Innovation
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Innovation

Streitschrift für barrierefreies Denken

  1. 224 Seiten
  2. German
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Streitschrift für barrierefreies Denken

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Allerorten werden die innovativen Kräfte in Wirtschaft, Technik, Politik und Gesellschaft beschworen - es herrscht eine regelrechte lnnovationsinflation. Wolf Lotter, Mitbegründer und ständiger Autor des Wirtschaftsmagazins "brand eins", fordert in seinem Essay einen Kulturwandel: weg von den Routinen der Erneuerung, hin zu einem barrierefreien Denken.Innovation bedeutet für Lotter die Bereitschaft zu beständiger Infragestellung und zum Experiment, Das heißt, die Forderung nach Interdisziplinarität und Kreativität ernst zu nehmen. Und es heißt auch, den Mut zu Irrtum und Irrweg zu haben und das Feld der Innovation nicht nur den Jungen zu überlassen. "Innovatoren sind Unternehmer", schreibt Lotter. "Ihre Arbeit braucht Begeisterung, Ausdauer, Nüchternheit, Know-how, Leidenschaft, Pragmatismus, von allem reichlich."

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IV. Die Innovationsgesellschaft

Am Schluss ein Anfang

Die Berliner Unternehmerin Catharina Bruns glaubt, dass diejenigen die Welt verändern, die sich selbst kennen: »Um die Innovationskultur in Deutschland zu verändern, ist eines am wichtigsten: mehr selbst machen. Der Einzelne ist gefragt. Innovation und Erneuerungsprozesse dürfen nicht mehr auf die alten Eliten konzentriert bleiben, die bestimmen, was auf den Tisch kommt«, sagt sie.71 Dazu braucht man das »Entrepreneurship der Bürger«, was sie schlicht mit »Engagement« übersetzt. Und weniger Angst, nicht nur davor, Fehler zu machen, sondern auch vor »Selbstständigkeit und Kritik«, daran, so Bruns, müsse sich eine »fortschrittliche Gesellschaft messen lassen. Der Anfang aller Innovation ist selbstständiges Denken. Selbstständigkeit und Entrepreneurship, Selbermachen, sind die eigentlichen Zukunftskompetenzen.« Dazu bräuchte es keine großen Studien außer die der Wirklichkeit: »Innovationen bewähren sich im Praxisbezug.« All das könne beginnen, wenn statt »Folgebereitschaft, Unterordnung und Routine« das Eigene, das Selbst nach vorne rückt. »Sonst gibt es zwar viel ›Change-Management‹, aber wenig Neues«, sagt Bruns.
Die technische Innovation folgt also der kulturellen und sozialen Innovation. Es geht um das Verständnis von Ich und Wir, von Selbermachen und Mitlaufen. Innovation ist dort, wo wir anfangen, die Welt nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Innovation ist immer an die Person gebunden, die sich auf sie einlässt. Das ist die große Transformation. Wir befinden uns mittendrin.
Die scheinbaren Lebensgewissheiten der Industriegesellschaft mit ihrer Vollbeschäftigung und der lebenslangen Moderation durch einen fürsorglichen Staat lösen sich auf. Die Menschen werden, ob sie wollen oder nicht, selbstständiger werden. Wir werden lernen, mit Fehlern und Neuanfängen umzugehen, mit wechselnden Rahmenbedingungen und einer komplexeren Welt. Wir lernen zu entscheiden. Und wir lernen, nicht aufzuhören mit dem kritischen Nachfragen, ob das, was wir tun und haben, nicht nur besser, sondern auch ganz anders ginge. Für viele sind es irritierende Zeiten, weil es kein neues Werkzeug gibt, keinen neuen Plan, kein Evangelium. Es gibt nur uns. Das kennen wir nicht. Und so stehen sich viele fremd gegenüber, mit Argwohn. Kann ich das?
Ja. Wer sonst?
Es ist alles da. Man muss nichts erfinden, um die Innovation zu erkennen, man muss nur entdecken, was in uns steckt. Das ist der nächste große Schritt der Menschheit, die Innovation der Innovationen des 21. Jahrhunderts: zu sich zu kommen.
Es gibt eine Menge unerledigter Jobs, die aus der alten Welt übrig geblieben sind – und auf Wiedervorlage stehen. Es sind Angelegenheiten, die wir dringend regeln müssen.
