Tim Trzaskalik
Wo ist die Maske?
Zu André Gides Der Griesgram1
»So seltsam es auch anmutet, der Dichter stellt sich nicht so sehr durch das unter Beweis, was er sagt, als vielmehr durch das, was er verschweigt.«2 Mit diesen Worten hob Gide am 22. November 1913 im Vieux-Colombier das Neue an einer bestimmten Dichtung hervor, für die er an jenem Abend insbesondere die Namen Mallarmé und Verlaine einstehen ließ. Wie Pierre Masson in einer Anmerkung ausführt, in der er den Lesern einen Eintrag aus Gides Tagebuch vom 31. Juli 1905 in Erinnerung ruft, habe Gide Zeit seines Lebens immer versucht, sich eine solche Ästhetik des Unterschwelligen zu eigen zu machen. Es scheint, seine Studie zum griesgrämigen Charakter, einem erst sehr spät, im Jahr 1993, entdeckten Werk, beruhe auf der quasi humoristischen, wenn nicht gar kriminalistischen Entstellung eines solchen Kompositionsprinzips. In Der Griesgram (Le Grincheux) — Gide hat seiner kurzen Erzählung einen Titel verliehen, in dem die »griesgrämig« (grincheux) genannte Eigenschaft zu einer Begriffsperson wird — schildert der Autor, wenn auch stets um das Verwischen der Spuren bedacht, die Geschichte eines Mordes. Der äußere Monolog des Protagonisten — von dem der Leser niemals wissen wird, inwiefern er von seinem Sprecher verkörpert wird, so wenig wie er je erfahren wird, an wen sich dieser Sprecher überhaupt richtet — ist die unterschwellige Beichte, wenn nicht gar die hintertriebene Verkündigung eines Mordes, den man kaum als einen Willkürakt bezeichnen kann, der die Vorstellung von Willkür nicht einmal im Ansatz aufkommen lässt; trotz der Tatsache, oder eher aufgrund der Tatsache, dass im unterschwelligen Motiv des Verbrechens, einem mehr oder minder »unwillentlichen« Motiv, Lafcadio in Erinnerung gerufen wird. Was einer Beurteilung dieses Mordes als Willkürakt widerspricht, hängt freilich nicht so sehr damit zusammen, dass der Protagonist nicht die Notwendigkeit verspürt, bis zwölf zu zählen, und in gewisser Hinsicht die Lunte selbst anzündet; eher schon mit einem durch und durch gewöhnlichen Motiv, das aber am Schluss der Erzählung, als der Plan aufgegangen ist, just in dem Moment beiseite geschoben wird, in dem es sich aufdrängt, so dass an der Leerstelle ersichtlich wird, was in Wahrheit dem konstitutiven Akt der Geschichte zugrunde lag, dem Mythos, das heißt der »Fabel«, um die Poetik des Aristoteles zu bemühen: Der griesgrämige Charakter spielt das Schicksal seines Freundes Molle (womöglich überlässt er dabei dem Zufall seinen Teil), um auf diese Weise der eigenen Existenz wieder gewahr zu werden.
Beginnen wir die Rekonstruktion des Verbrechens mit der Hervorhebung von zwei Merkwürdigkeiten, die den Leser bereits in den ersten beiden Abschnitten der Erzählung verwirren. Zunächst ist der vertrackte Gebrauch zu beachten, den Gide von den grammatischen Zeiten macht. Der Leser sieht sich auf Anhieb mit einer direkten Rede in der Gegenwart konfrontiert. Jemand spricht zu ihm und sagt ihm, was er gerade tut, und zwar seit genau einer Dreiviertelstunde: auf seinen Freund Molle warten. In der Apostrophe »Und bedenken Sie […]« wird dieser Charakter der direkten Rede ausdrücklich betont (auf die absonderliche Konstruktion des mit der Anrede einsetzenden Syntagmas ist noch zurückzukommen). Der Sprecher markiert dann mit der Verwendung des Plusquamperfekts und des Imperfekts (grammatische Zeiten, die nach der Terminologie von Emile Benveniste sowohl zum discours — »Diskurs« — als auch zur histoire — »Geschichte« — gehören können3), eine Vorzeitigkeit (»dass er mich darum gebeten hatte«) und zwei abgeschlossene Handlungen (»dass ich zu früh eingetroffen war«, »ich wusste«). Anschließend wird die direkte Rede in der Gegenwart fortgesetzt, die nun nicht mehr eine sich vollziehende Handlung schildert (auf Molle warten), sondern zu einer Reflexion über Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit anhebt: »Es gibt Leute, die nicht pünktlich sein können. Aber […]«. In diesem Zusammenhang ist es gelinde gesagt recht merkwürdig, dass Gide, in einer kurzen Rückkehr auf die Ebene der eigentlichen Handlung, erneut auf das Imperfekt zurückgreift, das nun nicht mehr die Funktion erfüllt, eine Abgeschlossenheit oder Vorzeitigkeit auszudrücken, sondern als »Aorist des Diskurses«4 operiert: »Und während ich mich so erkältete, nährte ich bittere Reflexionen über das Menschengeschlecht, und über mich selbst.« Wenn der Griesgram nach der Kostprobe einiger Bitterkeiten schließlich zum Präsens zurückkehrt (»Es gefällt mir, dass Molle nicht zu diesem Rendezvous kommt«), könnte die Verwirrung kaum größer sein; die grammatische Zeit des Beginns, einer zuverlässigen direkten Rede in der Gegenwart, ist faktisch, das heißt sprachlich, aufgehoben; und der aus der vermeintlich handgreiflichen, präsentischen Situation resultierende Effekt einer vor den Augen des Betrachters sich abspielenden Szene zumindest stark beeinträchtigt.
Der zweite Paragraph beseitigt dann in einem kurzen Prozess, was von dieser vermeintlichen Zuverlässigkeit noch übrig war. Mit dem Syntagma »Ärgerlich nur, dass ich abends, mit meinem Schnupfen heimgekehrt« wird die direkte Rede zur Finte, sie wird nachträglich in eine Gegenwart der Vergangenheit verwandelt. Wie im Schluss des zweiten Abschnitts unmissverständlich festgehalten wird: Eine solche Verquickung grammatischer Zeiten »hat […] überhaupt keinen Sinn«, es sei denn eben den, die Aufrichtigkeit desjenigen, der im vermeintlich genau abgesteckten Rahmen eines Zusammen...