Meuterei der Jungoffiziere
Wir waren alle auf der Hut, lauerten gespannt auf ein neues Ereignis, eine neue Nachricht. Und tatsächlich kam am Freitagabend Unruhe auf. Wir gingen nach draußen, sahen Menschen in kleinen Gruppen auf den Straßen stehen und hörten Geflüster. Die Anspannung war spürbar. Agha Firuz beugte sich zu mir: »Die jungen Offiziere der Luftwaffe meutern«, sagte er.
Sie riefen ihre Mitstreiter zusammen, Autos wurden gestartet, und Mütter gaben ihren jungen Söhnen letzte Ratschläge mit auf den Weg. Ich sah Motorräder, auf denen drei, sogar vier Leute saßen. Alle brachen zur nicht weit von unserem Viertel entfernten Kaserne der Luftwaffe auf. Im allgemeinen Wirrwarr erkannte ich unseren Straßenhändler Reza, Agha Adeli, Schahin und sogar Faramarz.
Auslöser der Meuterei an jenem Abend war die Fernsehübertragung von Ajatollah Khomeinis Rückkehr in den Iran, in deren Verlauf die jungen Luftwaffenoffiziere in der Kaserne laut »Allahu Akbar!« gerufen und die Offiziere des Geheimdienstes im Gebäude gegenüber Warnschüsse abgegeben hatten, woraufhin ein Feuergefecht entbrannt war. Die Kämpfe hatten sich bis auf die Straße ausgedehnt, Leute waren in die Kaserne eingedrungen, hatten das Waffenlager gestürmt, und die Waffen waren der Zivilbevölkerung in die Hände gefallen. Die Kämpfe hatten bis zwei Uhr früh angedauert. Am nächsten Morgen stand in den Zeitungen, der Vorfall habe einundsechzig Tote und zweihundert Verletzte gefordert.
Folglich besaßen jetzt zwei, drei Leute mehr in unserem Viertel Waffen. Reza zählte zu ihnen. Er hatte angeblich zwei Waffen mit ins Viertel gebracht, eine der beiden für Mohssen. Der jedoch lehnte die Waffe mit der Begründung ab, er habe Wichtigeres zu tun, als Revolution zu machen, müsse unter anderem seine Frau und seine Kinder ernähren. Auch Fatah wollte die Waffe nicht. Seine Pflicht, so sagte er, bestehe darin, im Krankenhaus Dienst zu tun. Auch Hassan Khanom hatte mit der Begründung einen Rückzieher gemacht, dass sein Fleischermesser ihm völlig ausreiche, um mit Revolutionsgegnern fertigzuwerden. Also fiel die zweite Waffe an Madschid.
Wie man damit umging, hatte Schahin ihnen ja bereits gezeigt. Und so stiegen sie am nächsten Morgen auf Motorräder, nahmen Kurs auf die Uni Teheran und hielten gespannt den Atem an, weil die Ereignisse sich unaufhaltsam verdichteten.
Am 10. Februar, Samstagmorgen, glich die Universität einer Festung, und die jungen Studenten zogen von dort aus zu viert oder zu fünft durch die Straßen. Fast überall sah man bewaffnete junge Leute auf Motorrädern durch die Stadt fahren. Die einen brachten Panzer in ihre Gewalt, andere griffen eine Polizeiwache an, entwaffneten Soldaten, die tatenlos am Straßenrand standen. Es schien Krieg zu herrschen in der Stadt, und überall waren Krankenwagen im Einsatz. Am härtesten tobten die blutigen Kämpfe nach wie vor um die Kaserne der Luftwaffe. Zeitungen erschienen dreimal täglich und zeigten Bilder von Jungen und Mädchen, auf Panzern sitzend, zwei Finger einer Hand zum Siegeszeichen erhoben, in der anderen triumphierend ein leichtes Gewehr.
Die Stadt war von einem Strudel erfasst, der durch alle Straßen wirbelte, erst hier, dann anderswo Tote hinterließ; hier jemanden, der sich aus Neugier aus dem Haus gewagt hatte; dort einen, der ahnungslos unterwegs war, um Besorgungen zu machen. Eines dieser Opfer war ein Amerikaner. Er kam auf der Straße zu Tode, trug einen Kameragurt um den Hals, einen breitkrempigen Anglerhut auf dem Kopf, hatte starre Pupillen. Im Krankenhaus ergab die Überprüfung der Papiere dieses blonden, blauäugigen jungen Mannes, dass es sich um Joe Alex Morris Jr. handelte, einen Korrespondenten der Los Angeles Times.
