Wie Google wirklich tickt
Im Elfenbeinturm
Die Googler
Die Menschen, die den heiklen Datenschatz angesammelt haben, wirken außerordentlich sympathisch. Die meisten GOOGLER, die man in der Deutschlandzentrale in Hamburg, im großen europäischen Forschungszentrum von GOOGLE in Zürich oder im GOOGLEPLEX, der Firmenzentrale im kalifornischen Mountain View trifft, sind offen und freundlich. Viele von ihnen sind jung und tragen schicke lässige Streetwear. Man hört isländischen Elektropop des Künstlerkollektivs Gus Gus oder coole Alternativrockbands wie die Killers und die Smashing Pumpkins. Anzüge tragen höchstens die Geschäftsleute, die GOOGLE besuchen. Krawatten sucht man vergeblich. »Sie behindern die Blutzufuhr zum Gehirn«, erklärt GOOGLEs Datenschutzfachmann Peter Fleischer. »Unser inoffzielles Motto lautet: Sei seriös auch ohne Anzug.«
Corin Anderson ist ein Paradebeispiel des typischen GOOGLERs. Seine langen Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, auf seinem weißen T-Shirt prangt ein GOOGLE-Schriftzug. Anderson ist einer der rund 8000 GOOGLER, die im GOOGLEPLEX arbeiten. Das sonnendurchflutete Büro, das er sich mit zwei Kollegen teilt, sieht aus, als hätte eine Rasselbande im Kinderzimmer Stofftiere, Knobelspiele und buntes Plastikspielzeug durcheinandergeworfen und wäre dann abgehauen, ohne aufzuräumen. Vor allem der Chaos Tower, ein Bausatz für aufwendige Murmelbahnen, hat es dem Software-Entwickler angetan. Sein Schreibtisch mit zwei Flachbildschirmen ist hinter dem immer aufs Neue wahnwitzig zusammengesteckten Glaskugelparcours versteckt.
Während des Studiums an der University of Washington hat Anderson an einem Toaster gearbeitet, der die menschliche Sprache versteht und Brotscheiben auf Befehl röstet. Viele GOOGLER beschäftigen sich neben der Arbeit mit ähnlich exzentrischen Themen. T.V. Raman, den sein Blindenhund Hubble durch den GOOGLEPLEX führt, arbeitet an Systemen für die Sprachsteuerung von Computern und bringt sich in seiner Freizeit Fremdsprachen bei. Mehr als ein Dutzend Idiome beherrscht der Mathematiker bereits. »Gerade lerne ich Mandarin«, sagt er in bestem Deutsch. Andy Rubin, der Manager hinter GOOGLEs Handy-Software ANDROID, war früher Robotik-Ingenieur. In seinem Haus im Silicon Valley schlägt statt einer Klingel ein selbst gebauter Roboterarm auf einen Gong. In Finnland hat GOOGLE Petri Kokko eingestellt, den früheren Eiskunstlauf-Europameister. Dylan Casey, einer der Produktmanager, die in Mountain View arbeiten, fuhr im Radrennteam von Lance Armstrong und nahm an den Olympischen Spielen in Sydney im Jahr 2000 teil. Sein Kollege Andrew Maxwell macht Schlagzeilen, weil er als Freizeit-Discjockey einer Radiostation das Silicon Valley vor allem mit Rockmusik aus Burma beschallt. Früher arbeitete der Projektmanager, der neun Sprachen spricht, als Filmvorführer in einem Kino.
Sie alle haben sich irgendwann dafür entschieden, ihre Kreativität und ihre Expertise für GOOGLE einzusetzen. Und das ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren des Unternehmens, glaubt Professor John Sullivan, der an der San Francisco State University Management lehrt und Untersuchungen zu GOOGLEs Personalpolitik veröffentlicht hat. »Das Geheimnis von GOOGLEs Wachstum ist das permanente Anwerben von außerordentlich talentierten Menschen.« Sullivan hat ausgerechnet, dass jeder 15. Mitarbeiter bei GOOGLE ein aktiver Rekrutierer ist. Bei anderen Firmen spielt das Anwerben von talentierten Mitarbeitern bei weitem nicht so eine bedeutende Rolle. In der Regel liegt das Verhältnis zwischen den Anwerbern in den Personalabteilungen und den übrigen Mitarbeitern bei 1:100. GOOGLE steckt mehr als die Hälfte des Budgets im Personalwesen in die Mitarbeitersuche. Das ist sehr viel mehr als bei anderen Unternehmen, aber Professor Sullivan hält das Geld für gut angelegt. Andere Firmen müssen viel dafür ausgeben, die eigenen Mitarbeiter weiterzubilden. GOOGLE kann sich das sparen, sagt er, »denn sie stellen Leute ein, die von sich aus ständig weiter lernen«.
