Der vergessene Soldat
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Verfügbar bis 7 Nov |Weitere Informationen

Der vergessene Soldat

Originaltitel "Le Soldat oublié", Übersetzung aus dem Französischen

  1. 464 Seiten
  2. German
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Der vergessene Soldat

Originaltitel "Le Soldat oublié", Übersetzung aus dem Französischen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ein Welterfolg (1967), neu im Helios-Verlag verlegt, das in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und über drei Millionen Mal verkauft wurde. "Ich werde versuchen den Abgrund der menschlichen Perversion angemessen zu beschreiben und das zum Ausdruck zu bringen, was ich mir niemals hätte vorstellen können, was mir unmöglich erschienen wäre, hätte ich es nicht erlebt …" Geboren im Elsass als Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter, war Sajer siebzehn Jahre alt, als er 1942 in den Mahlstrom des Zweiten Weltkrieges gezogen wurde. Er hat früher als andere die Sprache wiedergefunden und ein bis heute einzigartig fesselndes Dokument hinterlassen, das dem Grauen des Krieges und der Hilflosigkeit, mit welcher der einzelne Soldat seiner alles überrollenden Walze gegenübersteht, so nahe kommt wie es die einfache Aneinanderreihung von Worten nur zulässt. Scheint dem jungen Sajer zu Beginn alles noch wie ein großes Abenteuer, so holt ihn Hunger, Kälte, Angst und die entfesselte Gewalt des Krieges in Kursk, Charkow und Bjelgorod bald auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch dieser Krieg hat ihn schon ganz vereinnahmt und es gibt kein Zurück mehr. Das Blatt im Osten beginnt sich zu wenden, und die deutschen Soldaten in Russland treten einen zähen, harten und grausam umkämpften Rückzug an, der ihn über Rumänien und Polen bis nach Memel an der Ostsee führt, wo er das blutige Inferno des Untergangs erlebt. Am Ende bleibt das zutiefst Menschliche des großen Leids als etwas zurück, das größer und nachhallender ist als die Dokumentation der Zeit und des Krieges. Sajer bringt das aus seiner Erinnerung ans Licht, und wir wollen und können nicht wissen, welche unendliche Mühe ihn das gekostet haben mag. "Das Buch verdichtet Raum und Zeit zu einem einzigen pochenden Schmerz" (Time Magazine) "Niemand, der das Buch zu Ende liest, wird es je wieder vergessen" (New York Times) "Eine epische Geschichte, großartig erzählt." (Wall Street Journal)

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Information

Verlag
Helios
Jahr
2016
ISBN
9783869331584

Vierter Teil. Nach Westen

Winter 1943 – Sommer 1944

Zehntes Kapitel. »Gott mit uns«

Gewiss, es gab Offiziere und Soldaten, die uns leiteten und dabei nicht besonders freundlich waren. Aber am unangenehmsten war die Feldgendarmerie mit ihren vom Nebel feuchten Messingschildern, die auf der Brust ihrer Uniformen funkelten. Es gab keine Organisation, ohne dass diese Leute nicht irgendwo auftauchten. Aber es musste schließlich auch anständige Kerle unter ihnen geben, dachten wir. Wenn wir die Gendarmen von Romnij und die des Rückzugs vom Don mal außer Acht ließen, dann gab es doch keinen Grund, unsere Freude darüber zu trüben, dass wir wieder im Westen waren.
Wir marschierten in eine Richtung, die uns von den in einem verdreckten Kradgespann neben uns herfahrenden Männern vorgegeben wurde. Wir hatten nicht einmal Dreierreihen gebildet, man ließ uns marschieren wie wir wollten, wie Spaziergänger. Es war nett, dass man in diesem Moment keine Disziplin von uns verlangte. Die im Westen wussten, was wir durchgemacht hatten. Man ließ uns in Ruhe. Gott sei Dank, dachten wir, man war noch einmal davongekommen, jetzt würde alles gut werden. Das Kradgespann zwang uns schneller zu marschieren. Wir stolperten so ungefähr zwei Kilometer durch den Schlamm und kamen in ein großes Lager, wo wir diejenigen antrafen, die schon vor uns übergesetzt waren. Es war Nacht, und unaufhörlich fiel ein leichter Regen. Wir sahen Stacheldraht, der im Regen glänzte. Zwei Soldaten, die MP unter dem Arm, winkten uns hinein. Ohne Fragen zu stellen, gingen wir durch das behelfsmäßige Lagertor. Dann hieß es Halten. Das Kradgespann entfernte sich schnell, und wir blieben stehen, mitten in dem von Stacheldraht umgebenen Lager, ohne zu wissen, was wir davon halten sollten.