Was etwa braucht ein Sozialstaat in der Wissensgesellschaft? Der alte Sozialstaat hatte die Aufgabe, Systemabweichler schnell wieder zu integrieren. Wer arbeitslos wurde, der sollte so schnell wie möglich wieder Arbeit finden. In einer Welt, in der die digitale Automation die Arbeit zwar nicht ausgehen lässt, aber eben viel alte Routinearbeit rigoros ersetzt, sind viele dazu gezwungen, sich neu zu orientieren. Eine weitreichende soziale und kulturelle Innovation ist die Neudefinition von Arbeit, die wenig mit dem zu tun hat, was unsere Väter und Vorväter darunter verstanden: eine lebenslange, relativ gleichmäßige Erwerbsbiografie. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Erwerbsarbeit im 21. Jahrhundert ihre zentrale Rolle als Lebenssinn im Westen verliert. Arbeit ist nicht mal mehr das halbe Leben, und das ist sogar empirisch klar. Aber in unseren Köpfen ist es vielfach alles. Dort, so hat der Autor Volker Kitz es geschrieben, existiert Arbeit »als Idee, als Ideal«. Diese Idee wird eben neu gedacht und ihr Ideal neu definiert. Damit verschiebt sich das meiste, was wir heute noch als Ordnungsrahmen erkennen. Ralf Dahrendorf, der große deutsche liberale Soziologe und Denker, nannte die Arbeit einmal die »Grundlage aller Macht«. Hannah Arendt fragte sich in den 1950er Jahren, was geschehen wird, wenn die Automation ihr Ziel erreicht und der Arbeitsgesellschaft das »einzige, worauf sie sich versteht, abhandenkommt, die Arbeit«. Der Mathematiker, Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell machte sich schon in den 1930er Jahren seine Gedanken, ob wir in Sachen Arbeit nicht langsam wieder »zur Vernunft« kommen sollten. Also zu uns selbst. Das ist ein guter Rat.
Die Diskussionen zum bedingungslosen Grundeinkommen zeigen deutlich, wie weit wir auf der Suche nach einer neuen Rolle der Arbeit und »Beschäftigung« sind.
Die große kulturelle (und soziale) Innovation dahinter ist der Ausstieg aus dem Glauben, dass, »wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll«, wie Paulus in seinem 2. Brief an die Thessaloniker einst verkündete – so wie später die kollektivistischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Arbeit zum Zentrum der Sozialordnung machten.
Das Zentrum löst sich seit langem in viele Milieus auf, und letztlich in Individuen, die freiwillig, auf eine bestimmte Zeit und mit klaren Zielen zusammenkommen und zusammenarbeiten. Der Sozialstaat ist, wie der Ökonom und Autor Thomas Straubhaar so wunderbar formuliert, nicht reformierbar, aber »revolutionierbar«, indem er die Abhängigkeiten eines »fürsorglichen Staates« in die Selbstständigkeit erwachsener Bürger überführt. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nur ein Mittel zum Zweck, ein Weg, um sich »auszuprobieren« und zu »experimentieren«, wie Straubhaar sagt. Keine Alimentationsmaschine, sondern ein Instrument des Ermöglichens. Versuch macht klug. Probieren ist die Mutter der Veränderung. Und der Zweck der Übung besteht in mehr Selbstsicherheit. Die drei wichtigsten Säulen der sozialen Innovation werden, so glaubt Straubhaar, auch die Kultur verändern: »Es geht um Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.«72
Selbstermächtigung heißt zu lernen, welches Leben man leben will, und eine Entscheidung dafür zu treffen; Selbstbestimmung ist das Recht darauf, sich nicht in enge Organisationskorsette spannen zu lassen, die unsicherer sind als je zuvor – und dem Einzelnen keine Sicherheit mehr gewähren, sondern ihn höchstens in falscher Sicherheit wiegen. Selbstverantwortung bedeutet, dass man aufhört, ein fremdes Leben zu leben – also aus dem »agentic state« ausbricht und den »autonomous state« annimmt. Selbstverwirklichung und Selbstfindung sind keine alberne Attitüde verwöhnter Kinder mehr, als die sie in den 1960er Jahren denunziert wurde, sondern eine Conditio sine qua non für die Wissensgesellschaft. Der Sozialstaat muss sich als Ermöglicher für die Selbstverwirklichung verstehen, nicht als Beschützer und Bewahrer des Mitmachens und Anpassens.
Die Innovationsgesellschaft stellt Selbstbestimmung über Komfortzonen, das tätige Individuum über kollektivistische Scheinsicherheit. Innovationen sind Möglichkeiten. Innovationen sind unsere Wünsche, Sehnsüchte und Träume, die Form annehmen. Das zu verstehen, ist ein weiterer, wichtiger Schritt der Aufklärung. Eine Innovationsgesellschaft braucht selbstbewusste Ichs, damit ein besseres Wir entstehen kann. Gemeinschaften, die miteinander kooperieren, weil sie es wollen – und nicht weil sie es müssen. Die Welt von gestern wird das als Relativismus, Individualismus und Untergang des Abendlandes geißeln, je nach ideologischer Sprachregelung. Karl Marx’ Ideal hingegen war deutlicher: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.« Es lohnt sich, das nicht nur richtig zu interpretieren, sondern endlich einfach auch mal zu machen.
Das Neue wartet auf alle, die sich ins Gelingen verlieben.
»Wege, die in die Zukunft führen, liegen nie als Wege vor uns. Sie werden zu Wegen erst dadurch, dass man sie geht.«
Franz Kafka

