1 Intros – Extros – Zentros
1. Introversion und Extroversion: Fakten und Mythen
»Wo ein Begeisterter steht, ist der Gipfel der Welt.«
Joseph von Eichendorff
»Just ’cause I don’t like something doesn’t mean it’s bad.«
Sophia Dembling
In diesem Abschnitt erfahren Sie, welche biologischen Unterschiede es zwischen Intros und Extros gibt – und wie diese sich auf die Persönlichkeit auswirken.
Der Neue
»Boah, was für ein Langweiler!«, denkt Ella, als sie ihren neuen Kollegen Ingo auf dem Neujahrsempfang mustert. »Warum geht der nicht mal auf die anderen zu? Steht da steif rum, wie bestellt und nicht abgeholt … Kann ja heiter werden. Aber, hey – wieso kommt der Chef zu ihm? Und die beiden scheinen sich ja bestens zu kennen, so wie die sich begrüßen …?«
Wer die Begriffe »introvertiert« und »extrovertiert« hört, verbindet mit ihnen bestimmte Eigenschaften. Oft schneidet »introvertiert« dabei schlechter ab: Intros wirken auf viele Extros – wie die Kollegin Ella im Beispiel oben – einzelgängerisch, durchsetzungsschwach oder einfach wie langweilige graue Mäuse. Extrovertierte dagegen verbinden viele Menschen bewusst oder unbewusst mit Eigenschaften wie Sozialkompetenz, Führungsstärke oder Herzlichkeit. In den letzten Jahren hat sich diese Wahrnehmung zum Glück zugunsten der Introvertierten verschoben. Doch umgekehrt ist zwar das »Hochjubeln« von Intro-Stärken ein schöner Ausgleich, hat aber ebenfalls Verzerrungen zur Folge. Wahr ist: Intros wie Extros haben ihre jeweils eigenen Stärken, die ihnen Erfolg, Durchsetzungskraft und gute soziale Beziehungen ermöglichen. Und sie haben auch ihre jeweils eigenen Hürden und Bedürfnisse, die sie (neben anderen Faktoren) zu den Persönlichkeiten machen, die sie sind.
Intros wie Extros haben besondere Stärken und Bedürfnisse, die ihnen Erfolg, Durchsetzungskraft und gute soziale Beziehungen ermöglichen.
Dieser Abschnitt soll Sie dabei unterstützen, Ihre persönlichen Eigenarten zu finden und zwischen introvertiert und extrovertiert zu unterscheiden. Direkt beobachten lässt sich eine solche Persönlichkeitsausprägung nicht. Aber es gibt zuverlässige Hinweise: Unterschiede im Gehirn, die messbar sind. Bestimmte Kombinationen von Eigenschaften, die beobachtbar sind.
Zunächst lernen Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen intro- und extrovertierten Persönlichkeiten kennen. Dann bekommen Sie einen Überblick über die Stärken und Hürden, die bei Intros und Extros überdurchschnittlich oft zu finden sind. Die gängigsten Klischees zum »kleinen Unterschied« sehen wir uns auf dieser Basis einmal näher an und klären das, was dahintersteckt. Und den Wahrheitsgehalt ebenso.
Bevor es losgeht, schätzen Sie sich bitte zunächst einmal selbst ein. Es geht dabei nur um Ihren Eindruck, nicht um Ihr Wissen! Am Ende des Kapitels können Sie dann diese Selbsteinschätzung mit dem vergleichen, was Sie in diesem Kapitel erfahren. Und natürlich können Sie auch andere Personen einschätzen, mit denen Sie zu tun haben.
Behalten Sie Ihre Einschätzung im Hinterkopf. Sie werden von diesem Kapitel am meisten profitieren, wenn Sie darauf zurückgreifen und das, was Sie gleich lesen, mit Ihrem ersten Eindruck abgleichen.
Kommen wir zu den Fakten: Gibt es konkret messbare Unterschiede zwischen Intros und Extros? Ja!
Intros und Extros: die biologischen Unterschiede
Introvertiert bedeutet wörtlich »nach innen gewandt«; extrovertiert heißt entsprechend »nach außen gewandt«. Als C. G. Jung 1921 die beiden Persönlichkeitsmerkmale erstmals beschrieb, konnte er noch nicht ahnen, dass sich die Unterschiede zwischen den beiden Typen einmal mit Bezug auf biologische Eigenschaften beschreiben lassen würden. Er ging davon aus, dass die psychische Energie bei Intros nach innen und bei Extros nach außen fließt. Intro- und extrovertiert werden heute nicht mehr als Gegensätze gesehen, die die Menschen in zwei Kategorien unterteilen. Vielmehr gelten die Merkmale als äußerste Punkte einer kontinuierlichen Skala. Jeder Mensch hat sowohl intro- als auch extrovertierte Eigenschaften, neigt aber meistens zu einer Ausprägung, wobei sich die meisten Menschen in einem gemäßigten mittleren Bereich befinden. Wer klar »in der Mitte« liegt, heißt in der Fachsprache übrigens ambi- oder zentrovertiert. Am Ende dieses Kapitels finden Sie zu den »Zentros« einen eigenen Abschnitt.
Bestimmte Faktoren können für leichte Verschiebungen von Intro- oder Extroversion sorgen. Schon C. G. Jung erwähnte, dass Menschen mit dem Alter ihre Position auf der Skala leicht verändern können. Die Grundtendenz bleibt aber überwiegend erhalten.
Das Intro-Extro-Kontinuum mit Gauß’scher Normalverteilung
Heute können wir viel genauer hinsehen und unterscheiden. Die Hinwendung nach innen oder nach außen, inklusive aller Stärken und Hürden, die Intros und Extros häufig an sich beobachten können, lassen sich auf messbare Unterschiede in unserer Schaltzentrale zurückführen: unserem Hirn.