Ach was, dachten wir, das hatte nichts zu bedeuten, das war nur eine etwas allzu militärische Art uns zu empfangen, uns, die Überlebenden von Konotop. Wir müssten uns zweifellos gedulden und ein wenig warten, bevor man uns zu den guten, trockenen Baracken führen würde, wo wir uns würden erholen können. Vielleicht ließ man uns auch warten, weil man in der Zeit die Urlaubsscheine ausstellte … Dieser Gedanke hob unsere Stimmung. Wir vergaßen die Umgebung, den Matsch, den Regen und den Stacheldraht, der uns zu Gefangenen machte.
Es waren bald etwa zwei Stunden, die wir geduldig warteten. Eine weitere Gruppe, die nach uns übergesetzt war, stieß zu uns. Der Regen fiel nun heftiger und wir waren triefend nass. Nicht weit entfernt erkannten wir Baracken mit hermetisch verschlossenen Türen und Fenstern. In Gruppen zu zwanzig Mann wurden die Kameraden dorthin gebracht. Wir warteten weiter ab, denn wir waren uns ja sicher, dass dies unsere letzten schlimmen Augenblicke waren. Die Kameraden, die in die Baracken eingetreten waren, kamen nicht zurück. Bestimmt schliefen sie schon in weichen Betten, die Glücklichen!
Eine Stunde später war ich mit etwa zwanzig anderen an der Reihe. Darunter zwei Unteroffiziere und ein Leutnant. Wir betraten das Gebäude, das von einem Stromaggregat beleuchtet wurde. Wir waren ein wenig verdutzt und genierten uns, weil wir so verdreckt aussahen. Hinter großen Tischen bildeten Militärs aller Dienstgrade und Gendarmen ein beeindruckendes Tribunal. Dann ging ein Obergefreiter auf uns zu und brüllte uns wie in den guten alten Zeiten des Exerzierplatzes an, wir sollten uns gefälligst mit kompletter Ausrüstung bei der Leitstelle melden. Wir waren sprachlos über einen solchen Empfang, aber schon drängte man uns zu den Tischen, wo wir vorzeigen mussten, was uns die Wehrmacht anvertraut hatte.
»Zuerst die Papiere!«, befahl der Feldgendarm auf der anderen Seite des Tisches. Der Leutnant, der direkt vor mir stand, wurde ins Verhör genommen.
»Wo ist Ihre Einheit, Herr Leutnant?«
»Teilweise aufgelöst oder vernichtet, Herr Gendarm, wir haben harte Zeiten erlebt.«
Der Polizist antwortete nicht und sah die Papiere ein.
»Haben Sie Ihre Leute verlassen oder sind sie getötet worden?«
Der Leutnant zögerte. Wir waren wie versteinert.
»Stehe ich vor einem Militärgericht?« sagt der Leutnant gereizt.
»Sie müssen auf die Fragen antworten, Herr Leutnant. Wo ist Ihre Einheit?« Der Leutnant machte den Eindruck als sei er, ebenso wie wir, in eine Falle geraten.
Das waren Fragen, auf die wenige von uns eine klare Antwort geben konnten. Dann erklärte er die Lage. Aber es war zwecklos, mit einem Gendarmen zu diskutieren, denn es gab keine anständigen Kerle unter den Gendarmen, wie ich einen Augenblick lang angenommen hatte. Ihre Intelligenz reichte nicht über den Fragebogen hinaus, den sie ausfüllen mussten.
