Das Licht, das keinen Schatten wirft
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Das Licht, das keinen Schatten wirft

Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Tenzin Palmo

  1. 256 Seiten
  2. German
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Das Licht, das keinen Schatten wirft

Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Tenzin Palmo

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Über dieses Buch

Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Tenzin PalmoDie Lebensgeschichte einer der ungewöhnlichsten und mutigsten Frauen unserer Zeit: Wie die Tochter eines Fischhändlers aus dem Londoner East End zu einer buddhistischen Legende wurde und zur Vorkämpferin für das Recht der Frauen, spirituelle Erleuchtung zu erlangen.Tenzin Palmo ist gerade 20, als sie London verlässt alles zurücklässt und ein Schiff nach Indien besteigt. Als eine der ersten westlichen Frauen zur buddhistischen Nonne ordiniert, erkämpft sie sich – als einzige Frau unter hundert Mönchen – das Recht, an den eigentlich nur den Männern vorbehaltenen Unterweisungen und Meditationen teilzunehmen.Sie ist, allen Widerständen zum Trotz, entschlossen, auch als Frau Erleuchtung zu erlangen. Und sie wählt einen Weg, den selbst Männer kaum wagen: Sie zieht sich zurück in die Einsamkeit einer abgelegenen Höhle, 4000 Meter hoch im Himalaya, extremer Kälte, den Angriffen wilder Tiere und der Gefahr des Verhungerns ausgesetzt. Nach zwölf Jahren kehrt Tenzin Palmo zurück in die Welt, um von nun an vor allem anderen Frauen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und ihnen zu ihren spirituellen Rechten zu verhelfen.

