1.1Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
erit ergo etiam obscurior, quo quisque deterior.
Folgt: Je schlechter einer ist, um so dunkler wird er auch sein.
Quintilian (inst. 2,3,9)
Mythen sind anders3. Sie bzw. ihre einzelnen, konkret vorliegenden Stoffvarianten „funktionieren“ nicht so, wie man dies von der Gestaltung der Figuren und dem Aufbau der Handlung bspw. in historischen Dramen, Entwicklungsromanen oder Kriminalgeschichten erwartet. Ist man allerdings herausgefordert zu erklären, was genau Mythen anders macht, dann merkt man erst, wieviel anders ist, und daß man, wenn man an einem Ende mit dem Erklären anfängt, zwangsläufig viele andere „Enden“ auch noch mit einbeziehen müßte, und zwar möglichst gleichzeitig4. Was natürlich unmöglich ist – woraus aber folgt, daß erst durch eine Rahmentheorie ein Gesamtbild entstehen kann, in dem verschiedene einzelne Elemente sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Denn nur im Zusammenspiel ergeben die verschiedenen einzelnen Beobachtungen und daraus gezogenen Folgerungen ein schlüssiges Gesamtbild, und erst auf dem Hintergrund eines solchen Gesamtbildes bzw. einer Rahmentheorie wird es wiederum möglich, Rolle und Wichtigkeit einzelner Beobachtungen zu erfassen und richtig zu bewerten und damit zu „mytho-logischen“, also zu sowohl theoretisch als auch methodisch fundierten Aussagen über Mythen zu kommen5.
Auf dem Hintergrund von Erfahrungen in der Lehre, von Auseinandersetzungen mit der Forschungsliteratur und von Diskussionen im Rahmen interdisziplinärer Forschungsverbünde entwickelte sich aus dem Umgang mit Primärquellen und aus dem Wunsch heraus, die in diesen Quellen verarbeiteten Mythen besser verstehen bzw. erklären zu können, eine Mythostheorie, ja der Entwurf zur Grundlegung einer allgemeinen Stoffwissenschaft. Die Erarbeitung einer solchen in Grundzügen neu aufgestellten allgemeinen Stoffwissenschaft ist somit vom Produktionsprozeß her gesehen einem vorrangigen Interesse an der Erforschung mythischer Stoffe entsprungen; rein logisch betrachtet aber, so hat sich im Verlauf der Arbeit herausgestellt, müssen die Fundamente einer allgemeinen Stoffwissenschaft der Errichtung des Gebäudes einer Erforschung speziell mythischer Stoffe vorgeordnet sein. Worin die Gewinne der vorgestellten theoretischen Überlegungen zum Stoffbegriff, zur Unterscheidung verschiedener Stoffarten allgemein und zu einer näheren Bestimmung mythischer Stoffe im Besonderen, sowie der daraus entwickelten Methodik zur Analyse von Stoffen im Allgemeinen und mythischer Stoffe im Besonderen und zum transmedialen Vergleich einzelner Stoffvarianten bestehen6, soll im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Beispielen deutlich gemacht werden, die, wiederum durch das initiale Interesse an der Mythosforschung bedingt, vorrangig aus dem Bereich mythischer Stoffe stammen.
Es wäre durchaus spannend und in manchen Hinsichten einfacher gewesen, die theoretischen und methodischen Ansätze in der konkreten Umsetzung an einem einzigen Mythos zu veranschaulichen. Der Vorteil wäre gewesen, daß einmal ein mythischer Stoff in seiner ganzen Komplexität und in all seinen Facetten hätte dargestellt und durchleuchtet werden können. Auf der anderen Seite lag in diesem Vorgehen die Gefahr einer Ermüdung der Leserinnen und Leser, die sich nach einer gewissen Zeit fast unausweichlich eingestellt hätte, und darüber hinaus hätte man damit unweigerlich die Frage provoziert, ob Theorie und Methodik wirklich generell anwendbar seien und nicht doch eben nur bei der Erschließung des einen Kronzeugen zu guten Ergebnissen führten. Daher werden verschiedene Aspekte anhand verschiedener Beispiele erläutert. Es gibt trotzdem einen mythischen Stoff, der sich wie ein roter Faden durchzieht und an dem zwar nicht alle, aber immerhin etliche zentrale Aspekte veranschaulicht werden: der griechische Mythos von der Gründung der Stadt Troia durch Ilos, in dem das Kultbild der Pallas, das Palladion, vom Himmel auf die Erde herabfällt7.
An verschiedenen Stellen werden Folgerungen für die Mytheninterpretation gezogen, was bei etlichen Kapiteln schon in der Überschrift explizit vermerkt ist8. In diesen Kapiteln geht es vor allem um das Interpretieren an sich, also mehr um das anzuwendende Instrumentarium und um die sinnvollerweise zu stellenden Fragen oder zu vermeidenden Fallen, nicht so sehr um die Antworten. Im Zentrum stehen, wie von einer theoretisch-methodischen Grundlegung zu erwarten, in erster Linie die Bedingungen, Möglichkeiten und Gefahren des Interpretierens von Mythen – konkrete Einzelinterpretationen bestimmter Mythen zwar durchaus auch, aber nicht vorrangig.