Noch dazu fehlten dem Leutnant eine Reihe Ausrüstungsgegenstände, und nur das fiel dem Polizisten auf. Da interessierte es nicht, dass der Mann, der sich durch wer weiß welches Wunder vor ihm noch aufrecht hielt, seit seiner Einberufung dreißig Pfund Gewicht verloren hatte. Wofür sich der Polizist interessierte, das war der fehlende Zeiss-Feldstecher, der zum Gepäck des Offiziers gehörte. Ihm fehlte auch die Kartentasche und die Fernsprechabteilung, die unter seinem Kommando gestanden hatte. Es fehlten viele Dinge bei diesem Mann, der tatsächlich nur sein Leben behalten hatte. Doch die Wehrmacht gab dem Soldaten kein Material, damit er es einfach so verlegte oder verlor, anstatt sich totschlagen zu lassen, um es zu retten.
Strafbataillon für den sorglosen Leutnant. Strafbataillon und Degradierung um drei Ränge. Und dabei konnte er sich noch glücklich schätzen.
Dem Mann verschlug es den Atem, sein Blick war verzweifelt. Er löste Angst oder Mitleid aus. Zwei Soldaten zogen ihn auf die rechte Seite, uu einer Gruppe gebrochener Männer, die wie er bei irgendeinem Strafbataillon würden antreten müssen.
Dann war ich an der Reihe. Ich war steif vor Angst. Aus meiner Innentasche holte ich meine aufgeweichten Papiere. Der Polizist sah sie an, dann warf er mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Angesichts meiner besorgten und gedemütigten Miene legte sich seine Bissigkeit ein wenig, und er setzt seine Bestandsaufnahme schweigend fort.
Ich hatte das große Glück, meine Einheit gefunden und das Stück weißen Papiers aufbewahrt zu haben, das bewies, dass ich aus dem Lazarett direkt zum Einsatz gekommen war. Mein Kopf drehte sich, und ich fürchtete ohnmächtig zu werden. Dann las der Gendarm eine Liste vor, auf der alles vermerkt war, was ein Soldat wie ich besitzen musste. Da ich die Worte schlecht verstand, legte ich nicht im rechten Augenblick vor, was noch in meinem Besitz war. Der Gendarm beschimpfte mich mit einem deutschen Ausdruck, den ich zum ersten Mal hörte. Am Ende fehlten mir vier Dinge, darunter die verdammte Gasmaske, die ich absichtlich zurückgelassen hatte.
Mein Soldbuch ging von Hand zu Hand, es bekam mehrere Stempel und ein Einlegeblatt. Dann hatte ich in meiner Panik einen völlig idiotischen Gedanken: In der Hoffnung, mich gut darzustellen, zog ich aus meiner Patronentasche neun nicht benutzte Patronen. Der Blick des Gendarmen fiel darauf wie der eines Bergsteigers auf einen günstigen Halt.
»Sie waren auf dem Rückzug?«, fragt er.
»Jawohl, Herr Feldwebel.«
»Und die haben Sie noch gehabt?«, fragte er und zeigte auf die Patronen.
»Jawohl, Herr Feldwebel.«
»Und warum haben Sie dann nicht versucht, sich zu verteidigen? Warum haben Sie keinen Widerstand geleistet?«, brüllte er.
»Ja, Herr Feldwebel …«, stotterte ich.
»Was ja?«
»Wir haben den Befehl zum Rückzug erhalten, Herr Feldwebel.«
»Verdammt noch mal«, brüllte er, »eine Armee, die davonläuft, ohne ihre Munition verschossen zu haben!«
Mein Soldbuch kam zurück in die Hände meines Peinigers. Einen Augenblick lang fummelte er hektisch daran herum, sein Blick ging von dem zerfledderten, schmutzigen Soldbuch auf mein Gesicht.
Ich folgte den Bewegungen seiner Lippen, über die womöglich gleich das Schlimmste kommen würde: Strafbataillon, also das Leben eines Gefangenen, vorgeschobene Posten, Minenräumen, kaum Urlaub und immerzu in Lagern, wo man das Wort Freiheit nicht kannte, keine Feldpost …
Ein starker Drang zu weinen überkam mich. Ich hatte Angst, die Tränen nicht zurückhalten zu können. Schließlich reichte mir die steife Hand des Gendarmen meine Papiere. Ich würde nicht in ein Strafbataillon gehen, aber die Aufregung war dennoch zu groß gewesen. Während ich meine Sachen zusammenraffte, schluchzte ich nervös und konnte nichts dagegen tun. Neben mir ließ sich ein Kamerad lautstark anschnauzen.
