Gesa Lindemann
In der Matrix der digitalen Raumzeit
Das generalisierte Panoptikum
Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden wissen wir, welchen Umfang die staatliche Überwachung vor allem durch US-amerikanische und britische, aber auch durch französische und deutsche Geheimdienste hat. Dagegen erhebt sich in Europa ein vergleichsweise moderater Protest, der bislang weitgehend in den Medien stattfindet. Massendemonstrationen oder wirksame politische Aktivitäten gibt es nicht. In der medialen Debatte ist den großen IT-Firmen wie Google, Apple oder Microsoft zudem ein wichtiger Wandel gelungen. Während sie anfangs als Unternehmen dastanden, die mutmaßlich mit dem US-Geheimdienst NSA kooperieren würden, stehen sie nun eher selbst als Opfer der staatlichen Datensammelleidenschaft da. Die Kritik an der hemmungslosen staatlichen Datensammlung folgt jetzt dem Muster der traditionellen Kritik an der staatlichen Überwachung, die auch schon vor der technischen Realisierung des weltweiten Datenverkehrs geäußert wurde. Dieses traditionelle Kritikmuster verfehlt allerdings das Besondere der Überwachungspraxis im Internet. Es gerät aus dem Blick, dass auch die großen IT-Firmen eifrig Daten ihrer Nutzer sammeln, denn die Firmen möchten sich ihre Nutzer so transparent wie möglich machen. Nicht nur die Geheimdienste sammeln unsere Daten, »um uns zu schützen«, auch Google oder Amazon tun es, um uns individuell zugeschnittene Angebote usw. machen zu können.
Wenn man die allgemeine Datensammelei in den Blick nimmt, wird ein merkwürdiges Phänomen sichtbar. Im Netz sammelt jeder, der es technisch kann, über jeden, der das technisch nicht verhindert, so viele Daten, wie es ihm technisch möglich ist. Dass hierin etwas qualitativ Neues liegt, wird deutlich, wenn man die Aufmerksamkeit darauf lenkt, in welchem Ausmaß die technologischen Möglichkeiten der Vernetzung des gesamten Lebens in die digitale Welt gesteigert werden. Der damit einhergehende Umbruch ist wahrscheinlich nur mit der Erfindung der motorisierten und automobilen Fortbewegung zu vergleichen. Die allgemeine Motorisierung war das Symbol massenhafter Individualisierung. Jeder konnte sich autonom von Ort zu Ort bewegen und die räumlichen Grenzen seiner sozialen Herkunft verlassen. Das von einem Menschen gesteuerte Auto war/ist das Symbol individueller Freiheit, die sich erfolgreich sozialen Kontrollen entziehen kann.
Mit der Durchsetzung der Netztechnologie wird die Ära dieser individuellen Freiheit zu Ende gehen. Denn wir treten ein in die Ära der »Totalöffentlichkeit in der Matrix der digitalen Raumzeit«. Ich werde zunächst explizieren, was unter »Matrix der digitalen Raumzeit« zu verstehen ist, und dann die Indizien dafür anführen, dass wir in dieser Matrix wie in einer weltweiten totalen Öffentlichkeit existieren (werden).
Digitale Raumzeit als Form der Umweltbeziehung
Im Verlauf des 15. und 17. Jahrhunderts veränderte sich die Struktur der raumzeitlichen Erfahrung in Europa. Mit der Entwicklung des Schlagwerks für Uhren entstand eine Form der Zeitmessung, die unabhängig von situativen leiblichen Umweltbezügen war. Das mechanische Schlagwerk ermöglichte ein abstraktes Zeiterleben – unabhängig von aktuellen leiblichen Umweltbezügen, von den Rhythmen von Tag und Nacht beziehungsweise von den Rhythmen der Jahreszeiten. An die Stelle eines zeitlichen Rhythmus, in den sich Menschen einfügen, tritt eine exakt gemessene Zeit, die in kleine und kleinste diskrete Einheiten untergliedert werden kann: Stunden, Minuten, Sekunden, Millisekunden, Nanosekunden usw. Zeit wird als unendliche Abfolge unendlich kleiner Einheiten erfahren. Es ist nur eine Frage der Messgenauigkeit der Instrumente, wie klein die Einheiten sein können. Die modernen Atomuhren sind den Schlaguhren der frühen Neuzeit überlegen, aber das Prinzip der abstrakten mechanischen Zeitmessung ist gleich geblieben.
Seit dem 15. Jahrhundert entwickelt sich auch ein neues Verständnis des Raums. Dieser wird als ein dreidimensional kontinuierlich ausgedehntes Gebilde erfahren. Alle raumeinnehmenden Gebilde sind in diesem Sinne dreidimensional kontinuierlich ausgedehnt, und alle materiellen Dinge sind, insofern sie räumlich sind, nichts weiter als eben dreidimensional räumlich ausgedehnt. Dies ermöglicht ein neues Verständnis von Dingen und Grund und Boden. Dinge sind an sich ohne soziale oder affektive Bedeutung, eigentlich sind sie nichts weiter als räumlich ausgedehnt. Das Gleiche gilt für Grund und Boden. Auch sie sind wie alle anderen räumlich ausgedehnten Gebilde nichts weiter als räumlich ausgedehnt. Unter dieser Voraussetzung...