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Information

I

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DIE BEGEGNUNG

Rückblickend erscheint es mir recht merkwürdig, dass unsere erste Begegnung gerade an diesem Ort stattfand. Pomaia, ein in die herrliche toskanische Hügellandschaft eingebettetes Städtchen, ist etwa eine Autostunde von Pisa entfernt. Es war Hochsommer, später Nachmittag und die Luft von trockener Hitze und dem würzigen Duft von Piniennadeln erfüllt. Das einst herrschaftliche Landhaus mit seinen ockerfarbenen Mauern, hohen Rundbögen, Türmchen und Zinnen schimmerte in der flirrenden Augustsonne, und nur die Zikaden durchbrachen die Stille der Siesta. In ein paar Stunden würde es Abend sein und der etwas weiter unten gelegene Ort zum Leben erwachen. Die kleinen Läden mit ihrem seltsamen Warengemisch von Salamis, Keksen und Sandalen würden öffnen und die alten Männer sich auf der Piazza versammeln, um über die Angelegenheiten des Städtchens und die Affären der Kommunistischen Partei zu debattieren. Die schier überbordende Üppigkeit Italiens, wo sich alle Dinge zu verschwören scheinen, um den Sinnen Freude und Genuss zu bereiten, hätte in keinem schärferen Kontrast zu der Welt stehen können, aus der sie gekommen war.
Als ich sie zum ersten Mal sah, stand sie auf dem Gelände des Landhauses im Schatten einer Baumgruppe – eine etwas zerbrechlich wirkende Frau mittleren Alters mit heller Haut und gebeugtem Rücken. Sie war in die kastanienbraune und goldfarbene Robe einer ordinierten buddhistischen Nonne gehüllt und trug das Haar nach traditioneller Art kurz geschnitten. Eine Gruppe von Frauen hatte sich um sie versammelt, und man konnte auf den ersten Blick sehen, dass sie in intimer Atmosphäre eine angeregte Unterhaltung führten. Eine einnehmende Szene, aber nicht besonders ungewöhnlich für einen einmonatigen buddhistischen Meditationskurs.
Wir, etwa fünfzig Personen, waren aus aller Welt zusammengekommen, um an diesem Kurs teilzunehmen. Solche Ereignisse waren ein fester und willkommener Bestandteil meines Lebens geworden, seit ich 1976 in Nepal auf die Lamas gestoßen war und den Reichtum ihrer Botschaft entdeckt hatte. Lebhafte Diskussionen, so wie jene, deren Zeugin ich gerade wurde, boten eine angenehme Unterbrechung der langen Stunden, die man im Schneider- oder Lotossitz sitzend verbrachte, um den Worten Buddhas zu lauschen oder sich im mühsamen Geschäft der Meditation zu versuchen.
Als wir später unser Abendessen unter dem Sternenhimmel einnahmen und ich das Olivenöl mit großen Brotbrocken vom Teller aufwischte, lenkte mein Sitznachbar meine Aufmerksamkeit erneut auf die Frau. Sie saß von Leuten umringt am Tisch und unterhielt sich voller Enthusiasmus mit ihnen.
«Das ist Tenzin Palmo, die Engländerin, die zwölf Jahre in einer Höhle, über 4000 Meter hoch im Himalaya gelegen, in Meditation verbrachte. Sie war fast die ganze Zeit völlig allein. Sie ist gerade erst herausgekommen», erzählte er.
Nun blickte ich mehr als nur beiläufig zu ihr hinüber.
Ich hatte von solchen Persönlichkeiten gelesen – von den großen Yogis in Tibet, Indien und China, die allen weltlichen Komfort aufgaben, um sich in irgendeine abgelegene Höhle zurückzuziehen und sich jahrelang in tiefe Meditation zu versenken. Es waren spirituelle Virtuosen und ihr Weg der härteste und einsamste von allen. Ganz allein, so hatte ich erfahren, und nur in eine einfache Robe oder ein Lendentuch gehüllt, setzten sie sich den grimmigsten Elementen aus – heftig tobenden Stürmen, Schnee und Eiseskälte. Ihre Körper waren schrecklich ausgemergelt, ihr verfilztes Haar hing bis zur Hüfte herab. Sie sahen sich mit wilden Tieren konfrontiert und mit Räuberbanden, die sie ohne jede Achtung vor ihrem spirituellen Bestreben zusammenschlugen und blutüberströmt, dem Tode nahe, liegen ließen. Aber das alles war nichts im Vergleich zu den Abenteuern, die ihr Geist zu bestehen hatte. Vom normalen Leben abgeschnitten, erhoben sich nun all die dicht unter der Oberfläche lauernden Dämonen und verhöhnten und verspotteten sie. Der Zorn, die Paranoia, die Sehnsüchte und die sinnliche Begierde – diese vor allem. All dies musste überwunden werden, und sie hielten durch. Sie strebten den Preis aller Preise an: die Erleuchtung – einen Geist, der so weit geöffnet ist, dass er die kosmische Wirklichkeit zu umfassen vermag. Einen Bewusstseinszustand, in dem sich das offenbart, was nicht zu erkennen und zu verstehen ist. Allwissenheit, nichts weniger. Begleitet von höchster Glückseligkeit und einem unvorstellbaren Frieden. Die höchste Stufe, die ein Mensch zu erreichen imstande ist.