Binnen eines halben Tages erbeuteten Zivilisten sämtliche Waffen aus dem Luftwaffenarsenal. Die Maschinengewehre wurden verteilt, und dann saßen junge Leute vor ihren Häusern und brauten Molotowcocktails. Damals standen die Haustüren zumeist offen, die Kraft der Revolution hatte Grenzen gesprengt, die Privatsphäre war Teil des öffentlichen Raums geworden.
Eine Stunde später kam eine Sonderanweisung von Ajatollah Khomeini, der zufolge alle, die militärisch ausgebildet waren, sich bei den Revolutionseinheiten melden sollten. Im Gegenzug kündigte die Militärregierung das Ende des Ausnahmezustands für sechzehn Uhr dreißig an, um die Stadt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Aufgrund der Sonderanweisung des Ajatollah aber blieben die Leute draußen im Freien. Zugleich setzten sich einige in Marsch, hielten Blätter in die Höhe, auf denen in großen Lettern geschrieben stand: Heute Abend Putsch.
Die Leute steckten mitten auf den Straßen Autoreifen in Brand, stellten sich Panzern und Pkw in den Weg, und weil ihre Methoden Wirkung zeigten, griffen sie mit Maschinengewehren, Molotowcocktails und anderen selbst gebastelten Waffen bald auch die Kasernen an.
Aus anderen Städten wie Gorgan, Rascht und Maschhad wurden ebenfalls Straßenkämpfe gemeldet. In den frühen Abendstunden verstärkten sich die Angriffe auf Polizeireviere, und am frühen Morgen des nächsten Tages waren, bis auf zwei Ausnahmen im Norden der Stadt, alle Reviere in der Hand der Regimegegner. Die Polizeiakademie verhielt sich klug, hisste widerstandslos eine weiße Fahne und ergab sich.
Am Sonntag, den 11. Februar, um zehn Uhr früh, hielt Bijan in einem Panzer sitzend Einzug in unser Viertel. Außer ihm, der den Panzer fuhr, saßen ein Unteroffizier der Bodentruppe, zwei Finger zum Siegeszeichen erhoben, und zwei Mädchen mit auf dem Panzer. Beide trugen weite Jacken, und jede schwenkte ein G3-Gewehr über dem Kopf. Sie wirkten überhaupt nicht mehr mädchenhaft, fand ich.
Am zentralen Platz unseres Viertels kamen Bijan und seine Mitstreiter zum Stehen. Alle Nachbarn, die draußen vor ihren Häusern, Wohnungen, Geschäften auf neuste Nachrichten gewartet hatten, umringten den Panzer sofort. Bijan strahlte übers ganze Gesicht und verkündete: »Es ist vorbei!«
Seine drei Kampfgefährten nickten bekräftigend, er sagte, die wichtigste Kaserne der Stadt habe sich ergeben, zeigte auf den Panzer, um seine Meldung offiziell zu bestätigen, und erklärte: »Der stammt von dort.«
Die Augen der jungen Eroberer leuchteten vor Stolz und Siegesfreude. Während Fakhri aus einem eigens für den Helden des Viertels und seine Mitstreiter geholten Krug Wasser in ein Glas goss, kam Herrn Adeli der Gedanke, dass es die erste Pflicht aller Nachbarn sei, den Panzer irgendwo zu verstecken, und bot an: »Meine Schneiderei ist groß.«
Er erntete Gelächter, und man gab ihm zu verstehen, dass ihnen nun keine Macht mehr Angst machen könne. Schahin nickte angesichts der Reaktion der Leute zustimmend und wiederholte: »Es ist vorbei.«
Um seiner Feststellung Nachdruck zu verleihen, rieb er sich bedächtig die Hände. In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes: Die Haustür des Generals tat sich auf und der General trat nach Wochen der Zurückgezogenheit hinaus auf die Straße, ein wenig zerzaust, ein wenig müde, sehr beunruhigt. Tiefe Besorgnis hatte ihn zu diesem Schritt bewogen, das sah man ihm an. Er ging auf den Panzer und die ihn neugierig umringende Schar zu und sagte so ruhig und gefasst wie möglich: »Mein Sohn … sei so gut, bring den Panzer möglichst schnell wieder dorthin zurück, wo du ihn herhast.«
Eisernes Schweigen in der Runde. Einige machten sogar einen Schritt auf den Panzer zu, auf dem Schahin breitbeinig stand, die Hände in die Hüften gestemmt, grinsend: »Sieh an, sieh an, der Herr General. Welch Augenweide!«
Dem Herrn General blieb nichts anderes übrig, als seine Bitte zu wiederholen. Diesmal erwiderte Schahin, ernst, ohne zu zögern und mit gerunzelter Stirn: »Jetzt ist es ein bisschen zu spät für Befehle, Herr General.«
Freundlich erwiderte dieser: »Ich gebe dir keinen Befehl, mein Sohn, ich bitte dich um etwas. Dir ist nicht klar, welch gefährliches Spiel hier begonnen hat.«
Im selben Moment bremste ein Militärjeep direkt vor unseren Füßen. Bijan stieg aus, seine Begleiter auch. Alle waren bewaffnet, und alle außer ihm selbst hatten sich Tücher vor die Gesichter gebunden, bis unter die Augen. Schahin lachte laut auf, als er sie sah, und sagte, wie einer, der sich seines Lebens freut: »Stell dir vor, Bijan, der General möchte, dass ich den Panzer in die Kaserne zurückbringe.«
Bijan stellte sich dumm: »Wozu das denn?«
»Damit andere Generäle sich reinsetzen und Leute damit plattfahren können.« Schahins Blicke versprühten blanke Wut.