In der nachfolgenden Übersicht habe ich die wesentlichen Unterschiede verknappt zusammengefasst. Wenn Ihnen die biologischen Details zu fade vorkommen, überspringen Sie einfach diese Passage – direkt im Anschluss gibt es eine Kurzversion und eine Super-Kurzversion, die die wichtigsten Aspekte auf den Punkt bringen.
Nach dem Studium solcher Fakten kann ich leichter akzeptieren, dass ich dieses Manuskript nach getanem Tagewerk nicht weniger als drei Mal auf unterschiedlichen Speichermedien aktualisiere. Ich finde es auch erträglich, dass ich so gut wie nie euphorisch bin. Es ist eben kein rauschartiges Hochgefühl, sondern Sicherheit, die ich als Intro schätze. Dafür kann ich mich an der Begeisterung extrovertierter Freunde und Kolleginnen umso mehr freuen – sie leuchten dann geradezu von innen heraus!
Falls Sie keine Lust hatten, sich durch all die unterschiedlichen Hirnareale und -windungen zu kämpfen, kommt hier die eingangs versprochene knackige Zusammenfassung: Wenn Sie diese lesen, kennen Sie die wichtigsten biologisch nachweisbaren Unterschiede zwischen Intros und Extros.
Der erste Unterschied: Empfindlichkeit für Reize
Die Wendung nach innen oder nach außen ist, wie wir heute wissen, ganz wörtlich zu verstehen: Im Vorderhirn introvertierter Menschen lässt sich eine höhere elektrische Aktivität als in Extro-Hirnen nachweisen – genau dort, wo Lernen, Entscheiden, Erinnern und Problemlösen angesiedelt sind, also die Auseinandersetzung mit inneren Vorgängen. Damit verbunden ist auch ein erhöhter Blutfluss. Extros reagieren weniger empfindlich als Intros auf Außenreize und brauchen wegen der Art ihres vegetativen Nervensystems im Vergleich weniger Ruhe. Sie verarbeiten Sinneseindrücke leichter als Intros.
Aus diesen neurobiologischen Faktoren leitet sich der erste große Unterschied zwischen Intros und Extros ab: Extrovertierte kommen mit Eindrücken der Außenwelt meistens gut klar – das heißt, mit allen Reizen, die sie mit ihren Sinnesorganen aufnehmen. Und mehr noch: Extros beziehen viel von ihrer Energie und auch ihrer Lebensqualität aus dem Austausch mit anderen Menschen und aus Impulsen der Außenwelt.
Verschiedene Strukturen im Gehirn sind die Ursache für den Unterschied zwischen Extros und Intros. Extros schätzen mehr als Intros verschiedene äußere Eindrücke, Intros schätzen mehr als Extros die intensive Auseinandersetzung mit inneren Vorgängen.
Extros mögen Aktivitäten und Initiative; viele Extros sind begeisterte Reisende und lieben Abwechslung. Sie treiben im Durchschnitt mehr Sport und haben mehr Kontakte und auch mehr Sexualpartner als Intros. Introvertierte dagegen sind bereits ohne Außeneindrücke mit Verarbeitungsprozessen beschäftigt und sind anders aktiv als ihre extrovertierten Zeitgenossen: Sie reflektieren. Auch ein nach außen hin scheinbar inaktiver Mensch kann auf diese Weise innerlich auf Hochtouren laufen. Die Folge dieses Unterschiedes: Introvertierte sind leichter überstimuliert als Extrovertierte.
Intros schätzen und brauchen ruhige Phasen für sich – in einem ganz wörtlichen Sinn: nicht zu laut, nicht zu hell, möglichst ohne, höchstens mit sehr wenigen Menschen. Sie beziehen aus reizarmen Zeiten ohne Gesellschaft ihre Energie. Dies kann nach belastenden Phasen auch Extros so gehen. Intros aber sind grundsätzlich auf das »Akkuaufladen« in Ruhe angewiesen.
Ein besonderes Thema ist in diesem Zusammenhang die Hochsensibilität: Auch Hochsensible sind leicht überstimuliert – und obwohl die Mehrzahl unter ihnen Intros sind, geht die amerikanische Psychologin Elaine Aron von 30 Prozent hochsensiblen Extros aus (Aron 2005). Da der neuronale Unterschied nicht ganz klar ist, verzichte ich auf eine Behandlung des Themas. Was wir festhalten können, ist: Überstimulation kann für Introvertierte und für Hochsensible zum Problem werden.
Der zweite Unterschied: Risiko und Sicherheit
Auch die zweite große Differenz zwischen Intros und Extros lässt sich auf neurobiologisch nachmessbare Unterschiede zurückführen.
In Intro- und Extro-Hirnen sind unterschiedliche Teile des neuronalen Gefühlszentrums aktiv. Intros haben ein empfindlicheres Angstzentrum, während Extros stärker auf die Aussicht auf Belohnung reagieren. Zusätzlich unterscheiden sich die Konzentrationen verschiedener Botenstoffe. Introvertierte verfügen über einen höheren Pegel an Acetylcholin, das für Konzentration, Gedächtnis, Lernen und Abwägen zuständig ist. Extrovertierte dagegen haben im Vergleich einen höheren Pegel an Dopamin in ihren Hirnen. Dieser Neurotransmitter fördert Bewegung, aber auch Neugier, die Suche nach Abwechslung sowie das Streben nach Belohnung und lustvollen Aktivitäten.
»Safety first!« oder »No risk – no fun!« – Intros und Extros bevorzugen mit ihrer biologischen Ausstattung be...