1 Schweizerdeutschdiskurse â zur Einleitung
Ist man als Schweizerin oder Schweizer auf Reisen, erklĂ€rt man in der weiten Welt gerne, dass die Schweiz kein drei-, sondern ein viersprachiges Land sei. Und stolz fĂŒgt man fĂŒr Interessierte bei, dass man hierzulande zwar auch Deutsch, aber eben doch nicht High German, Hochdeutsch, sondern Swiss German, Schweizerdeutsch spreche. Was den Fremden letztlich keinen Unterschied macht, ist fĂŒr Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer dagegen existenziell und essenziell. Denn Schweizerdeutsch reden nur sie, Schweizerdeutsch macht den grossen Unterschied gegenĂŒber den Nachbarn nördlich und östlich des Rheins, die zwar auch Deutsch reden, aber eben nicht Schweizerdeutsch. Diesem Alleinstellungsmerkmal kommt aber auch daheim grosse Bedeutung zu. Kaum treffen sich zwei Unbekannte bei einem gesellschaftlichen Anlass, kommt es auch schon zur regionalen Verortung des GegenĂŒbers anhand des Dialekts. Dies ist â wie Heinrich Löffler beobachtete â in der Deutschschweiz sogar ein wichtiger Teil des âGesellschaftsspiels âSich kennen lernenââ. 1
So viel steht fest: Das sprachlich Eigene schafft nicht nur persönliche, sondern auch kollektive IdentitĂ€t. Innerhalb der deutschen Schweiz durch Abgrenzung des eigenen gegenĂŒber anderen Dialekten, im nationalen Kontext durch die Abgrenzung des eigenen Schweizerdeutschen gegenĂŒber dem Hochdeutschen der Andern, der AuswĂ€rtigen. 2
Sprache ist in der deutschen Schweiz deshalb oft und gerne Thema privater Interaktion, aber auch in der öffentlichen Diskussion nimmt sie ihren festen Platz ein. Solche öffentlich ausgetragenen metasprachlichen Reflexionen, oder Metasprachdiskurse, umfassen in der deutschen Schweiz in der Regel vier Themenbereiche. Erstens: die Mehrsprachigkeit. Gern wird diskutiert ĂŒber das VerhĂ€ltnis der offiziellen Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und RĂ€toromanisch, wobei das VerhĂ€ltnis zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz, den beiden grössten Sprachregionen, am meisten Anlass zum sprachpolitischen Debattieren gibt. 3 â Zweitens: die Normierung des (Schweizer) Standarddeutschen. Der normative Diskurs bezieht sich bereits seit dem 18., dann vor allem im 19. Jahrhundert vornehmlich auf Fragen der orthographischen, orthoepischen und lexikalischen Normierung der deutschen Gemeinsprache. SpĂ€ter geben auch die LegitimitĂ€t und Ausgestaltung eines spezifisch schweizerischen Hochdeutschs zu reden. 4 â Drittens: der Sprachzustand. Immer wieder lĂ€sst man sich ein auf einen im engeren Sinne sprachkritischen Diskurs, der sich in sprachpuristisch motivierter Kritik und sich daraus ergebenden sprachpflegerischen BemĂŒhungen manifestiert. Eine Besonderheit der Sprachpflege in der Deutschschweiz liegt darin, dass sie einem Prinzip der âdoppelten Reinheitâ folgt: Sie ist um die Bewahrung oder Wiederherstellung eines âreinenâ Dialekts ebenso bemĂŒht wie um die eines âreinenâ Hochdeutschs. 5 â Viertens: die Diglossiesituation. Die Deutschschweizer Sprachsituation gilt seit Ferguson als typisches Beispiel fĂŒr Diglossie. Gemeint ist damit jene AusprĂ€gung gesellschaftlicher Zweisprachigkeit, bei der in einer Sprachgemeinschaft zwei VarietĂ€ten einer historischen Einzelsprache primĂ€r nach funktionalen und nicht nach sozialen Kriterien gebraucht werden. 6 Hierzu stellt sich in der öffentlichen Debatte die Frage: Welchen Stellenwert billigt man dem Dialekt und der (Schweizer) StandardvarietĂ€t zu und wie gestaltet sich das VerhĂ€ltnis der beiden VarietĂ€ten zueinander? 7