So hatte ich es gelesen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einer solchen Person leibhaftig begegnen würde. Doch hier, mitten in Italien, saß eine derartige, wie es schien, den Mythen und Legenden entsprungene Gestalt so zwanglos unter uns, als sei sie gerade aus einem Bus gestiegen oder von einem Einkaufsbummel zurückgekehrt. Hinzu kam, dass sie nicht, wie es sonst in den Berichten der Fall war, ein Yogi aus dem Osten, sondern westlicher Herkunft war. Und, noch erstaunlicher, es handelte sich um eine Frau.
Unzählige Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Was hatte eine moderne Engländerin dazu getrieben, wie ein Höhlenmensch in einem dunklen, feuchten Loch hoch in den Bergen zu leben? Wie hatte sie in der extremen Kälte überlebt? Wie kam sie zu ihrer Nahrung, zu einem Bad, einem Bett, einem Telefon? Wie konnte sie all die Jahre ohne die Wärme menschlicher Gesellschaft existieren? Was hatte sie dabei gewonnen? Und, besonders seltsam, wie konnte aus dieser exzessiven Stille und Einsamkeit eine Frau, redselig wie auf einer Cocktailparty, hervorgehen?
Meinem Anfall von Neugier folgten jedoch rasch rückhaltlose Bewunderung und ein wenig Ehrfurcht. Diese Frau hatte sich auf ein Gelände vorgewagt, das ich nie betreten würde. Anders als bei mir hatte sie ihr Wissensdurst über die sicheren Grenzen eines vierwöchigen Meditationskurses, dessen Beendigungsklausel eine rasche Rückkehr ins normale Leben garantierte, hinausgetrieben. Wie ich aus eigener, erbärmlich geringer Erfahrung wusste, bedeutete ein Retreat harte Arbeit, zu der tagaus, tagein die endlose Wiederholung derselben Gebete, Mantras, Visualisierungen und Meditationen gehörte. Man saß immer auf demselben Kissen an der gleichen Stelle, sah dieselben Menschen am gleichen Ort. Die Langeweile war für jemanden, der der modernen Lebensweise mit ihrer fortwährenden Stimulierung und ihrem raschen Wechsel verhaftet war, unerträglich. Nur der winzigste Gewahrseinsschimmer und das ungewohnte Gefühl von tiefer Ruhe und Gelassenheit machten es die Sache wert. Letztlich war ein Retreat ein Test der Ausdauer, des Mutes und des Glaubens an das Endziel.
Am nächsten Tag sah ich sie wieder. Dieses Mal saß sie allein im Garten, und ich ergriff die Gelegenheit, sie anzusprechen. Ob sie etwas dagegen habe, wenn ich mich ein Weilchen zu ihr setzte? Ein breites, einladendes Lächeln war die Antwort, und ein Paar durchdringende blaue Augen blickte stetig in die meinen. In ihnen waren Ruhe und Gelassenheit, Freundlichkeit und auch Lachen, aber das hervorstechendste Merkmal war ihr Leuchten. Die Frau strahlte förmlich Licht aus. In der Tat war sie eine überaus interessant aussehende Person. Sie hatte scharfe Gesichtszüge, eine lange, spitze Nase und kleine, hübsche Ohren. Vielleicht lag es an ihrem kurz geschnittenen Haar und dem fehlenden Make-up, dass sie sehr androgyn wirkte, so, als würde sie in ihrem Innern ein sensibles männliches Wesen beherbergen.
Wir begannen zu plaudern. Sie erzählte, dass sie derzeit in Assisi wohnte, im Gartenhäuschen von Freunden, und dass sie das ungemein genoss. Sie war dorthin gerufen worden, als ihre Zeit in der Höhle zu Ende war. Der Ort bot sich geradezu an. Ich erfuhr, dass sie, mit gerade mal 21, schon 1964 ordiniert worden war, lange bevor die meisten von uns überhaupt von der Existenz des tibetischen Buddhismus wussten. Das machte sie, schätzte ich, zur dienstältesten tibetisch-buddhistischen Nonne in der westlichen Welt. Doch 30 Jahre zölibatäres Leben waren eine lange Zeit. Hatte sie währenddessen nie den Wunsch nach einem Partner, einer Ehe oder nach Kindern verspürt?
«Das wäre eine Katastrophe gewesen. Das war überhaupt nicht mein Weg», erwiderte sie, warf den Kopf zurück und lachte. Nach zwölf Jahren Leben in einer Höhle hätte ich eine solche Lebhaftigkeit nicht erwartet.