In der vorliegenden Arbeit wurde bewußt versucht, einen zu stark esoterischwissenschaftlichen Stil zu vermeiden und theoretische Ausführungen an konkreten Beispielen zu verdeutlichen. Es wäre gerade im Bereich der Mythosforschung nicht besonders schwer gewesen, unter Präferenz theoretischer Reflexion eine exemplifizierende Illustration zu negligieren und präfigurierte Diskurse so zu dekonstruieren, daß ein hermeneutischer Zugriff auf die autorspezifischen Positionen und terminologischen Innovationen diffizil, diese Positionen und Innovationen selbst dafür aber um so Respekt einflößender ausgefallen wären, was manchmal mit „wissenschaftlich“ verwechselt wird9. Nicht so zu schreiben wie Teile des eben verflossenen Satzes geschrieben sind, Komplexes nicht allzu kompliziert darzustellen war umgekehrt nicht immer einfach, aber eine Herausforderung, der sich der Verfasser um so lieber gestellt hat, als sich Mythen nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, und dort fächerübergreifend, sondern auch deutlich darüber hinaus eines breiten Interesses erfreuen. Es wäre viel erreicht, wenn der hier entwickelte theoretische Ansatz und die davon abgeleiteten Methoden zu weiteren Fragestellungen und Ergebnissen führen, die sich bei der konkreten Arbeit an Mythen als fruchtbar erweisen, indem sie neue Perspektiven auf Verstehenshorizonte eröffnen, die auf den ersten und vielleicht auch zweiten Blick verdeckt geblieben wären.
Manche Aspekte des Problemfeldes „Mythos“ mußten länger ausgeführt werden als geplant, vor allem was die manchmal notgedrungen etwas analytischformalistischen, aber unabdingbar notwendigen Überlegungen zum Begriff „Stoff“, zu seinen Konstituenten, zu der Rekonstruktion von Stoffvarianten aus ihren medialen Konkretionen oder zu den Herausforderungen angeht, die sich bei Stoffvergleichen ergeben. Einige Gründe sprachen daher dafür, diese Arbeit in getrennte Publikationen aufzuspalten (Skylla), doch letztlich standen noch mehr Gründe dagegen. Mit der Entscheidung, alles zwischen zwei Buchdeckel zu stecken (Charybdis), aber auch mit dem Facettenreichtum des Phänomens „Mythos“ hängt es zusammen, daß die Zahl der übergeordneten Kapitel relativ hoch ausgefallen ist. Betrachtet man diese 24 Kapitel im Überblick, lassen sich jedoch – v. a. unter thematischem Aspekt – vier verschiedene Hauptteile benennen.
Im ersten thematischen Hauptteil (Kapitel 2-9) geht es um die Definition und Differenzierung des Stoffbegriffs – eine wichtige, ja unerläßliche Basis für die Grundlegung einer allgemeinen Stoffwissenschaft (Kapitel 2-8). Daraus werden Folgerungen gezogen einerseits für die Rekonstruktion von Stoffvarianten durch eine Hylemanalyse (s. zusammenfassend Kapitel 6.3), andererseits für den Vergleich von einzelnen Stoffvarianten, also für eine transmedial und komparatistisch ausgerichtete Stoffwissenschaft (Kapitel 9).
Ein zweiter thematischer Block (Kapitel 10-12) befaßt sich nach einem einleitenden bzw. überleitenden Kapitel zur Unterscheidung verschiedener Stoffarten wie Mythos, Märchen und Sage (Kapitel 10) dann des Näheren mit Mythen, und zwar mit ihrer Eigenart in Abhebung von anderen Stoffarten (Kapitel 11) und mit ihrer Varianz bzw. Invarianz (Kapitel 12).