Die Neugier

Im Jahr 1632 beschrieb Galileo Galilei in seinen Dialogen ein Gedankenexperiment von großer Tragweite. Man möge, so führte er aus, auf ein Schiff gehen, das bei bestem Wetter völlig ruhig im Hafen liegt. Nichts bewegt sich. Nun begebe man sich unter Deck, mache alle Luken dicht und lasse Vögel, Schmetterlinge und anderes »Getier« herumfliegen. Dann würde der Anker gelichtet werden und das Schiff langsam Fahrt aufnehmen. Keiner im Schiffsbauch würde dies bemerken, kein Schlingern, kein Rollen es verraten. Um zu merken, dass das Schiff fährt, müsste man schon an Deck gehen. Diese Parabel war keineswegs als reines naturwissenschaftliches Experiment gedacht, sondern zielte auf ein Phänomen, mit dem Innovation und Veränderung immer zu tun haben: dem der Statik und der Bewegung und der Sicht von Systemen auf sich selbst. Parteien, Organisationen, »Bubbles« in sozialen Netzwerken und andere Gemeinschaften sind immer unter Deck. In ihrem Schiffsbauch merken sie nichts. Aber das Schiff bewegt sich. Wer wissen will, wie schnell und wohin, muss an Deck gehen. Selber sehen und fühlen, hören und steuern. Die Kirche wusste gleich, was Galileo meinte, und schickte ihm den Inquisitor ins Haus. Über die Frage, ob die Sonne der Mittelpunkt des Universums sei, hätte sich wahrscheinlich reden lassen – das heliozentrische Modell war natürlich bekannt und keineswegs der Zankapfel, als der er heute im Fall Galilei erscheint. Aber er war ein guter Anlass, um dem Mann den Prozess zu machen, denn wenn uns einer so kommt und unser System als autistisch hinstellt, dann ist das nicht mehr komisch. Diese Humorlosigkeit in eigener Sache haben wir – also unsere Organisationen – geerbt. Das macht sie zu Geisterschiffen der Wissensgesellschaft. Wir sind nicht mehr neugierig, wir wollen unsere Ruhe. Das verhindert echte Innovation, Bewegung, Veränderung. Aus der Perspektive des Schiffsbauches ist alles, was passiert, eine böse Überraschung. Was Galileo vor 400 Jahren beschrieb, kann man heute alltäglich fast überall beobachten. Sein Gedankenexperiment zeigt, wie sehr sich die Wohlstandsgesellschaft von der wichtigsten Fähigkeit zur Innovation entfernt hat: die Luke aufmachen, nach draußen gehen und die Welt entdecken.
Innovation ist unmöglich ohne die vage Aussicht, dass hinter dem Horizont noch etwas sein könnte. Die treibende Kraft der Innovation ist die Neugier des Individuums.
Eine Innovationsgesellschaft schätzt nicht allein ihr Wissen, sondern auch ihr Nichtwissen als Antriebsquelle für neue Antworten und Alternativen. Sie ist nicht dumm. Sie ist neugierig im Sinne von wissbegierig. Neugier ist eine Grundfunktion der Evolution.
Ein Ministerium für Digitales braucht man ebenso wenig wie eines für Dampfmaschinen oder Innovation. Wir bräuchten, wenn schon, ein Neugierdeministerium. Eines, das den Entdeckergeist in allen Feldern fördert und fordert.
Das Gute an der Neugier ist, dass sie immer funktioniert, sowohl unter den Bedingungen der Not und der Bedürftigkeit als auch des Wohlstands und der Sattheit. Diese Einsicht verdanken wir dem amerikanischen Psychologen D. E. Berlyne,44 der Tiere nach dem Aspekt ihrer Fähigkeit zur Neugier untersuchte. Gibt es viele Außenreize, dann versuchen sie durch Erkundung der Ursachen für mehr Klarheit und Orientierung zu sorgen. Gibt es zu wenige, langweilen sich die Probanden also, dann suchen sie nach neuen Reizen. Wie immer es auch kommt: Die Neugier gewinnt. Das ist eine tröstliche Einsicht in Zeiten, in denen vor zu viel Komplexität auf der einen und zu viel »Sattheit« auf der anderen Seite gewarnt wird. Die Erkenntnis: Es braucht keine Not, um erfinderisch zu werden. Auch Langeweile führt letztlich zu einem Ausweg. Die Anzahl der Lösungen, zu denen Neugier führt, ist naturgemäß unendlich. Sie führt damit unvermeidlich zur Innovation.
Neugier will Komplexität reduzieren, indem sie sie verstehen lernt. Dadurch entstehen Möglichkeiten, Vielfalt. Das ist die Grundformel aller Innovation und allen Fortschritts.
Wer über diese Art von Neugier redet, kommt deshalb an der Vielfalt nicht vorbei, die nichts anderes ist als erschlossene Komplexität. Das heißt aber noch etwas: Weniger ist nicht mehr. Nur eine geradezu verschwenderische Vielfalt an Varianten, Möglichkeiten, Lösungen sorgt dafür, die Zahl der Probleme kleiner zu machen – oder jedenfalls überschaubarer. Neugier sortiert gleichzeitig die Welt, aber nicht durch Weglassen, sondern durch das Hinzufügen von Differenz. Eine Innovationsgesellschaft muss sich von der Vorstellung lösen, dass man Übersicht nur durch Weglassen erzeugt. Nicht das »Zuviel« belastet uns, sondern die vernachlässigten Kulturtechniken, mit der Vielfalt umzugehen. Es gibt immer Optionen. Nichts ist alternativlos.
Das Leben ist wie Galileo Galilei, ironisch: Gerade der hochaktuelle Trend des »Weniger ist mehr« und des scheinbaren Verzichts verortet, dass die Menschen nicht weniger suchen, sondern schlicht eine Alternative zu dem, was sie haben – also auf der Suche nach Differenz und Vielfalt sind. Sie sagen aus alter Gewohnheit »weniger«, meinen aber: mehr persönliche Qualität. Und schaffen damit Innovationen.