Die Leute, die noch hinter mir warteten, betrachteten mich niedergeschlagen. Wie ein begossener Pudel lief ich an der Tischreihe vorbei und ging durch die Tür gegenüber dem Eingang hinaus. Ich fühlte mich zutiefst beschämt.
Ich ging zu den Kameraden, die im anderen Teil des Lagers standen. Sie lagen nicht auf weichen Betten, wie wir vor dem Betreten der Baracke geglaubt hatten. Sie standen im Regen herum. Eine Enttäuschung mehr lastete auf ihren Schultern.
Doch trotz der Ohrfeige, die uns das dankbare Vaterland verpasst hatte, konnten wir uns glücklich schätzen, wie wir . drei Tage später erfuhren. Noch am Abend des Tages nach unserem Übergang über den Dnjepr, als noch sechs- oder siebentausend Mann aus der feindlichen Umklammerung zu retten waren, griff der Russe an. Zweifellos entmutigt, weil er Kiew nicht hatte zurückerobern können, wo die deutsche Armee einen fanatischen Kampf gegen einen zahlenmäßig überlegenen Feind führte, hatte er beschlossen, die von der Wehrmacht noch besetzten Brückenköpfe zu säubern. Vierundzwanzig Stunden nachdem wir den Fluss überquert hatten, sahen die im Osten zurückgebliebenen Kameraden plötzlich ihre provisorischen Lager vom matten Licht der Leuchtraketen erhellt.
Von den flachen Gräben, die sie in die Hügel am Ufer des Dnjepr gegraben hatten, sahen die Wachposten, die für die Illusion eines Schutzes sorgen sollten, die russische Infanterie anstürmen. Sie rannten an wie eine Flutwelle und brüllten dabei wie immer. Die unglücklichen Landser hatten schnell verstanden. Niemals würden sie eine solche Brandung aufhalten können. Für einen Augenblick herrschte verzweifelte Panik. Einige liefen einfach weg. Der ohrenbetäubende Lärm der sowjetischen Raketenwerfer übertönte unsere MG und leichten Mörser. Angetrieben von den Volkskommissaren rückten die Sowjets vor, koste es, was es wolle.
Das Blutbad war gewaltig. Jedes deutsche Geschoss schien sein Ziel zu erreichen. Dennoch rückte die rote Flutwelle unerbittlich vor. An der schlammigen Anlegestelle, von der aus wir übergesetzt waren, war die Panik in Wahnsinn umgeschlagen. Der ohnehin schon schwer beladene Lastkahn wurde von einer menschlichen Flut überschwemmt. Die wenigen, die einen kühlen Kopf bewahrten, riefen zu Ruhe auf, drohten und schossen manchmal, um sich Gehör zu verschaffen. Das schreckliche Getrampel ging jedoch weiter, und die Halteleinen des Kahns rissen. Schaukelnd unter dem Massenansturm, entfernte sich der Kahn einige Meter vom Ufer. Stiefel traten auf die Hände, die versuchten, sich am Rand festzuklammern. An der Anlegestelle schlugen sich die Kameraden. Einige, vor allem Offiziere, begingen Selbstmord. Der Kahn bewegte sich noch einige Meter, dann neigte er sich plötzlich, wie ein Spielzeug, auf die Seite zum Fluss hin. Lautes Geschrei erhob sich mitten im Lärm der nahen Schlacht. Zweihundert kopflose Menschen planschten im Wasser, klammerten sich aneinander, versuchten zu schwimmen. Viele von ihnen gingen unter und ertranken.
In diesem Moment tauchte der Iwan auf der Kuppe des Hügels auf, nachdem er die Verteidiger beiseite gefegt hatte. Für den auf dem Gipfel der Erregung befindlichen, im Rausch anstürmenden russischen Infanteristen war es wunderbar. Auf der Erde kniend und hemmungslos lachend schoss der Iwan wie auf dem Rummelplatz. Bleiche deutsche Soldaten rissen sich zusammen und feuerten mit ihren MG, doch das merkte der Iwan nicht einmal. Es waren so wenige Deutsche, die noch Gegenwehr leisteten. Mehrere Tausend liefen nur weg und starben schreiend. Selbst auf die Schwimmenden wurde geschossen. Die Leuchtraketen waren dabei eine wertvolle Hilfe, denn ohne sie hätte man nichts sehen können, weder die Ziele noch das Massaker.