Der dritte und vom Umfang her größte thematische Hauptteil (Kapitel 13-21) widmet sich dann aus verschiedenen Perspektiven der Vielschichtigkeit von Mythen. Hier wird das Phänomen von Stoff-Stoff-Interferenzen („Interhylität“) anhand von Beispielen näher beleuchtet (Kapitel 13-14) und der Befund des Geschichtet-Seins einzelner Stoffvarianten (Kapitel 15), das sich durch formale und logische Indizien wie Inkonsistenzen erkennen läßt (Kapitel 16), was wiederum exemplarisch veranschaulicht wird (Kapitel 17). In Kapitel 18 geht es darum, grundlegende Merkmale von Mythen herauszuarbeiten. Neben der eigenständigen Bedeutung, die diesem Kapitel zukommt, ist es zugleich funktional noch auf etwas anderes ausgerichtet, nämlich darauf zu zeigen, daß all die dort genannten Merkmale Mythen zu wichtigen Instrumenten im Umgang mit der Wirklichkeit machen, die immer wieder neu verwendet und dadurch gewissermaßen zu Kampfplätzen werden, auf denen Deutungsmachtkonflikte ausgetragen werden (Kapitel 18.4). Diese Deutungsmachtkonflikte und die mit ihnen verbundenen Bearbeitungsprozesse hinterlassen Spuren, denn sie schlagen sich in bestimmten Erzähltaktiken nieder, mit deren Hilfe Wertungen und Hierarchisierungen vorgenommen werden. Zusätzlich zu Stoff-Stoff-Interferenzen und den formalen und logischen Indizien der Inkonsistenzen stellen solche Erzähltaktiken semantische Indizien dar, anhand derer verschiedene Traditionen bzw. Stoffschichten ausgemacht werden können (Kapitel 19), was in Kapitel 20 an verschiedenen Mythen exemplarisch gezeigt wird. Kapitel 21 befaßt sich dann mit den Herausforderungen und Chancen und mit der historischen Dimension der Stratifikationsanalyse von Mythen.
Die abschließenden Kapitel 22-24 lassen sich insofern als eine Einheit begreifen, als hier die im Lauf der Arbeit gewonnenen Einsichten resümierend vertieft, ausblickhaft erweitert und durch einen Rückblick abgerundet werden. Zunächst werden die Erkenntnisse zu Mythen als polymorphen und je nach Variante polystraten Erzählstoffen auf den Bereich der mythischen Figuren übertragen (Kapitel 22), bevor in Kapitel 23 die Ergebnisse der Arbeit in theoretischer wie methodischer Hinsicht zusammenfassend vertieft und zu einer Mythosdefinition komprimiert werden. In Kapitel 24 befindet sich ein kurzer Ausblick auf eine Ausweitungsmöglichkeit dieser Mythosdefinition (Kapitel 24.1) und ein längerer „Rückblick“ (Kapitel 24.2) auf einen Archegeten der Stoffwissenschaft, auf Aristoteles. In diesem Kapitel erscheinen einige Begriffe und Passagen in der aristotelischen Poetik in einem neuen Licht, wenn gezeigt wird, daß Aristoteles bereits grundsätzliche Überlegungen zum Stoffbegriff angestellt, nicht aber, wie manchmal angenommen wird, eine Mythosdefinition vorgelegt oder literaturwissenschaftliche Termini wie story bzw. plot vorwegnehmend geprägt hat.
Durch die vor allem thematisch zusammengehörigen Blöcke ergibt sich im Überblick folgende Zuordnung der übergeordneten Kapitel zu den genannten Hauptteilen:
Hauptteil I: Stoffbegriff – Stoffwissenschaft – Stoffkomparatistik
2Stoffe und ihre Konkretionen: untrennbar, aber nicht identisch
3Stoffbegriff, literaturhistorische Story-Forschung und allgemeine Stoffwissenschaft (Hylistik)
4Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene Lösungsvorschläge, oder: Niobes Hybris
5Der Stoff, aus dem die Stoffe sind: Stoffvarianten als Hylemsequenzen
6Definition und erste Differenzierung des Stoffbegriffs
7Stoff und Stoffschema: Weitere Differenzierung des Stoffbegriffs
8Stoffgrenzen: Zur Abgeschlossenheit und Abgrenzung von Stoffen bzw. Stoffvarianten
9Stoffvergleiche: Skizzierung einer komparatistischen Hylistik
Hauptteil II: Mythen und andere Stoffarten
10Stoffarten: Mythos, Märchen, Sage …
11Mythos: Wann ist ein Stoff ein mythischer Stoff?
12Mythen im Wandel. Das Spannungsverhältnis zwischen Varianz und Invarianz von mythischen Stoffen, oder: Das Lächeln der Mona Lisa
Hauptteil III: Mythen und ihre Strata
13Mythen und der Tod des Autors: Stratifikationstheorie I
14Indizien und Beispiele für Stoff-Stoff-Interferenzen (Stratifikationsmethodik I und Stratifikationsbeispiele I)
15Die Merkwürdigkeit der Mythen: Stratifikationstheorie II
16Formale und logische Indizien für Stratifikationsprozesse in Mythen: Inkonsistenzen (Stratifikationsmethodik II)
17Mythen als mehrfach überbaute Gebäude: Inkonsistenzen in einzelnen mythischen Stoffvarianten (Stratifikationsbeispiele II)
18Brisanz der Mythen: Stratifikationstheorie III
19Semantische Indizien für Stratifikationsprozesse in Mythen: Wertungen und Hierarchisierungen (Stratifikationsmethodik III)
20Kampfspuren im Sand der Arena: Erzähltaktiken in Mythen als Umsetzungen von Wertungs- und Hierarchi...