Sind Veganer bescheiden?

Für einen Beitrag im Magazin »Vice« wurden im Oktober 2017 Mitarbeiter veganer Restaurants in Berlin nach den Vorlieben ihrer Kunden gefragt. Dabei gaben die Mitarbeiter der Restaurants und Imbissbuden zu Protokoll, dass ihre Kunden besonders bekannt seien für die »Extrawürste«, also individuelle Bestellungen. »Sie sind alle so unterschiedlich«, fasste eine Mitarbeiterin zusammen.45
Der Verzicht war schon mal anders, einheitlicher, weniger prätentiös. Aber der Veganer-Trend spricht eine deutliche Sprache. Essen schafft Identität. Man ist, was man isst. Aber man ist auch, wie man isst – und wenn man derart wählerisch und individualisiert unterwegs ist, dass jede Bestellung in der Veganer-Imbissbude zum À-la-carte-Menü wird, dann sagt das mehr über das Bedürfnis nach Differenzierung aus, als es den Theoretikern der »Suffizienzlehre«, die den Verzicht predigt, recht sein kann.
Auch die neuen Esser suchen Abwechslung. Variatio delectat – Abwechslung erfreut.
Für die Innovation lernen wir, wie durch den Drang zur Vielfalt und Differenzierung, der Unendlichkeit der menschlichen Bedürfnisse, immer neue Innovationen gefordert werden, selbst dort, wo man »zurück zur Natur« oder einfach eine »Wende einleiten« will, was letztlich aufs Gleiche rausläuft. Wer nämlich Differenz fordert, ganz gleich, aus welchen Motiven, landet unweigerlich bei der Innovation und beim Fortschritt. Die prominente Fernsehköchin und Gastronomieunternehmerin Sarah Wiener hat dies im Jahr 2017 dem Magazin »enorm« so gesagt: »Auf dem Trendmarkt Veganismus boomen eben auch all die Kunstprodukte vom Seitan-Truthahn bis zum Soja-Hamburger.«46 Stimmt. Der Markt ist voll von neuen Werkzeugen und Hilfsmitteln für die Küche, die es erlauben, vegane Gerichte optimal zuzubereiten. Es gibt Spiralschneider für Gemüse und Küchengeräte für die Eigenproduktion von Tofu und Sojamilch. Es gibt veganen Lederersatz aus Ananasblättern oder Eukalyptus und Pilzfasern – von Kochbüchern und Kochseminaren, Restaurants und Rohstofflieferanten zum Thema ganz zu schweigen. Neugierde ist das wichtigste Konjunktur- und Wohlstandsprogramm.
Die Lust auf Neues und die Sehnsucht nach Abwechslung schaffen Nachfrage, und die hilft der Innovation auf die Füße. Das Beste ist, dass man all das nicht erfinden muss, denn es ist in uns angelegt. Es gibt kein Entrinnen vor der Innovation. Was nicht heißt, dass man das nicht immer schon versucht hat.