Was sie in diese Höhle geführt habe, fragte ich.
«Mein Leben war wie ein Fluss, es verlief ständig in einer Richtung», gab sie zur Antwort und fügte nach einer Pause hinzu: «Der Sinn des Lebens ist die Erkenntnis und Verwirklichung unserer spirituellen Natur. Und dazu musst du weggehen und praktizieren, damit du die Früchte des Weges ernten kannst, sonst hast du anderen nichts zu geben.»
Hatte ihr denn gar nichts gefehlt?
«Mein Lama fehlte mir, sonst nichts. Ich war dort sehr glücklich und hatte alles, was ich wollte», sagte sie still.
Aber war der Rückzug in die Höhle nicht eine Flucht, wich sie damit nicht den Prüfungen, Schicksalsschlägen und Strapazen eines «normalen» Lebens aus? Ich brachte damit vor, was wir, die wir zutiefst mit irdischen Angelegenheiten befasst sind, Einsiedlern am häufigsten entgegenhalten.
«Überhaupt nicht. Für mich ist das weltliche Leben eine Flucht», kam blitzschnell die Antwort. «Wenn du ein Problem hast, kannst du den Fernseher einschalten, eine Freundin anrufen, einen Kaffee trinken gehen. In einer Höhle jedoch kannst du dich an niemanden wenden außer an dich selbst. Wenn Probleme auftauchen und es schwierig wird, hast du keine andere Wahl, als da durchzugehen und auf der anderen Seite wieder herauszukommen. In einer Höhle bist du mit deiner Natur im Rohzustand konfrontiert, du musst einen Weg finden, um mit ihr zu arbeiten und umzugehen.»
Es war eine denkwürdige Begegnung. Tenzin Palmo war, wie ich schon aus der Ferne beobachtet hatte, bemerkenswert offen und umgänglich. Sie war auch sehr gesprächig, überaus eloquent und verfügte über einen scharfen, durchdringenden Verstand. Und sie legte eine Nüchternheit und Sachlichkeit an den Tag, die jede klischeehafte Vorstellung von einer «abgehobenen Meditierenden» sofort zunichte machte. Doch hinter all der Lebhaftigkeit war eine tiefe Stille, eine ungeheure innere Ruhe, zu spüren, so, als könne sie nichts, aber auch gar nichts erschüttern. Zweifellos eine Frau von Format, entschied ich. Der Kurs ging zu Ende, und ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen würden. Ein paar Monate später entdeckte ich in einer buddhistischen Zeitschrift ein Interview mit ihr. Und darin stand folgender Satz:
«Ich habe das Gelübde abgelegt, in weiblicher Gestalt die Erleuchtung zu erlangen – ganz gleich, wie viele Leben es dauert.»
Ich hielt inne. Die Worte elektrisierten mich, denn was Tenzin Palmo da so beiläufig, ja fast wegwerfend gesagt hatte, war nichts weniger als revolutionär. Sie hatte versprochen, ein weiblicher Buddha zu werden, und weibliche Buddhas (so wie auch weibliche Christusse und weibliche Mohammeds) waren entschieden dünn gesät. Gewiss hatte es in allen Teilen der Welt eine Menge äußerst angesehene Mystikerinnen und weibliche Heilige gegeben, doch was die höchste Blüte menschlicher Göttlichkeit anging, so wurde sie zumindest in den letzten paar tausend Jahren als ausschließlich männliche Domäne erachtet. Aus irgendeinem Grund galt der weibliche Körper als ungeeignetes oder unwürdiges Gefäß für die Beherbergung des Allerheiligsten. Nun verkündete Tenzin Palmo öffentlich, dass sie beabsichtige, das alles über den Haufen zu werfen. Es war eine kühne, mutige Aussage. Sogar eine verwegene. Eine, die, würde sie nicht von Tenzin Palmo mit ihrer nachweislich außergewöhnlichen Meditationsfähigkeit und Hartnäckigkeit stammen, als herausfordernde Behauptung oder gar als Wunschdenken hätte abgetan werden können. Es war durchaus möglich, dass sie es schaffte. Und wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten oder übernächsten.
Auf so etwas hatte ich seit Jahren gewartet. Schon als ich begonnen hatte, mich mit dem Buddhismus zu beschäftigen, war mir erzählt worden, dass wir alle, Männer wie Frauen, das Samenkorn der vollen Erweckung in uns tragen. Es war unser Geburtsrecht, unser natürliches Erbe, erklärten die Lamas von ihren hohen, brokatbezogenen Thronen herab. Die Buddhaschaft schimmerte in unserem Innern wie eine überaus kostbare Perle, und wir brauchten sie nur freizulegen. Es lag allein in unserer Verantwortung. Was für eine viel versprechende Philosophie für eine unabhängige Frau, die ihren eigenen Weg ging! Es brauchte Leben des Fleißes, der Anstrengung und Bemühung, so sagten die Lamas weiterhin, aber wenn wir uns auf diese Reise begaben, würden wir schließlich den herrlichen Preis erringen.
