Lebensentwurf verstanden (oder missverstanden) werden können: Dementsprechend definieren sich Menschen über Ethnie, Herkunft, Ideen, über Lebensgewohnheiten, über Konsum, über Sport und über die Merkmale ihrer individuellen Sinnsuche.
Das Angebot an Orientierungsmöglichkeiten ist dabei häufiger Risiko als Chance, häufiger Problem als Lösung. Die in vielen Bereichen des Lebens vorherrschende wirtschaftliche Logik von Markt und Konkurrenz gilt nicht nur für die Auswahlmöglichkeiten von Orientierungsangeboten, sondern durchdringt diese: Hochglanzbroschüren und Wochenendseminare, Lebenshilferatgeber und Motivationskurse, psychologische Beratung – all dies steht nicht nur nebeneinander und verlangt Zeit und Aufmerksamkeit, sondern will auch finanziell honoriert werden, so dass die gesamte Bandbreite von Wissenschaft über Religion und Esoterik bis hin zur reinen Scharlatanerie reicht – für die aufgrund der allgemeinen Desorientierung ebenfalls eine breite und vor allem zahlungswillige Kundschaft bereitsteht.
Einen gängigen Ausweg aus der Problematik scheint die wissenschaftliche Methodik zu bieten, die ihre Sinnsuche und ihre Orientierungsmuster mit rationalen Prinzipien erschließen und die Welt immer detaillierter zu erklären versuchen. Dazu ist jedoch zu bemerken, dass es auch die Flut an wissenschaftlichen Erkenntnissen war, die einen Teil der derzeitigen Orientierungslosigkeit zu verantworten hat, indem sie einerseits einen Konflikt mit den traditionellen Quellen der Orientierung, Kirche und Staat, riskierten, andererseits eine Vielzahl von Mechanismen schufen, die die Arbeit – als weiteres, sinnstiftendes Element – auf eine Weise revolutionierten und erleichterten, die, nach Marx, eine völlige Entfremdung der Arbeiter vom hergestellten Produkt bedeutete. (Mészáros, 1973)
Die Werbung tut ein Übriges, um äußerst professionell und scheinbar selbst unschuldig daran, Schuldgefühle zu erzeugen: Durch „Magermodels“ wird ein krankes Schönheitsideal gepredigt, und sehr schlanke junge Frauen ertappen sich schockiert beim Schokoladeessen. Wer nicht mit dem allgegenwärtigen Körperideal, sei es aus Frauen- oder Männerzeitschriften, übereinstimmt, bekommt auf subtile Art suggeriert, er gehöre nicht dazu. Die echte oder mit Photoshop nachbearbeitete Schönheit der Covermodels vermittelt durchaus eine Art Orientierung, wenn auch eine Orientierung verhängnisvoller Art; sie wird zum Maßstab für die eigene Person und das eigene Umfeld erhoben.
In einer durch und durch optisch ansprechend gestalteten Umwelt – jede Produktverpackung ist, spätestens seit Campbell’s Soup Can, ein eingängiger Beweis dafür – scheint für Nicht-Perfektes kein Platz mehr zu sein: vom Layout bis zum Zeitmanagement: So wenden sich Abonnementen eines YouTube-Kanals von diesem ab, wenn die neuen Beiträge nicht immer exakt zu gleichen Zeit hochgeladen werden.

1.2 Der Zerfall der alten Sinnstiftungsmonopole

Fest steht: Keine Zeit bot bisher derartig viele, dauernd verfügbare Orientierungsmöglichkeiten wie die heutige. Und in keiner Zeit war die Frage der Orientierung schwieriger zu beantworten. Denn von der radikalen Askese und Konsumverweigerung über die Hinwendung zu unterschiedlichsten Glaubensvorstellungen monotheistischer oder spirituell-naturreligiöser Art bis hin zum rein materiellen und egoistischen Hedonismus stehen den heutigen Sinnsuchern alle Wege offen. Je nach psychologischer Verfassung und Sozialisation wird diese Freiheit allerdings nicht von allen Menschen als solche empfunden, sondern als Druck, eine Wahl treffen zu müssen und damit auch: den meisten der im Spiel der eigenen Gedanken äußerst verlockend erscheinenden Angeboten eine Absage erteilen zu müssen. Je mehr die Suche nach Orientierung sich auf die Außenwelt, ihre sozialen und materiellen Bedingungen erstreckt, umso weniger Raum bleibt für die Suche nach Orientierung im Innern.