Eine Stunde nach seinem Auftauchen auf der Kuppe des Hügels war der Iwan am Flussufer. Einige Schüsse hallten noch hier und da durch die Nacht, doch der Sieg war bereits vollkommen, und der Iwan hatte keine Lust mehr zu lachen. Ein Drittel der deutschen Soldaten würde das Massaker überleben und die Gefangenschaft kennenlernen. Für die zwei anderen Drittel war alles zu Ende. Sie waren von ihren Pflichten als Soldaten befreit. Die Feldgendarmerie würde ihnen nichts mehr vorwerfen können.
Ein wenig später kamen drei Lkw mit fast völlig verdunkelten Scheinwerfern, um uns abzuholen. Trotz der schlechten Straßenverhältnisse und der Überladung, welche die Seitenwände zu sprengen drohte, wurden fünfzig durchnässte Soldaten mitsamt ihrer Ausrüstung auf jedes Fahrzeug gepackt. Wir standen auf engstem Raum zusammengepfercht. Ich hatte ein Bein drinnen auf der Heckklappe, das andere war draußen. Einige hingen ganz außen am Laster und klammerten sich mit zusammengebissenen Zähnen fest. So fuhren wir in die ruhige Nacht. In welche Richtung? Ich hätte es nicht sagen können.
Eine Stunde später erreichten wir ein paar Gebäude. In schwachem, bläulichem Licht zeigte sich, dass dort hektische Betriebsamkeit herrschte. Tatsächlich war es eine ganze Reihe von Gebäuden. Sie standen in einer Linie, und zu beiden Seiten dieser Linie verliefen von Bäumen gesäumte Straßen, die von Fahrzeugen verstopft waren. Überall waren Soldaten. Einige Motorräder fuhren mit hohem Tempo vorbei. Es waren auch Offiziere und Feldgendarmen da. Die Lkw hielten abrupt, und alle mussten absteigen. Obwohl wir in dem Gefühl lebten, gerettet zu sein, hatten wir es satt herumzufahren. Wir waren völlig kaputt und wollten nur schlafen.
Bevor sich jemand um uns kümmerte, geduldeten wir uns noch einmal eine gute halbe Stunde. Es regnete unaufhörlich. Ob es jetzt wohl auch in Frankreich regnete? Zuhause, wo mein Bett stand? Die Erinnerungen daran waren nur noch undeutlich und blass, es waren Dinge, die ich hinter mir gelassen hatte. Es gab nur noch Russland auf der Welt. Russland, das uns in einer ungeheuren Anonymität umfasste, wo ganze Regimenter mitsamt ihren Namen verloren gingen.
Endlich kam ein Unteroffizier auf uns zu. Der für unseren Haufen Verantwortliche legte Papiere vor. Er las sie beim Schein einer absichtlich abgeblendeten Taschenlampe. Dann hieß es unsere Sachen einzusammeln und dem Unteroffizier zu folgen. Endlich traten wir unter ein Dach. Wir waren des Schutzes schon dermaßen entwöhnt, dass jeder es mit einem Interesse betrachtete, als handelte es sich um die Decke der Sixtinischen Kapelle.
»Ihr werdet später zu eurer Einheit in Marsch gesetzt«, schreit der Unteroffizier, der ein Gesicht macht, als hätte auch er die Nase voll. »Versucht euch während der Wartezeit hier auszuruhen.«
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Es gab in dem unbeleuchteten Raum nur einige Bänke und vier oder fünf Tische, die wir mit Hilfe einiger Taschenlampen entdeckten. Jeder streckte sich aus, wo er konnte. Kein Strand an der Côte d‘Azur kannte ein solches Gewühl, nicht einmal im August. Unsere schmerzenden Köpfe suchten eine Lehne, das Bein, der Hintern, die Stiefel eines Kameraden dienten als Kopfkissen. Aber was machte das schon, wenigstens regnete es hier nicht. Einige schnarchten schon, andere versuchten sich vorzustellen, sie seien irgendwo anders. Trotz des rauen Empfangs, den man uns bereitet hatte, hatten wir noch immer das Gefühl, dass alles besser, und das Leben uns wieder Chancen bieten würde. Jeder träumte von dem Urlaub, den wir wohl oder übel bekommen würden. Es war nur eine Frage der Geduld … Doch wie viele Minuten, Stunden, Monate an Geduld würden wir noch an den Tag legen müssen?