Des Generals Hände zitterten. Er öffnete den Mund, sagte: »Versteht doch …!«
Mehr nicht. Ihm schien wohl klar geworden, wie vergeblich seine Worte waren. Nach einem Moment der Stille trat einer – wir erkannten ihn sofort – aus dem Kreis von Bijans vermummten Begleitern heraus, ging auf den General zu, nahm ihn am Arm und führte ihn zurück ins Haus. Ich beobachtete Faramarz dabei und spürte, dass unserer iranischen Welt auch hier im Viertel ein Wandel bevorstand.
Während wir dem alten Mann nachschauten, der sich von seinem jungen Sohn gemächlich nach Hause geleiten ließ, sprang Agha Firuz mit einem Transistorradio in der Hand aus seinem Laden und rief: »Alle mal herhören, Leute, eine wichtige Meldung, hört euch das an!« Wir unterbrachen unsere Gespräche, und Agha Firuz drehte sein Radio auf maximale Lautstärke. Mehrmals kündigte ein Rundfunksprecher eine äußerst wichtige Meldung des Oberkommandos der Streitkräfte an, und kurz darauf folgte tatsächlich ein neutraler Aufruf an alle Soldaten zur Rückkehr in ihre Kasernen.
Dazu war es wohl etwas zu spät. Inzwischen fuhren bewaffnete Zivilisten in Militärfahrzeugen kreuz und quer durch die Stadt, überall waren Straßenkämpfe im Gange. Die Anführer der mittlerweile bewaffneten Guerilla der Volksfedajin wurden unter Beschuss genommen, wo immer jemand ihnen Schutz gewährte, und dabei kamen alle verfügbaren Waffen nebst Munition zum Einsatz. In ihren Augen war die Neutralitätsbekundung des Militärs nichts wert, während sie bereit waren zu kämpfen, bis auch das letzte Gewehr beschlagnahmt, die letzte Kugel unschädlich gemacht wäre. Das war die Geburtsstunde des ersten handfesten Konflikts zwischen den religiösen und den nationalistischen Koalitionspartnern auf der einen Seite und linken politischen Gruppierungen und Parteien auf der anderen.
An dem Tag war Teheran für ein paar Stunden ohne Regierung. Dieses Machtvakuum rief allerlei Profiteure, Anarchisten und Langfinger auf den Plan. Aus Ämtern wurden Büromöbel und Geräte entwendet. Ich habe mit eigenen Augen eine Frau und ihre zwei jungen Töchter gesehen, die einen sperrigen Konferenztisch vom Gehweg an den Straßenrand gezerrt und auf einen Kleinlaster verfrachteten. Vereinzelt wurden die amerikanische Botschaft und die Wohngebäude des Botschaftspersonals angegriffen, wobei allerdings keine größeren Schäden entstanden.
Während rings um Teherans Kasernen noch immer Kämpfe tobten, fuhren die vor der Radio- und Fernsehanstalt stationierten Panzer zur Seite, und die streikende Belegschaft kehrte voller Stolz und siegesgewiss an ihre Arbeitsplätze zurück, damit die Stimme der Revolution bald im ganzen Land zu hören sein würde. Nur für wenige Minuten wurde das Programm unterbrochen, um den Streikbrechern Zeit zu geben, ihre Stühle zu räumen, den revolutionären Kräften im eigenen Haus Platz zu machen, und kurz darauf verkündete eine vor Aufregung zitternde Stimme: »Hier spricht die Stimme der Revolution des iranischen Volkes.«
Das Programm begann mit der Übertragung von Botschaften aus der Alawi-Schule, in der Ajatollah Khomeini sich nach wie vor aufhielt, mit Meldungen politischer Parteien und Gruppierungen und revolutionären Liedern.