Auch die prinzipielle Orientierungslosigkeit der Moderne scheint einige Orientierungsmöglichkeiten zu bieten, wenn diese auch auf unkonventionelle Art genutzt werden: So ist es gerade das Merkmal heutiger Orientierungssuche, dass auch eine Art negativer Orientierung erfolgt: Ohne zu wissen, was anzustreben wäre, fällt es leicht, die Orientierungsangebote allesamt zu kritisieren und einen gewissen Sicherheitsabstand zu wahren. So machen sich Menschen vor allem die Kritik an den Orientierungsangeboten zunutze – eine Kritik, die sich weiter Verbreitung erfreut, da kaum ein Bereich existiert, zu dem nicht ein findiger Autor schon einen Ratgeber verfasst hat, der die Schwächen der jeweiligen Orientierung offenlegt und kritisiert: Die Kirche – Kreuzzügler in neuem Gewand! Die Wissenschaft – seelenloses Regelwerk! Die Nation – plumper Biologismus! Die Familie – ein soziales Konstrukt! Aus derlei negativer Orientierung wird es allerdings schwierig, ein kohärentes Weltbild abzuleiten. Aber wozu sich überhaupt noch die Mühe machen, wenn auch der bequeme Weg existiert, das eigene Urteil zur universellen Moralinstanz zu verklären und jede Handlung dadurch als richtig anzusehen, dass man sie eben ausgeführt hat.
Die heutige westliche Gesellschaft erlaubt im Rahmen der liberalen und rechtsstaatlichen Ordnung ein Nebeneinander unterschiedlichster (und auch: sich gegenseitig ausschließender Glaubensvorstellungen und Lebensentwürfe), solange die Gesetze eingehalten werden.
Wo früher eine auf Orientierung basierende Identität – als Christ oder Moslem, als Staatsbürger einer Nation, als Kaufmann oder Handwerker, Mann oder Frau – existierte, begleitet von einem jeweils zugehörigen Rollenverständnis, hat die Moderne ein ungeordnetes Angebot von Identifikationsmöglichkeiten geschaffen, aus dem sich jeder bedienen kann und in dem die Autorität und Würde, früher mit bestimmten Berufen einherging, bzw. der Ausdruck dieser, aber auch damit einhergehender Stereotype, eine immer geringere Rolle spielen.
Wie Jürgen Kaube es ausdrückt:
Niemand fragt den Oberstaatsanwalt ob er es denn seinem Amt angemessen findet, zweimal im Jahr auf Barbados surfen zu gehen. Oder den Sechzigjährigen, inwiefern denn bunte Trainingsanzüge zu einem würdigen Erscheinungsbild in Innenstädten oder Wäldern beitragen. Oder den konfessionslosen Stahlarbeiter im Ruhrgebiet, wie er denn dazu kommt, CDU zu wählen. Oder den Professor für Mittellatein, was er denn im Fußballstadion sucht. (Kaube, 2007, S. 12).
Der Verlust einer wie auch immer gearteten, ehemaligen „Normalität“, wie sie in den 50er und 60er Jahren selbstverständlich war, ist immer auch – und das steckt im Begriff – ein Verlust von „Normen“, die früher zur Orientierung zwangen oder zumindest dienten.
Das Übermaß und der gleichzeitige Mangel an Orientierung stellt auch die Frage der Identität neu: So erscheint es fraglich, wie sich eine kohärente und feste Identität entwickeln kann, wenn alle Möglichkeiten offenstehen und sich Überzeugungen, Tätigkeiten und Wohnorte nach Belieben austauschen lassen. Gibt es so etwas wie eine Schutzzone vor einer „Diktatur der Beliebigkeit“ und des Relativismus, vor der etwa Papst Benedikt XVI. warnte? (Schwabe, 2013)
Niemand – erst recht nicht Jugendliche oder junge Erwachsene – sind heute davor gefeit, den zahlreichen Verwirrungen, die bei der Orientierungssuche entstehen, zu entgehen: Die Orientierung, die sich aus der Suche nach dem Lebensstil ergibt, ist zunächst eine ästhetische: Die Form und Stil sind bedeutender als Inhalt, und die Frage ob es gut sei, wird zugunsten der Frage, ob es gut aussehe, vernachlässigt. Im Zweifelsfall übernimmt die Werbung das Ruder bei der Orientierungssuche: Eine Werbung, die auf Unmengen von statistischen Daten und Erfahrungswerten basiert, genau auf die Emotionen ihrer Zielgruppe zugeschnitten ist. Ein Entrinnen erscheint fast ausgeschlossen, zumal die Botschaft verführerisch ist: mit diesem Produkt, mit diesem Auto, dieser Zigarette, diesem Parfum, diesem Hamburger, dieser Urlaubsreise dokumentiere ich meine Individualität, rustikale Männlichkeit oder elegante Weiblichkeit. Ein abstruser und paradoxer Gedanke sicherlich, zumal Werbung eben für einen Massenmarkt derartiger „Individualisten“ geschaffen ist. Die Botschaft: eine wie auch immer geartete Selbstverwirklichung, latent begleitet von der Möglichkeit eines grenzenlos egozentrischen Hedonismus, der notfalls auch auf Kosten anderer oder der Gesellschaft ausgeübt wird.
