Die Zeit im Spiegel der Sprache
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Die Zeit im Spiegel der Sprache

Untersuchungen zu den Objektivierungsformen für Zeit in der natürlichen Sprache

  1. 468 Seiten
  2. German
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Die Zeit im Spiegel der Sprache

Untersuchungen zu den Objektivierungsformen für Zeit in der natürlichen Sprache

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Über dieses Buch

Dieses Buch befasst sich mit der Objektivierung des praktisch nutzbaren Wissens über das Zeitphänomen, das sich historisch in den lexikalischen, grammatischen und textuellen Formen für Zeit in der natürlichen Sprache angesammelt und erhalten hat. Dabei zeigt sich dann, dass es in diesen Sprachformen primär nicht um die Objektivierung von Zeit als ein messbares Naturphänomen geht, sondern eher um die hermeneutische Erschließung von Zeit als ein sinnbildendes polyfunktionales Kulturphänomen. Auf diese Weise tritt die natürliche gewachsene Sprache dann im Kontrast zu den formalisierten Fachsprachen als ein lebender Spiegel für Zeit in Erscheinung, der nicht nur auf anderes, sondern immer auch auf sich selbst verweist. Die Frage nach der Zeit im Spiegel der natürlichen Sprache wird so gesehen dann nicht nur eine Frage nach der Zeit, sondern auch eine Frage nach der Struktur der natürlichen Sprache, die nach Bühler als geformter Mittler das Zeitphänomen semiotisch und pragmatisch zu bewältigen hat. Dabei muss sie dann auch im Sinne Humboldts von ihren endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, was wiederum zu aufschlussreichen semantischen Inkohärenzen in ihren Mitteilungen führen kann bzw. zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783110663488