Unterdessen traf ein Abgesandter Khomeinis ein, um die gesamte Radio- und Fernsehanstalt akribisch zu überprüfen; ein rastloser, fahriger junger Mann namens Sadegh Ghotbzadeh, der eine Pierre-Cardin-Krawatte trug.
Und natürlich wurden weiterhin Flugblätter politischer Gruppen verteilt, mit Grußbotschaften und Glückwünschen zum Sieg, immer wieder revolutionäre Gesänge angestimmt, und inmitten all dessen kursierten Bilder und Fotos von Menschen, die in den vergangenen Tagen und Monaten aus dem Haus gegangen und nicht mehr heimgekehrt waren. Deren Angehörige baten die Bevölkerung um Angaben zu ihren Verwandten. Ganz ohne Zweifel zeigten viele dieser Fotos Menschen, die nach den jüngsten Straßenkämpfen als namenlose Opfer auf städtischen Friedhöfen beerdigt worden waren.
Im Radio folgten kurze Interviews, per Telefon mit Prominenten, Politikern, Künstlern, Schriftstellern geführt. Stimmen, rau vor Aufregung, die Kehlen vor Ergriffenheit zugeschnürt. Alle sprachen von einem besseren Morgen, niemand machte sich Sorgen, hegte Befürchtungen. Wie ein hauchdünner Schleier verbarg blinder Optimismus die Sicht auf Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten; immerhin war, nach zweitausendfünfhundert Jahren, die Herrschaft der Königshäuser gebrochen. Der Begründer der Dynastie war zwar der einzige iranische Herrscher, der durch ausländische Machenschaften auf den Thron gelangt war, doch wie soll man aus uralten Traditionen Neues schaffen, und wie viel Zeit braucht das?
Fürs Erste sollte niemand sich darüber den Kopf zerbrechen. Später wäre Zeit genug, sich Gedanken zu machen!
Da die Gefängniswärter ihre Posten verlassen hatten, flohen einige in Dschamschidabad inhaftierte Beamte des Schah-Regimes, während andere sich freiwillig in die Obhut neuer Wärter begaben. Unter den Geflohenen war auch ein sechs Millionen Dollar schwerer Iraner namens Hoshabr Yazdani, der im Einvernehmen mit dem Gefängnisdirektor, einem General, und gemeinsam mit ihm von der Bildfläche verschwand.
Am Morgen jenes Tages – die Lage war durchaus unübersichtlich, doch es schien ein großes, unausweichliches Ereignis bevorzustehen – rief der General seinen Lieblingsgefangenen zu sich ins Büro und eröffnete ihm verschmitzt und in kameradschaftlichem Ton, er werde ihm eine Niederlage bereiten, die er sein Lebtag nicht vergessen würde. Kichernd klappte er das Backgammonbrett auf, ordnete die Spielsteine an, und die Partie begann. Den Worten eines ebenfalls vor Ort anwesenden Soldaten zufolge ließen die Anspannung und die Leidenschaft, mit der die beiden Kontrahenten bei der Sache waren, vermuten, dass Existenzen auf dem Spiel standen. Der General verlor die erste Runde, unter Protestbekundungen und Kampfansagen. Die zweite Runde indes blieb unvollendet, da die Angelegenheit mit der zeitgleich im Radio verkündeten Neutralität des Militärs erledigt zu sein schien. Der General wischte die Spielsteine gemächlich beiseite, stand von seinem Tisch auf und sah aus wie einer, der seinen Zug nach stundenlanger Fahrt in den Bahnhof einfahren sieht und sich zum Aussteigen bereitmacht. Er öffnete die Bürotür, kicherte unterdessen weiter über seinen Gegner, rief von der Türschwelle aus seinen Fahrer und wies ihn an, zu einem Ort in der Nähe zu fahren. Die lange Aschesäule der bis zum Aschenbecher abgebrannten Zigarette deutete an, dass seine Entscheidung urplötzlich gefallen sein musste. Der Kontrahent, kreidebleich und mit merklich zitternden Händen, ließ den General nicht aus den Augen, öffnete ein-, zweimal den Mund, um etwas zu sagen, schwieg dann aber. Vielleicht wusste er, dass man ihm seine panische Angst ansah, und es bedurfte keiner Worte. Der Herr General nahm seine Tasche, tätschelte Hoshabr freundschaftlich die Schulter, woraufhin er sich, wie durch Zauberhand, erholte. Nichts Geringeres als ein Regimewechsel hatte von einem Moment auf den nächsten neue Fakten geschaffen. Die beiden Männer, eben noch Gegner, gehörten jetzt demselben Lager an. Der General nahm Hoshabr, der seine Zeit hier zwischen Hoffen und Bangen verbracht hatte, kurzerhand mit. Er trug noc...