WĂ€hrend sprachkritische und sprachnormative Diskurse in Ă€hnlicher Weise auch in den anderen deutschsprachigen LĂ€ndern zu beobachten sind, ergeben sich die Debatten zur Mehrsprachigkeit und zur Diglossiesituation aus der Spezifik der (Deutsch-)Schweizer Sprachsituation. 8 NaturgemĂ€ss finden Mehrsprachigkeitsdiskurse meist sprachregionĂŒbergreifend statt, wĂ€hrend öffentliche Debatten ĂŒber die Diglossie vornehmlich in der deutschen Schweiz ausgetragen werden. Erst jĂŒngst wurden im Kontext verschiedener kantonaler Volksinitiativen, die den ausschliesslichen Gebrauch des Dialekts in KindergĂ€rten forderten, die Bedeutung von Mundart und Hochdeutsch und die Frage nach deren angemessenem VerhĂ€ltnis kontrovers diskutiert. 9
Solche Diskussionen sind keineswegs neu. Die Stellung von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch und das VerhĂ€ltnis der beiden VarietĂ€ten zueinander beschĂ€ftigte die Ăffentlichkeit bereits im 19. Jahrhundert. Damals entwickelte sich die deutschschweizerische Diglossiesituation endgĂŒltig zu einem soziolinguistischen âSonderfallâ im deutschsprachigen Raum. Die nunmehr deutlich wahrnehmbare Diskrepanz zwischen dem Sprachgebrauch der Gebildeten in der Schweiz und jenen in Deutschland wurde zu einem der Themen, die den öffentlichen Diskurs in Sachen Sprache zunehmend bestimmten.
Eben solche öffentlichen Schweizerdeutschdiskurse des 19. Jahrhunderts sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Es geht um metasprachliche Diskurse, welche die Bedeutung des Schweizerdeutschen bzw. des Dialekts sowie das VarietÀtenverhÀltnis zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch in der deutschen Schweiz thematisieren.
Der gegenstandkonstituierende Begriff âSchweizerdeutschâ bedarf dabei folgender ErlĂ€uterung. Aus dialektologischer Sicht gibt es kein nach linguistischen Kriterien definierbares eigenstĂ€ndiges schweizerdeutsches Dialektgebiet und folglich kein âSchweizerdeutschâ. 10 Dialektgeographisch gesehen ist Schweizerdeutsch lediglich ein Sammelbegriff, der die Summe aller innerhalb der politischen Grenzen der Schweiz gesprochenen alemannischen Dialekte bezeichnet. DemgegenĂŒber kann aus bewusstseinsgeschichtlicher und laienlinguistischer Perspektive dem Schweizerdeutschen eine gewisse kulturelle FaktizitĂ€t nicht abgesprochen werden. 11 Als linguistischer Terminus hat âSchweizerdeutschâ vor allem in diesem Kontext seine Berechtigung: Die âGefĂŒhlsrealitĂ€tâ 12 einer einheitlichen und eigenstĂ€ndigen VarietĂ€t bezieht âSchweizerdeutschâ aus einigen salienten sprachlichen Merkmalen, mit denen es sich gegenĂŒber anderen deutschen Dialektlandschaften und der Standardsprache leicht hörbar abgrenzen lĂ€sst, sowie insbesondere aus der speziellen Pragmatik des Dialektgebrauchs in der Deutschschweiz, wo im Unterschied zu den meisten ĂŒbrigen deutschsprachigen Regionen (Ausnahmen sind Liechtenstein und bis zu einem gewissen Grad auch das österreichische Vorarlberg) die Mundarten die gesprochenen AlltagsvarietĂ€ten ausnahmslos aller Bevölkerungskreise darstellen. Dass Schweizerdeutsch ĂŒberdies auch eine politisch-ideologische Konstruktion ist, wird nicht zuletzt in dieser Arbeit deutlich. Da das Konzept einer einheitlichen Schweizersprache in den Quellen des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung ist, wird in dieser Arbeit der Begriff âSchweizerdeutschâ verwendet, in dem sich dieses Konzept verfestigt hat, wohlwissend um seine linguistische Problematik.