Wer aufgrund seines Facebook-Klickverhaltens überhaupt nicht mehr mit Orientierungsmodellen konfrontiert wird, die seiner Überzeugung widersprechen, mag zwar vordergründig eine erhöhte Selbstsicherheit suggeriert bekommen, ein Selbst-Bewusstsein, eine Selbst-Einordnung oder Erweiterung des eigenen Denkhorizonts wird aber dadurch erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.
Mit seiner treffenden Analyse zur „Risikogesellschaft“, die die alten, sicher erscheinenden Strukturen ablösen würde, hat der Soziologe Ulrich Beck 1986 eine Dynamik offengelegt, mit der sich hier auf vielfältige Arten auseinandergesetzt werden muss: Wo Risiko, Unübersichtlichkeit und Unwissenheit an die Stelle der Sicherheit tritt, wird Orientierung schwieriger, gleichzeitig aber auch bedeutsamer.
Leben in der Weltrisikogesellschaft heißt mit unüberwindlichem Nichtwissen leben, genauer: in der Gleichzeitigkeit von Bedrohung und Nichtwissen und den daraus entstehenden politischen, gesellschaftlichen und moralischen Paradoxien und Dilemmata. (Beck U., 2007, S. 211).
Beck beschreibt den Begriff der „Wissensgesellschaft“ als einen „Euphemismus“ – viel treffender als dieser Begriff werde die Weltrisikogesellschaft als eine „Nichtwissensgesellschaft“ charakterisiert (Beck U., 2007, S. 211). Dies trifft natürlich in erhöhtem Maße auf Personen wie Kinder oder Jugendliche zu, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen. Auch im jungen Erwachsenenalter kann sicherlich, je nach persönlichen Eigenschaften und Interessen, nicht jene Perspektive vorausgesetzt werden, die sich mit dem Erfahrungsschatz und der Lebensweisheit älterer Menschen verbindet.

1.3 Egozentrik auf allen Kanälen

Die Frage nach dem Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen ist alles andere als neu und erfuhr spätestens mit dem Aufkommen der Abenteuerromane Karl Mays weite Verbreitung. Damalige Zeitgenossen kritisierten den ihrer Meinung nach zweifellos schädlichen Einfluss dieser Fantasieprodukte auf die Jugendlichen – erfundene Geschichten, noch dazu angereichert mit Gewalt, konnten demnach nur Schlechtes bewirken, lenkten sie doch von der Beschäftigung mit der wahren Kultur, der griechisch-römischen Antike und den Klassikern der deutschen Dichtkunst und Literatur ab.
Die Inhalte der Diskussion haben sich ebenso geändert wie die Medien, die Fronten aber blieben mehr oder weniger gleich: Die Verrohung der Jugend, der Verfall der Sitten, ja der Untergang des Abendlandes wurden zunächst auf „Schundromane“, dann auf Comics, später auf „gewaltverherrlichende“ Computerspiele und neuerdings auf die Verbreitung von Smartphones zurückgeführt.
Jedes neue Medium ruft also Kritiker auf den Plan, die, teils aus echter Sorge, teils aber auch aus Profilierungssucht zur Attacke übergehen. Dennoch ist die Frage, was Medien – und der umfangreiche Medienkonsum – mit der Psyche von Kindern und Jugendlichen anrichten und wie sie langfristig auf die geistige und körperliche Entwicklung einwirken.
Wer sich auf die sozialen Netzwerke begibt, schafft sich eine eigene Bühne. So spricht Vogelsang von der „Identitätsarbeit online als performative Selbstinszenierung“. Gerade für Jugendkulturen ergibt sich damit eine starke Beschleunigung ihrer Ausdifferenzierung und das individuelle Selbst kann sich auf zahlreiche Arten entfalten und darstellen (Vogelsang, 2014, S. 150). Dies kommt etwa in der Möglichkeit zum Ausdruck, mit verschiedenen Identitäten im Netz zu spielen und diese zu erproben.
Auf diese Weise lassen sich die Netzräume durchaus als Werkstätten der Identität („identity workshops“) begreifen, „in denen ein virtuoses Wechselspiel zwischen Selbst-Inszenierung, Selbst-Vergewisserung und Selbst-Verwandlung möglich ist“. Dabei kann zwischen einer Enthüllung auf einem sozialen Netzwerk oder aber einer Verhüllung in einem anonymen Chat gewählt werden – mit jeweiligen Folgen für die individuelle Identität und Selbstbewusstsein, denn deren Eigenschaften und Merkmale ergeben sich immer aus sozialen Interaktionsbeziehungen: „Der Weg zum Ich geht vom Du aus und durchläuft es als wichtige Station.“ Gleichzeitig bietet dies aber auch die Chance einer erweiterten und bewussteren Reflexion von Identität und Rollenverständnis (Vogelsang, 2014, S. 150f).