Im Zeitalter der Auswahl

Adam und Eva wurden aus dem Paradies geworfen, weil sie neugierig waren. Seither müssen sich die Menschen selbst helfen. Auf dem längsten Teil dieses Wegs waren Not und Knappheit treue Begleiter unserer Vorfahren. Die meisten waren froh, wenn sie den Tag überlebten. »Kurz, hart, schmutzig und brutal« hat der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes diesen Zustand im 17. Jahrhundert genannt.47 Doch in den meisten Ländern der Welt – wenn auch nicht allen – ist das Geschichte.
Nach 250 Jahren industriekapitalistischer Dynamik haben sich der Wohlstand und der Zustand der Welt, trotz aller Rückschläge, bedeutend gebessert. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben nicht nur einige wenige eine Perspektive für Jahre und Jahrzehnte, sondern Milliarden. Der wachsende Wohlstand in ehemaligen Armenhäusern wie Indien und China – aber auch anderen ehemaligen Entwicklungs- und Schwellenländern – gibt zur Hoffnung Anlass, dass das Zeitalter der Armut, das immer auch eine Ära des unentrinnbaren Schicksals war, zu Ende geht – jedenfalls im Großen und Ganzen. Wichtig an dieser Einsicht ist: Wo dem Überleben nicht mehr die höchste Priorität zukommt, kann man sich um die eigene Entwicklung kümmern. Das genau ist auch die Aufgabe, die uns in diesem Jahrhundert – und darüber hinaus – beschäftigen wird. Sich jenseits der Not selbst erkennen zu können, heißt aber auch, sich selbst gegenüberzustehen. Das ist nicht einfach. Und da wären ja auch noch all die großen Projekte, die die Menschen im Kollektiv beschäftigen: die Bekämpfung von Kriegen, die Förderung der Demokratie und der Kampf gegen Diktatoren und Terroristen, der Kampf gegen den Hunger, der gut vorankommt, aber nicht ganz gewonnen ist, und der Umgang mit den Folgen des Klimawandels, um nur einige zu nennen.
Hier nur einige Beispiele: Gibt es eine saubere und nicht riskante Quelle für Energie, die möglichst allen offensteht? Sind wir in der Lage, die großen noch unheilbaren Krankheiten zu besiegen? Sind die Mobilitätsformen, die wir kennen, noch brauchbar in Zeiten, in denen Arbeits- und Lebensort nicht mehr zwangsläufig getrennt werden müssen? Arbeiten wir, um zu überleben oder um zu leben? Und, das ist in Sachen Digitalisierung, der Superautomation, vielleicht die wichtigste Frage: Was tun wir, wenn Maschinen und Systeme uns tatsächlich von der Plackerei der Lohnarbeit befreien? Und schaffen wir es, uns selbst zu definieren, wenn es andere nicht mehr für uns tun? Reicht unsere Neugier dafür aus? Oder ist es aussichtslos, auf Veränderung zu hoffen? Viele sehen das so. Sie meinen, es gäbe vor dem »System« kein Entrinnen. Doch was soll das sein, »das System«? Der Kapitalismus ist so variantenreich, dass er sich gewiss nicht auf einen Nenner bringen lässt – vorausgesetzt, man diskutiert sein Wesen sachlich. Sind es dann die menschlichen Schwächen – Gier, Neid, die »Trägheit des Herzens« – die schon im Mittelalter als Todsünde galten? Bilden sie das »System«? Nein. Die Sache mit dem System gibt es – allerdings anders, als es die meisten sich eingestehen. Die große Mehrheit meint keine fernen abstrakten Gebilde, sondern Organisationsformen, die ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Nicht der Kapitalismus befindet sich in der Krise, sondern die Formen, in denen er in Erscheinung tritt –...

Inhaltsverzeichnis

  1. Der Stoff, aus dem das Neue ist
  2. I. Die Innovationskultur
  3. II. Die Wellen der Erneuerung
  4. III. Die Innovatoren
  5. IV. Die Innovationsgesellschaft
  6. Anhang