Mit obiger Gegenstandsbestimmung, den Schweizerdeutschdiskursen des 19. Jahrhunderts, sind zugleich die rĂ€umlichen und zeitlichen Grenzen dieser Arbeit abgesteckt. RĂ€umlich fokussiert die Arbeit auf die deutsche Schweiz. Das hat seinen guten Grund darin, dass sich die politische und gesellschaftsgeschichtliche, aber auch die sprachgeschichtliche Entwicklung der Schweiz nicht nur bis 1800, sondern insbesondere auch im 19. Jahrhundert deutlich von jener anderer deutschsprachiger Gebiete unterscheidet. So bildet die politische Grenze zwischen der deutschen Schweiz und dem benachbarten alemannischen SĂŒden Deutschlands im Laufe des Jahrhunderts zunehmend auch eine âpragmatische Sprachgrenzeâ. 13 Es ist deshalb sinnvoll, die deutsche Schweiz des 19. Jahrhunderts als eigene sprachhistorische Untersuchungsregion zu betrachten, wie dies bereits Klaus Mattheier vorgeschlagen hat. 14 In dem Masse, wie die sprachgeschichtliche Entwicklung der Schweiz sich von anderen deutschen Sprachregionen unterscheidet, versteht sich diese Arbeit denn auch als Beitrag zu einer Sprachgeschichte der Regionen, die die traditionell eher monozentrisch betriebene Sprachgeschichte des Deutschen geographisch zu differenzieren und anstelle der Geschichte der deutschen Sprache vielfĂ€ltigere Geschichten der deutschen Sprache zu schreiben versucht. 15
Zeitlich fokussiert die Arbeit auf das 19. Jahrhundert. Es wird jedoch notwendig sein, gelegentlich auf das ausgehende 18. sowie das frĂŒhe 20. Jahrhundert zu verweisen, um einzelne Entwicklungslinien in ihrem Entstehen und ihrem Weiterwirken nachzuzeichnen. Sprachgeschichtlich begrĂŒndet sich der Untersuchungsbeginn um 1800 damit, dass sich im ausgehenden 18. Jahrhundert im gesamten deutschsprachigen Raum ein neues Regionalsprach- bzw. Dialektbewusstsein auszubilden begann. Diese Entwicklung hing unmittelbar mit der Ausformung und Verbreitung der neuhochdeutschen Schriftsprache zusammen, die sich zu diesem Zeitpunkt als Norm- und LeitvarietĂ€t in allen Sprachlandschaften durchgesetzt hatte. 16 SpĂ€testens mit der vorlĂ€ufigen Kodifikation des Hochdeutschen durch Johann Christoph Adelung wurde ein deutlicher Kontrast geschaffen zwischen dem, was als allgemeinsprachlich, und dem, was als regionalsprachlich oder dialektal zu gelten hatte. 17 Zugleich weckte die Romantik ein neues Interesse an Volkskultur und Volkssprachen, das zur gesteigerten WertschĂ€tzung und einem verstĂ€rkten populĂ€ren, aber auch literarischen und wissenschaftlichen Interesse an den Dialekten fĂŒhrte. 18
Diese Entwicklungen verliefen in den deutschsprachigen Regionen weitgehend parallel. So wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Hebels alemannische Gedichte auch in der Schweiz begeistert aufgenommen und bald schon nachgeahmt. Aber auch die frĂŒhdialektologischen Arbeiten des Entlebucher Pfarrers Franz Joseph Stalder belegen, wie das Interesse an der Volkssprache auch in der Schweiz erwacht. Das neue Interesse an den diatopischen VarietĂ€ten traf im frĂŒhen 19. Jahrhundert in der deutschen Schweiz jedoch auf ganz andere Voraussetzungen als im restlichen deutschen Sprachgebiet. Die Dialekte stellten hier nĂ€mlich noch immer die AlltagsvarietĂ€ten aller sozialen Gruppen, also auch der gelehrten dar. Damals war man sich sowohl ausserhalb als auch innerhalb der Schweiz dieser soziolinguistischen Besonderheit durchaus bewusst, wobei der eingeschlagene âSonderwegâ in der Deutschschweiz keineswegs nur begrĂŒsst, sondern auch kritisiert wurde. Die Frage nach der Bedeutung der Dialekte und dem richtigen VerhĂ€ltnis zwischen den VarietĂ€ten wurde so im 19. Jahrhundert zu einem Gegenstand sprachreflexiver Debatten in der Deutschschweiz.