Während man anderswo Innovationsoffensiven ausruft und Belegschaften mühsam für Weiterbildungsprogramme zu gewinnen sucht, werden bei GOOGLE gute Ideen am laufenden Band produziert, weil die Mitarbeiter gerne tüfteln, sich in Fachdiskussionen die Köpfe heißreden und ständig Lust haben, etwas Neues auszuprobieren. »Hat jemand eine neue Idee, ist die übliche Reaktion darauf enthusiastisches Interesse und ein gemeinsames Brainstorming. Firmenpolitik oder die Frage, wer für welchen Bereich eigentlich zuständig ist, spielen hier kaum eine Rolle«, berichtet Joe Beda. Der Software-Entwickler arbeitet für GOOGLE in Seattle und hat unter anderem GOOGLE TALK mitentwickelt. Der Programmcode, den GOOGLE über das gesamte Unternehmen hinweg benutzt, ist überall der gleiche, egal, ob er in Suchanwendungen zum Einsatz kommt oder in Software, um das riesige Rechnersystem zu verwalten. Wer das Team oder die Arbeitsgruppe wechselt, muss sich nicht lange einarbeiten. Und wer kleine Ergänzungsprogramme schreibt, kann das, solange er sich an die Standardvorgaben hält, tun, »ohne dass er dafür eine spezielle Erlaubnis braucht oder Formulare in dreifacher Ausführung ausfüllen muss«, erklärt Joe Beda.
Wenn die Software-Entwickler bei GOOGLE arbeiten, sitzen sie vor riesigen Bildschirmen, auf denen endlose weiße Codekolonnen vor schwarzem Hintergrund zu sehen sind. Scheinbar wahllos verändern sie hier ein paar Zeichen, tippen dort etwas ein, klicken mit der Maus und lehnen sich zurück, um zu beobachten, welche Auswirkungen ihre Änderung auf das System hat. Wie in dem gleichnamigen Film scheinen die Programmierer die »Matrix« zu durchschauen und mit Zauberhand zu manipulieren. Der Suchalgorithmus und alle anderen kleinen Bausteine, aus denen das Software-Imperium GOOGLE besteht, werden fortlaufend getestet und verbessert. Die übliche Vorgehensweise ist dabei, einfach etwas auszuprobieren und zu sehen, welche Auswirkungen das hat. Versuch und Irrtum – so lässt sich das wichtigste Prinzip von GOOGLEs Innovationsstrategie zusammenfassen.
Neben den Programmierern sind die Anzeigenverkäufer die zweite große Gruppe der GOOGLER. Ununterbrochen telefonieren sie oder schreiben Mails, um Kunden für GOOGLEs Online-Werbeprogramme zu gewinnen und zu erklären, wie sie funktionieren. Sie sind dafür verantwortlich, dass GOOGLE in Geld schwimmt.
Wann und wie GOOGLE-Mitarbeiter ihre Kernaufgaben erledigen, bleibt ihnen selbst überlassen. Ein Fünftel ihrer Arbeitszeit können und sollen sie aber an eigenen Projekten arbeiten. GOOGLE NEWS, GOOGLE MAIL und das Anzeigensystem ADSENSE sind aus derartigen Nebenprojekten hervorgegangen. Diese 20-Prozent-Regelung ist einer der Innovationsmotoren des Unternehmens – und damit eine Garantie dafür, dass GOOGLE auch in Zukunft erfolgreich bleibt. Als reiner Anbieter eines Suchdienstes mit angeschlossenem Kleinanzeigenprogramm wäre GOOGLE leicht austauschbar. Die nächste Internetsuchmaschine ist für Computernutzer im weltweiten Datennetz »nur einen Klick« entfernt. GOOGLEs Suchergebnisse sind zwar gut, aber prinzipiell können Internetnutzer auch mit anderen Suchmaschinen finden, was sie brauchen. Neue und aufregende Onlineprodukte wie die Spezialsuchdienste oder GOOGLE EARTH tragen dazu bei, dass GOOGLE auch dann einzigartig bleibt, wenn andere Unternehmen in Bereichen aufholen, in denen GOOGLE führend ist, etwa in der Suchtechnologie.
GOOGLE tut viel, damit diejenigen, die für den kontinuierlichen Strom an neuen Ideen verantwortlich sind, vergessen können, dass sie für ein börsennotiertes Unternehmen arbeiten. So ersetzt GOOGLE das eigene Firmenlogo im Internet an bestimmten Tagen durch neue Schriftzüge, die sogenannten DOODLES. Zu Leonardo da Vincis Geburtstag lächelt etwa die Mona Lisa aus dem Logo, am Schweizer Nationalfeiertag ziert es eine kleine rot-weiße Fahne. An den 125. Geburtstag des Bauhausgründers Walter Gropius im Mai 2008 erinnerte GOOGLE mit einem DOODLE aus bunten »Bauhäuschen«. Zum 1. April jeden Jahres bieten die Presse- und Karriereseiten des Unternehmens regelmäßig Platz für aberwitzige Zukunftsprojekte. Am 1. April 2004 fand man dort die Personalsuche für die angeblich 2007 geplante Mondbasis Copernikus. 35 Ingenieure, 27000 Computer, zwei Masseure und ein Sushi-Koch sollten dort untergebracht werden. 2008 verkündete man augenzwinkernd, zusammen mit dem Virgin-Gründer Richard Branson eine Kolonie auf dem Mars errichte...