Ein Frontsoldat hatte keine Muße zu träumen. Der Schlafmangel, der sich in uns angesammelt hatte, schnürte uns die Schläfen zusammen. Wie Kranke am Rande einer Ohnmacht sanken wir in einen bleiernen Schlaf.
Als wir von Lärm geweckt wurden, war es heller Tag. Wir hatten auf jeden Fall lange geschlafen. Dann hieß uns ein langgezogener Pfeifton aufstehen und antreten. Wir waren schmutzig und zerknittert. Wenn der Führer uns so hätte sehen können, dann hätte er uns vielleicht nach Hause geschickt. Oder aber er hätte uns erschießen lassen. Der Unteroffizier, der zu uns gekommen war, sah uns ebenfalls erstaunt an. Auch er hatte sich wohl nie träumen lassen, die deutsche Armee in einem solchen Zustand zu sehen. Er redete etwas, wovon ich nicht viel mitbekam. Ich war noch nicht richtig wach und ließ sein Kauderwelsch mehr an mir vorbeirauschen, als dass ich zuhörte. Es ging darum, dass wir uns bereithalten sollten. Wir würden in Kürze zu unserer Einheit zurückgeführt werden.
In einer der Baracken gab es eine Waschanlage, aber es bestand kaum Aussicht hineinzukommen. Sie war dauernd belegt, und in diesem Rhythmus würden wir nicht vor dem Abend an der Reihe sein. Man zeigte uns große leere Benzinfässer, die mit Wasser gefüllt waren und uns als Waschbecken dienen konnten. Aber wir waren alle noch viel zu kaputt, um planschen zu gehen. Wie fern doch die Zeit der Kasernen war, wo keiner unter uns den kleinsten Fleck auf seiner Uniformbluse geduldet hätte! Vorbei die Theorie der unverzichtbaren Hygiene, hier beunruhigten uns größere Sorgen. Und dann herrschte an diesem Tag eine Eiseskälte. Niemand dachte daran, auch nur die Zeltplane abzulegen, die wir über die Schultern gehängt hatten.
Mir war sehr kalt. Ich hatte Schüttelfrost, und einmal mehr das Gefühl krank zu sein. Wir mussten hinaus, um in der Feldküche noch etwas zu essen zu bekommen. Unsere zerlumpte Horde stand jetzt in der Schlange, während der kalte, feuchte Wind die Nebelmassen über den Dnjepr schob. Zwei Köche schöpften mit großen Kellen heiße Suppe in unser schmutziges Essgeschirr, von dem stellenweise die Farbe abgeblättert war. Wir hatten auf den üblichen Ersatzkaffee gehofft, aber wir bekamen Suppe. Die Zeiten des Kaffees waren längst vorbei. Die Köche gaben die Elf-Uhr-Suppe im Voraus aus – Sonderregelung für uns Schiffbrüchige. Jeder nahm die Suppe gutgelaunt entgegen, und das kochend heiße Gemisch tat uns sehr gut.
Ein Hauptmann ging an unserer Truppe vorbei und blieb stehen. Offenbar suchte er unseren Gruppenführer. Dieser, ein Leutnant, stand auf und ging zu ihm hinüber.
»Kamerad«, sagte der Hauptmann, »ihr könnt euch hier säubern. Ich meine, ihr solltet die Gelegenheit nutzen.«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
Auf den Befehl unseres Gruppenführers gingen wir zu den Fässern, die unter der Dachkante einer der Baracken standen. Wir warfen einen nei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort des Autors
  6. Zum Geleit
  7. Prolog
  8. Erster Teil. Russland. Herbst 1942
  9. Zweiter Teil. Division Großdeutschland. Frühjahr und Sommer 1943
  10. Dritter Teil. Der Rückzug. Herbst 1943
  11. Vierter Teil. Nach dem Westen. Winter 1943 bis Sommer 1944
  12. Fünfter Teil. Das Ende. Herbst 1944 bis Frühjahr 1945
  13. Epilog. Die Heimkehr