Ein erstes Erkenntnisinteresse dieser Studie richtet sich auf die Rekonstruktion der Strukturen der historischen Schweizerdeutschdiskurse. Es geht dabei um Themen, Argumentationen und diskursive Strategien der Diskursteilnehmer 19 und um die diachrone Strukturierung in Phasen intensiverer und weniger intensiver BeschĂ€ftigung mit der Thematik. Da sich diese Arbeit programmatisch als Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte der deutschen Schweiz versteht, gilt ihr zweites Interesse der Rekonstruktion kollektiver Dispositionen, die sich als metasprachliche Reflexe von âDenken, FĂŒhlen und Wollenâ 20 in Bezug auf die Dialekte, das Hochdeutsche und auf deren VerhĂ€ltnis in den Schweizerdeutschdiskursen manifestieren. Dabei gilt es zu klĂ€ren, welche Sprachauffassungen und Spracheinstellungen in Bezug auf die beiden VarietĂ€ten zu welcher Zeit existierten. In diachroner Perspektivierung interessiert, welche ZĂ€suren und UmbrĂŒche, aber auch welche KontinuitĂ€ten empirisch zu beobachten sind. Es sollen Aspekte sprachbewusstseinsgeschichtlicher Konstanz und VariabilitĂ€t herausgearbeitet und in ihrem sprachhistorischen sowie gesellschaftsgeschichtlichen Kontext beleuchtet und erklĂ€rt werden. Insofern schliesst diese Arbeit also auch eine kulturgeschichtliche Orientierung mit ein.
Eine dezidiert kulturgeschichtliche Bedeutung der Schweizerdeutschdiskurse des 19. Jahrhunderts ergibt sich daraus, dass Sprache hier nicht nur als Medium, sondern auch als Gegenstand kollektiver IdentitĂ€tsstiftungsprozesse fungiert. Im Kontext patriotischer und nationaler Konstruktionsprozesse des 19. Jahrhunderts ist die SelbstverstĂ€ndigung ĂŒber Sprache in der Schweiz nicht nur besonders relevant, sondern auch besonders prekĂ€r. Denn da sich die Deutschschweiz nicht nur als Teil der mehrsprachigen Schweizer Nation verstand, sondern sich zugleich auch mit dem deutschen Sprach- und Kulturraum verbunden fĂŒhlte und auf ihn angewiesen war, war ein prototypischer Sprachnationalismus, wie er sich damals in Deutschland herausbildete, 21 hier nicht denkbar.
Sprache als Objekt gesellschaftlicher Selbstreflexion ist fĂŒr die deutsche Schweiz bislang weder von der Sprachgeschichtsschreibung noch von den Geschichtswissenschaften gebĂŒhrend berĂŒcksichtigt worden. Noch heute gilt folgende Feststellung, die Roland Ris bereits Ende der 1980er Jahre Ă€usserte:
Dass Sprachgeschichte Bewusstseinsgeschichte sein kann, [âŠ] ist in der schweizerischen Geschichtsschreibung noch sehr wenig in Betracht gezogen worden. Der schroffe Ăbergang von einer mehr prosopographisch orientierten Kulturgeschichte zu einer gelegentlich rein materialistischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte liess kulturelle PhĂ€nomene zeitweise zu sehr im Lichte einer Ăberbautheorie erscheinen, als dass ihre primĂ€r bewusstseinsstiftende Funktion hĂ€tte wahrgenommen werden können. 22
Aus sprachgeschichtlicher Perspektive im engeren Sinne stellen Schweizerdeutschdiskurse und die darin manifesten Reflexe des Sprachdenkens einen genuinen Gegenstand der Sprachbewusstseinsgeschichte der deutschen Schweiz dar. Diese Diskurse versprechen Einsichten in das historische Sprachbewusstsein insbesondere des 19. Jahrhunderts und damit in den soziolinguistischen So...