1Der Problem- und Intentionszusammenhang

Was ist also ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. (Quid est ergo ‚tempus‘? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio;)1
Obwohl dieser Stoßseufzer Augustins als Bekenntnis zu seinem eingeschränkten Wissen über die Zeit schon über eineinhalb Tausend Jahre alt ist, so ist er sicherlich auch heute noch recht aktuell. Erkenntnistheoretisch ist er nämlich nicht nur als realistisch anzusehen, sondern heuristisch auch als anregend. Durch ihn werden wir nämlich mit dem Problem konfrontiert, wie wir unser praktikables Alltagswissen von Zeit auf sinnvolle Weise mit einem theoretisch konsistenten begrifflichen Wissen von Zeit in Verbindung bringen können. Auf jeden Fall regt uns Augustins pointiertes Bekenntnis zu seinem fragmentarischen Wissen von Zeit dazu an, Überlegungen darüber anzustellen, auf welche Weise und in welchen Formen wir uns das Zeitphänomen durch sprachliche und nicht-sprachliche Mittel überhaupt durch Zeichen objektivieren bzw. intersubjektiv verständlich vergegenwärtigen können.
Aber selbst wenn wir Augustins substanzielle Frage nach dem Wesen der Zeit in eine operative Frage nach unseren semiotischen Objektivierungsmöglichkeiten für Zeit transformieren, dann werden wir auch diese Frage kaum befriedigend beantworten können. Gleichwohl gewinnen wir über einen solchen Zugriff aber vielfältige kulturhistorische Einsichten, die dann selbst wiederum aufschlussreich für unser Verständnis von Zeit sein können. Dieses Verfahren hat nämlich den Vorteil, dass wir unseren möglichen Teilantworten einen ganz bestimmten pragmatischen Stellenwert geben können, der sich dann mit dem anderer Teilantworten kontrastieren, ergänzen oder analogisieren lässt.
Bei diesem Wahrnehmungsverfahren wird das Zeitphänomen dann zwar letztlich nicht mehr als ein ontisch vorgegebenes Seinsphänomen verstanden, das wir abschließend auf einen Wesensbegriff bringen können, sondern eher als ein ontologisch noch näher zu bestimmender Strukturierungsfaktor, der uns dabei hilft, sinnvoll mit unserer Erfahrungswelt umzugehen. Aus diesem Grunde möchte Herder dann in einer gewissen Spannung zu Kant den Begriff der Zeit primär auch nicht als einen apriorischen Begriff vor aller Erfahrung verstanden wissen. Seiner Meinung nach sei der Begriff der Zeit eher als „ein diskursiver, d. i. allgemeiner Begriff des Maßes aller Veränderungen“ zu betrachten.2
Wodurch sind nun die großen Schwierigkeiten bedingt, das Phänomen Zeit auf einen einheitlichen und überzeugenden Begriff zu bringen? Der Grund dafür liegt wohl auch darin, dass es ontologisch schon ein Problem ist, ob wir von der Zeit überhaupt im Singular sprechen können oder nicht besser nur im Plural. Offenbar kommen nämlich unseren konkreten Erfahrungsphänomenen immer spezifische Eigenzeiten zu, die wir schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Wenn wir von der Zeit im Singular sprechen, dann geraten wir leicht in die Gefahr, diese Eigenzeiten in ein unangemessenes begriffliches Prokrustesbett zu zwingen, in das diese nur dann passen, wenn wir sie abstraktiv verkürzen oder willentlich dehnen und ihnen eben dadurch dann auch Gewalt antun. Herder hat das schon sehr eindrucksvoll so thematisiert.
Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; […] keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maß der Zeit. Mein Pulsschlag, der Schritt oder Flug meiner Gedanken ist kein Zeitmaß für andre […]. Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu Einer Zeit unzählbar-viele Zeiten; die Zeit, die wir uns als das Maß Aller denken, ist bloß ein Verhältnismaß unsrer Gedanken […].3
Wenn man wie Herder denkt, dann müssen wir bei der Frage nach der Zeit nicht nur an diese selbst als widerspenstigen ontischen Sachverhalt denken, sondern auch an die Erkenntnisinteressen der Menschen, die sich für dieses Phänomen interessieren, insofern dieses ja für sie als ein Verhältnismaß bei der Ordnung ihrer jeweiligen Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen in Erscheinung tritt. Das bedeutet, dass die möglichen Antworten auf die Frage nach der Zeit uns nicht nur Aufschluss über das Zeitphänomen selbst zu geben haben, sondern immer auch über die Subjekte, die sich für dieses Phänomen interessieren und es faktisch in ihr Leben einbeziehen. Dadurch bekommt die Frage nach der Zeit dann nicht nur eine ontologische, sondern auch eine genuin anthropologische Dimension. Es geht nun nämlich nicht mehr nur um die Zeit an sich, sondern immer auch um die Zeit für uns und damit nicht mehr nur um eine rein objektorientierte Frage, wie sie vom Typus her in den Naturwissenschaften eine lange Tradition hat, sondern auch um eine subjektorientierte Frage, wie sie für die Geisteswissenschaften immer prägend gewesen ist. Auf diese Weise wird die Frage nach der Zeit dann zwar sachlich und strukturell sehr viel unübersichtlicher, aber anthropologisch und kulturell zugleich auch sehr viel wichtiger.