So lautete zumindest die Theorie. In der Praxis jedoch waren die Beispiele solcher weiblicher Spiritualität äußerst rar. Ja, es gab weibliche Buddhas auf Bildern und in Form von Statuen zuhauf – zu Ehren des Ideals weiblicher Göttlichkeit in all seinen wunderbaren Ausprägungen. Man konnte diese der Verehrung und Anbetung würdigen Objekte überall an Tempelwänden und in Klostergärten finden. Manche waren schön anzusehen, manche friedlich, andere machtvoll oder überaus erotisch. Aber wo waren die lebenden Vorbilder? Wohin ich auch blickte, nirgends konnte ich Anzeichen dafür entdecken, dass Frauen irgendwo für höhere spirituelle Positionen auch nur in Betracht gezogen wurden. Die uns unterrichtenden Lamas waren männlich; die Dalai Lamas (alle vierzehn) waren männlich; die machtvollen Linienhalter, die das Gewicht der gesamten Tradition trugen, waren männlich; die hochverehrten Tulkus, die anerkannten reinkarnierten Lamas, waren männlich; die riesigen Mönchsversammlungen, die die Tempelhallen und Lehrsäle füllten, waren männlich; die Gurus, die nacheinander in den Westen kamen, um neue Sucher zu inspirieren, waren männlich. Wo blieben die Frauen? Gerechterweise muss gesagt werden, dass nicht nur der tibetische Buddhismus so testosteronlastig war, sondern auch der Buddhismus in Japan, Thailand, Sri Lanka und Burma – praktisch in allen Ländern des Fernen Ostens, vielleicht mit Ausnahme von Taiwan. (Und meine eigene Religion, das Christentum, war in ihrem Beharren auf einem männlichen Gott und ihrer Angst vor weiblichen Priestern nicht besser.) Wo waren die weiblichen Gurus, denen wir Frauen nacheifern konnten? Wie sah eine weibliche Spiritualität überhaupt aus? Wir hatten keine Ahnung, Tatsache war, dass es trotz dem Versprechen des Buddha, dass wir alle die spirituelle Leiter zur Erleuchtung erklimmen können, keine Beweise dafür gab, dass Frauen auch wirklich dazu in der Lage waren. Für die weiblichen Praktizierenden, die zu Füßen der Lamas saßen und dem Weg ernsthaft zu folgen versuchten, war dies, gelinde gesagt, entmutigend.
Wir bedurften dringend der Hoffnung, dass das Unmögliche möglich werden konnte. Wir Frauen brauchten Meisterinnen, die uns den Weg wiesen. Es war an der Zeit. Das 20. Jahrhundert hatte die stetig voranschreitende Emanzipation der Frau in allen Lebensbereichen gebracht – mit Ausnahme der Religion. Jetzt, kurz vor Anbruch des neuen Jahrtausends, hatte es den Anschein, dass auch die letzte Woge der weiblichen Emanzipation ihren Anfang nahm. Wenn es tatsächlich so war, dann würde sie auch die gewaltigste Woge sein. Ein weiblicher Buddha, ein allwissendes Wesen, war sicherlich die letzte und höchste Stufe der Frauenbefreiung. Schon die Leistung Tenzin Palmos, zwölf Jahre der Meditation in einer Höhle im Himalaya durchgehalten zu haben, bedeutete einen Vorstoß in den Bereich universellen Bestrebens.
Ich beschloss, sie wieder aufzusuchen. Es gab noch so viel in Erfahrung zu bringen. Wer genau war sie, woher war sie gekommen, was hatte sie in der Höhle gelernt, was hatte sie zu ihrem Gelübde veranlasst – und hatte sie etwas dagegen, der Gegenstand eines Buches zu sein? Zögernd, sehr zögernd willigte sie ein, und auch nur deshalb, weil das Buch andere Frauen inspirieren und der Unterstützung ihres Projekts zur Förderung von Frauen, die Erleuchtung erlangen wollen, dienen konnte. So machte ich sie also im Verlauf des folgenden Jahres immer wieder ausfindig, in Singapur, London, Seattle, Kalifornien und Indien, wo sie ein völlig anderes Leben führte, und fügte nach und nach die einzelnen Elemente ihres außergewöhnlichen und, wie manche sagen würden, unnatürlichen Lebens zusammen. Ich sprach mit Menschen, die sie kannten, und besuchte Orte, die für ihr Leben von Bedeutung gewesen waren. Unter großen Mühen fand ich sogar ihre Höhle und bewunderte, nachdem ich in der dünnen Luft hinaufgeklettert und ihre ehemalige Bleibe persönlich in Augenschein genommen hatte, ihre Leistung nur noch mehr.
Dies nun ist Tenzin Palmos Geschichte – die Schilderung des Weges einer Frau auf der Suche nach Vollkommenheit.