Die Moderne ist, wie oben gezeigt, von Vielfalt und Schnelllebigkeit gezeichnet – der Verlust der Rationalität droht allerorts und der „Gotteswahn“ (Dawkins, 2007) tritt, zumindest im Buchhandel, gleichberechtigt neben den „Wissenschaftswahn“ (Sheldrake, 2015). Überhaupt ist der Wahn ein gerne strapaziertes Thema unserer Zeit: Der Kontrollwahn, der Vergnügungswahn, der Technikwahn, der Genderwahn und der Gerechtigkeitswahn sind beliebte Themen von Überschriften, die zum Anklicken einladen. Diese Überschriften kennzeichnen unterhaltsame, aber meist intellektuell unergiebige Artikel, die es als willkommene Abwechslung oder Prokrastination zu durchstöbern gilt.
Die soziologisch orientierte (und nur implizite) Kulturtheorie von Erving Goffmann, wie sie in „The Presentation of Self in Everyday Life“ (Goffmann, 1959) veröffentlicht wurde, stellt die Metapher der Maske in den Vordergrund: Gesellschaftliches Handeln ähnelt dabei jenem sehr stark, was Schauspieler tun, während das übrige Handeln verborgen bleibt. Tritt der Akteur in die Öffentlichkeit oder die soziale Interaktion ein, folgt bestimmten dramaturgischen Kriterien, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Erfolgreiche Inszenierungen solcher Interaktionen werden insbesondere dann beobachtet, wenn ein Akteur nicht alleine, sondern innerhalb eines Teams handelt, wobei das gesamte Team das Risiko einer Blamage, aber auch die Möglichkeit einer Belohnung bei erfolgreicher Aufführung teilt.
Insgesamt spielen Rituale innerhalb dieser inszenierten Art der Kommunikation eine große Rolle: Die Begrüßung, die Verabschiedung oder das Verteilen von Komplimenten folgen Regeln, wobei auch Regelverletzungen auftreten können, die dann, ebenfalls in Form von Ritualen (wie Vorhaltungen, Erklärungen, Entschuldigungen etc.), sanktioniert und bereinigt werden. Die Werbung nutzt positive Rituale wie eine Umarmung, um sie selbst ritualisiert für die Darstellung – erneut also eine Inszenierung, nämlich die des Produkts (Goffmann, 1959).
Die Kommunikation, die bei Goffmanns Ausführungen eine große Rolle einnimmt, ist die Grundlage für weitere Überlegungen zum Thema „Wirklichkeit“:
Goffmanns These ist sicherlich, dass wir keineswegs nur in einer Wirklichkeit leben. Schon wir selbst sind ja nur ein Produkt der Gesichtsarbeit, die wir in einer Situation investieren. Das eigene Selbst erscheint deswegen als eine andere, häufig auch tiefere Schicht – auch wenn sich dieser Eindruck vor allem dem Umstand verdankt, dass dieses Selbst eben auch außerhalb der Situation besteht. (Knoblauch, Erving Goffmann: Die Kultur der Kommunikation, 2011, S. 199).
Nun sind diese Ausführungen, sofern man sie verinnerlicht, kaum dazu geeignet, das Vertrauen in ein wie auch immer geartetes, kommunikativ vermitteltes Orientierungsangebot zu verstärken.

1.4 Das Zeitalter der Superlative

Stellte der britische Historiker Eric Hobsbawm noch fest, das 20. Jahrhundert sei mit seinen politischen und technischen Revolutionen, die Verwerfungen und Grausamkeiten bisher ungeahnten Ausmaßes hervorrie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Title Page
  3. Copyright
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
  7. 1 Einführung
  8. 2 Grundlegende Annahmen/Theorien
  9. 3 Methodik
  10. 4 Orientierung
  11. 5 Orientierung im Digitalen Zeitalter
  12. 6 Ansätze der Orientierungssuche
  13. 7 Orientierungsverlust
  14. 8 Fallbeispiele zu Orientierungsdefizite
  15. 9 Auf dem Weg zu einem neuen Orientierungsmodell?
  16. 10 Übertragung auf Strategien/Konzepte für den Bildungs- bzw. Ausbildungsauftrag
  17. 11 Eckpunkte eines neuen Orientierungsmodells
  18. Literatur
  19. Stichwortverzeichnis