Die Pointe der Umorientierung des Wahrnehmungsinteresses für Zeit von stabilen Seins- oder Substanzvorstellungen zu variablen Relations- oder Strukturierungsvorstellungen liegt nicht zuletzt darin, dass unsere Objektivierungsformen für Zeit natürlich auch selbst immer zeitliche Implikationen haben. Die kulturellen Erfassungsformen für Zeit treten nämlich faktisch immer als historisch wandelbare Formen mit einem oft nur begrenzt gültigen zeitlichen Stellenwert in Erscheinung. Das impliziert, dass all unsere semiotischen Repräsentationsformen für Zeit letztlich immer auch oder nur als bestimmte Spielformen für einen pragmatisch sinnvollen Umgang mit der Zeit betrachtet werden können. Alle haben nämlich eine je unterschiedliche historische Geltungskraft und Vertrauenswürdigkeit, die erst erprobt werden muss, bevor man sie sinnvoll qualifizieren kann. Das trifft dann allerdings nicht nur für unsere kultur- bzw. sprachspezifischen Objektivierungsformen für Zeit zu, sondern letztlich auch für unsere naturwissenschaftlichen und philosophischen, denn auch bei diesen gibt es ja historische Paradigmenwechsel bei der Thematisierung bzw. bei der Interpretation von Zeit. Das exemplifiziert sich beispielsweise recht gut durch das Verständnis von Zeit als Messzahl der Bewegung bei Aristoteles, als selbständig fließende absolute Zeit bei Newton, als apriorische Voraussetzung unseres Wahrnehmens und Denkens bei Kant oder als Raumzeit bei Einstein.
Gerade in anthropologischer und kultureller Sicht haben wir uns sicherlich mit dem Gedanken anzufreunden, dass wir dem Phänomen Zeit ontologisch kein definierbares überzeitliches Wesen zuschreiben können, sondern nur variable Erscheinungsformen, die von unseren jeweiligen pragmatisch bedingten Differenzierungsinteressen abhängen. Das legt dann natürlich auch den Verzicht auf eine abschließende Definition des Begriffs bzw. des Phänomens Zeit zugunsten von jeweils unterschiedlichen Objektivierungsformen für Zeit nahe, die alle nur einen pragmatisch motivierten und damit auch begrenzten Adäquatheits- oder gar Wahrheitsanspruch stellen können.
Einerseits ist das natürlich unbefriedigend, weil von Begriffen als kognitiven Mustern immer erwartet wird, ein adäquates Seinswissen zu objektivieren. Andererseits ist dieser Verzicht aber auch anregend, weil wir dazu inspiriert werden, neue Wahrnehmungsperspektiven für ein anscheinend schon gut bekanntes Phänomen zu entwickeln. Das bedeutet dann, dass wir im Prinzip nur nach solchen begrifflichen Kategorisierungen für Zeit suchen sollten, die nicht nur als Antworten verstanden werden können, sondern zugleich auch als Fragen, die uns auf die Prämissen und Zielsetzungen unseres Wahrnehmens und Denkens über die Zeit aufmerksam zu machen haben.
Wenn wir unsere Frage nach der Zeit nun nicht nur als Frage nach einem vorgegebenen Erkenntnisgegenstand verstehen, sondern zugleich auch als eine Frage nach den anthropologischen und pragmatischen Rahmenbedingungen, unter denen wir als Menschen Erfahrungen mit der Zeit machen können, dann lässt sie sich keineswegs leichter bewältigen. Aber sie wird dadurch sprachtheoretisch zugleich auch sehr viel interessanter, weil sie mehrdimensionaler wird und eine ganz konkrete pragmatische Funktion bekommt. Wir haben jetzt nämlich immer zu beachten, dass die natürliche Sprache das umfassendste Sinnbildungswerkzeug des Menschen ist, dessen Wirkungsfeld sich zwar methodisch, aber keineswegs inhaltlich begrenzen lässt.
Prinzipiell können wir dabei allerdings immer darauf vertrauen, dass sich in der natürlichen Sprache auf evolutionäre Weise sehr unterschiedliche Objektivierungsformen für Zeit herausgebildet haben, die uns den Umgang mit der Zeit im praktischen Leben durchaus erleichtern. Diese direkten und indirekten Vergegenwärtigungsformen für Zeit haben faktisch zwei unterschiedliche Dimensionen. Einerseits müssen sie nämlich die Zeit irgendwie als ein kulturtranszendentes Naturphänomen thematisieren, an dessen Komplexität, Unübersichtlichkeit und Eigenständigkeit sich dann insbesondere Naturwissenschaften wie etwa die Physik, die Biologie oder die Astronomie präzisierend abarbeiten können. Andererseits müssen sie die Zeit aber auch als ein Kulturphänomen thematisieren, das aus menschlichen Interpretations- und Gestaltungsprozessen resultiert, an dem sich dann Geisteswissenschaften wie etwa die Sprachwissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Psychologie oder die Philosophie präzisierend abmühen können und müssen, eben weil gerade in ihnen die Zeit immer sehr nachhaltig als ein konstitutiver Strukturierungsfaktor des menschlichen Wahrnehmens und Denkens in Erscheinung tritt.
Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass die Frage nach der Zeit eine grundlegende anthropologische Dimension beinhaltet, insofern sie nämlich immer auf die Grundlagen der menschlichen Wissensbildung und Lebensorganisation Bezug nimmt. Deshalb liegt es dann auch nahe, danach zu fragen, was wir über die Zeit in Erfahrung bringen können, wenn wir die Sprache insgesamt oder ihre vielfältigen Einzelformen als Spiegel betrachten, mit denen wir uns das Zeitphänomen zumindest hinsichtlich seiner anthropologischen Aspekte zu erspiegeln und damit in unser explizites Bewusstsein zu rufen vermögen. Dabei können wir dann nämlich sowohl etwas über die Zeit selbst erfahren als auch etwas über die Sprache als ein fundamentales Objektivierungsmittel für Zeit als auch etwas über die Menschen, die sich konkrete sprachliche Zeichen als spezifische Sinnbildungsmittel für ihre kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse im Verlaufe der Kulturgeschichte bzw. der Zeit evolutionär entwickelt haben.
In den unterschiedlichen sprachlichen Vergegenwärtigungsformen für Zeit von den lexikalischen über die grammatischen bis zu den textuellen Sprachmustern spiegeln sich nicht nur die vielfältigen menschlichen Interpretationsziele für das Verständnis von Zeit wider, sondern auch die unterschiedlichen operativen Strategien, die sich dabei verwenden lassen. Auf diese Weise wird uns dann auch gut verständlich, was Cassirer dazu motiviert hat, den Menschen als „animal symbolicum“ zu bestimmen, und was Humboldt im Auge hatte, als er betonte, dass der Mensch beim Gebrauch der natürlichen Sprache „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch“ machen könne.4
Dieser sprachtheoretische und semiotische Denkansatz von Cassirer und Humboldt hat eine genuin anthropologische Dimension, die für die sprachliche Objektivierung von Zeit von ganz zentraler Bedeutung ist. Er nimmt nämlich die Fähigkeit des Menschen ernst, auch das ihm eigentlich Unbegreifliche sprachlich zu thematisieren, selbst wenn er es dabei begrifflich nicht so bewältigen kann, wie er es eigentlich möchte. Davon hat ja auch der eingangs zitierte Stoßseufzer Augustins schon ein beredtes Zeugnis abgelegt. Spengler hat das auf ganz ähnliche Weise in einer Reflexion über die Differenz zwischen unserer Raumerfahrung und unserer Zeiterfahrung zum Ausdruck gebracht. Dabei hat er insbesondere darauf verwiesen, dass das menschliche Leben untrennbar mit dem Phänomen der Zeit verwachsen sei und dass es eben deshalb auch als ein genuin anthropologisches Phänomen angesehen werden sollte.
Raum ist ein Begriff. Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten, ein Klangsymbol, das man völlig mißversteht, wenn man es ebenfalls als Begriff wissenschaftlich zu behandeln sucht. […] Wir alle werden uns, indem wir wach sind, nur des Raumes, nicht der Zeit bewußt. Er „ist“, nämlich in und mit unserer Sinnenwelt […]. „Die Zeit“ dagegen ist eine Entdeckung, die wir erst denkend machen; wir erzeugen sie als Vorstellung oder Begriff, und noch viel später ahnen wir, daß wir selbst, insofern wir leben, die Zeit sind.5
Spenglers Analogisierung von Zeit und Leben wird plausibel, wenn wir die Zeit nicht wie heute meist üblich nur als eine messbare Größe verstehen, sondern auch als eine erlebbare Größe, die man sich auch über die Erfahrung von Zeitrhythmen oder von spezifischen Zeitgestalten objektivieren kann. Dieses anthropologische Verständnis von Zeit dokumentiert sich auch darin, dass das lateinische Wort tempus ursprünglich nicht auf die Zeit als eine vermeintlich eigenständige ontische Größe verwiesen hat, sondern auf lebenskonstitutive Zeitspannen, wie sie beispielsweise im Rhythmus von Herzschlägen oder von Tageszeiten zum Ausdruck kommen. Das bedeutet dann, dass das Erlebnis und die sprachliche Objektivierung von Zeit sich natürlich nicht nur auf ihren chronologischen Ablauf und ihre Messbarkeit beschränken darf, sondern auch auf ihre Strukturierungskraft für das menschliche Leben und Denken ausgeweitet werden muss, was ja auch schon Herders Anliegen war. Dafür bieten dann natürlich unsere sprachlichen Objektivierungsformen für unterschiedliche Zeiterlebnisweisen und Zeitgestalten sehr vielfältige und fruchtbare Ansatzpunkte.