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DER FALSCHE ORT

Die Kluft zwischen der Welt, aus der Tenzin Palmo kam, und jener, in der sie sich später wieder finden sollte, hätte nicht tiefer sein können.
Sie wurde in einem Herrenhaus geboren, in Woolmers Park in Hertfordshire, und zwar in der Bibliothek, um genau zu sein. Nicht, weil blaues Blut in ihren Adern floss, weit gefehlt, sondern weil Hitlers Luftwaffe an diesem Tag, dem 30. Juni 1943, London bombardierte und die Entbindungskliniken der Hauptstadt evakuiert und in die relativ sicheren umliegenden Grafschaften verlegt worden waren. Irgendetwas musste bei der Vorausberechnung ihres Geburtstermins schrecklich schief gelaufen sein, denn obwohl sie technisch gesehen überfällig war und die Geburt eingeleitet wurde, kam sie ohne Wimpern, Fingernägel und Haare zur Welt und sah ziemlich hässlich aus, wie selbst ihre Mutter einräumte. Doch diese war, des schrumpligen und wenig einnehmenden Äußeren ihres Babys ungeachtet, von romantischen Hoffnungen für ihre Tochter erfüllt und gab ihr den Namen Diane, nach einem damals beliebten französischen Song, der ihre Fantasie angeregt hatte. Sie bestand jedoch auf der französischen Aussprache, woraus dann im Englischen «Dionne» wurde. Und diesen Namen trug ihre Tochter bis zu ihrer Ordination zur buddhistischen Nonne ein...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. 1 Die Begegnung
  7. 2 Der falsche Ort
  8. 3 Erwachen – den Weg finden
  9. 4 Der erste Schritt
  10. 5 Der Guru
  11. 6 Angst vor dem Weiblichen
  12. 7 Lahoul
  13. 8 Die Höhle
  14. 9 Den Tod vor Augen
  15. 10 Yogini
  16. 11 Die Art der Frauen
  17. 12 Abschied von der Höhle
  18. 13 Die Vision
  19. 14 Die Lehrerin
  20. 15 Herausforderungen
  21. 16 Ist der Rückzug in eine Höhle nötig?
  22. 17 Die Gegenwart
  23. Dank
  24. Literaturhinweise