1.1Erkenntnistheoretische Grundfragen

Bei der Wahrnehmung und Beschreibung von Zeit haben wir uns inzwischen an einen spannungsreichen Kompromiss gewöhnt. Einerseits erwarten wir, dass die Naturwissenschaften die Zeit als ein vorgegebenes Naturphänomen für uns näher bestimmen und eben dadurch dann auch operativ besser beherrschbar machen sollen. Andererseits erwarten wir, dass die Geisteswissenschaften die Zeit näher aufklären und anthropologisch qualifizieren sollen, da ihre Wahrnehmbarkeit und Objektivierbarkeit ganz offensichtlich auch immer etwas mit menschlichen Lebens-, Denk- und Gestaltungsprozessen zu tun hat. Daher wird dann auch gewünscht, dass Philosophie, Geschichtswissenschaft, Psychologie sowie Sprach- und Literaturwissenschaft etwas Wesentliches zur Beschreibung und Präzisierung unserer Vorstellung von Zeit beitragen sollen.
In beiden Zugriffsweisen erweist sich nun aber das Phänomen Zeit immer wieder als ein ziemlich schlüpfriger Aal, der kognitiv kaum zu fassen ist und der sich daher dann auch allen abschließenden Kategorisierungen und Theoriebildungen zu entziehen weiß. Wir scheinen dieses Phänomen nur dann begrifflich sinnvoll fixieren zu können, wenn wir es über bestimmte methodische Abstraktionen auf ganz bestimmte Teilaspekte reduzieren und darauf verzichten, es vollständig und abschließend bestimmen zu wollen. Diese Problematik dokumentiert sich darin, dass es bei der Erfassung der Zeit sowohl in den Zugriffsweisen der Naturwissenschaften als auch in denen der Geisteswissenschaften immer wieder zu Paradigmenwechseln gekommen ist. Das verdeutlicht sich insbesondere dadurch, dass wir immer wieder scheitern, wenn wir versuchen, uns das Zeitphänomen als Seinsphänomen an sich zu objektivieren. Wir scheinen zumindest anthropologisch gesehen nur dann sinnvolle Ergebnisse erzielen zu können, wenn wir uns in pragmatischer Sicht darauf konzentrieren, die Zeit in variablen Perspektiven als Ordnungsphänomen für uns näher zu bestimmen.
Die polyperspektivische Wahrnehmbarkeit von Zeit ist daher auch weniger als ein prinzipielles erkenntnistheoretisches Problem anzusehen, sondern eher als eine realitätsnahe Konsequenz aus der fundamentalen Relevanz der Zeit für die menschliche Wahrnehmung und Gestaltung von Welt. Das kann dann natürlich methodisch sehr unterschiedliche natur- und geisteswissenschaftliche Zugriffsweisen erforderlich machen, denen wir dann wiederum auch eine unterschiedliche anthropologische und kulturelle Relevanz zuordnen können.
Dieser Sachverhalt exemplifiziert sich beispielsweise schon deutlich innerhalb der sprachwissenschaftlichen Tempusforschung. Hier gibt es nämlich einen fundamentalen Streit darüber, ob die pragmatische Leistungskraft der einzelnen Tempusformen im Rahmen eines chronologisch orientierten Zeitkonzeptes zu analysieren sei, das strukturanalytisch zwischen einer Ereigniszeit, einer Sprechzeit und einer Betrachtungszeit unterscheidet, oder nach einem psychologisch orientierten Zeitkonzept, das sich primär für die unterschiedlichen pragmatischen Funktionen von Sachaussagen in einem konkreten Mitteilungsprozess interessiert. Obwohl natürlich jedes dieser beiden Analys...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 1 Der Problem- und Intentionszusammenhang
  6. 2 Der Stoßseufzer Augustins über die Zeit
  7. 3 Die Zeit als anthropologisches Problem
  8. 4 Die Zeit als semiotisches Problem
  9. 5 Spiegel und Sprache als Wahrnehmungsmedien
  10. 6 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
  11. 7 Die Substantivierung unserer Zeiterfahrung
  12. 8 Die Zeitmetaphorik
  13. 9 Die Zeitimplikationen anthropologischer Basisbegriffe
  14. 10 Die Zeitimplikationen des schriftlichen Sprachgebrauchs
  15. 11 Die grammatischen Objektivierungsformen für Zeit
  16. 12 Die Tempusformen als Objektivierungsformen für Zeit
  17. 13 Die Zeitimplikationen anderer Verbformen
  18. 14 Die Eigenwelt und Eigenzeit von Sätzen
  19. 15 Die Eigenwelt und Eigenzeit von Texten
  20. 16 Die Wahrnehmung von Zeit in Erzähltexten
  21. 17 Schlussbemerkungen
  22. Literaturverzeichnis
  23. Personenregister
  24. Sachregister