IX.
GELASSENHEIT
IST ERST
DER ANFANG
Was zeichnet alles Lebendige aus?
Es ist fragil, instabil und so ständig im Wandel.
Entscheidend ist die Balance, die Mitte.
Der Weg zum wahren Menschen
Bonpu Zen ist der funktionale Weg des Zen, der Menschen in ihrem Alltag direkt unterstützt. Der Mensch versucht durch diesen Weg des Zen, Hindernisse aufzulösen, Ziele zu verwirklichen, seine Fähigkeiten auf allen Ebenen zu verbessern. Früher war das Synonym für Bonpu Zen der Samurai-Weg, also sich durch den Schwertweg selbst zu verbessern. Heute ist es die Verbesserung auf allen Ebenen im Kontext unternehmerischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Qualitätsentwicklung. Früher, Anfang der 90er Jahre, war Bonpu Zen der Hauptgrund, warum Menschen zu mir zu Zen-Leadership-Seminaren kamen, heute, zwanzig Jahre später, ist dies die Minderheit.
Neben Bonpu Zen, dem funktionalen, auf Ziele ausgerichtetem Zen des Alltäglichen, gibt es noch zwei weitere Ausrichtungen. Da ist zunächst einmal Gedo Zen. Gedo Zen bezeichnet einen sehr persönlichen Weg. Oft gehen Bonpu und Gedo Zen ineinander über, sind nicht zu trennen. Gedo Zen ist der Weg, den wir als Mensch in der Welt gehen. Es geht dabei um die Entwicklung der eigenen Person: Wer bin ich inmitten meiner Welt? Wo ist meine Mitte? Aber im Gegensatz zum Bonpu Zen geht es nicht mehr um Ziele, um Wissen, sondern es geht um den Bereich des Nicht-Wissens.
Irgendwann erkennen wir, dass das Erreichen eines Ziels und die damit verbundene Freude nur von kurzer Dauer sind. Vielleicht entsteht sogar eine Leere, oder nur das Weitermachen bleibt, ohne eine Belohnung, nur ewiges Weitermachen im Hamsterrad von einem Ziel zum nächsten. Erkennen wir, dass das nicht die Grundlage des Lebens sein kann, dann sind wir einen großen Schritt weiter. Wir sind dann an dem Punkt, an dem wir sehen, dass Leben ein Prozess ist. Wir sind an der Schnittstelle, am Übergang zum Gedo Zen.
Das Leben ist nicht nur ein Abhaken von Zielen, sondern ein endloser Weg vollkommenen Wachstums. Jede Tätigkeit dient der Vervollkommnung unseres Wesens. Also auch unser Beruf, unser Sport, wie Golfspielen oder Joggen. Und auch das Heimkommen von der Arbeit gehört dazu, ebenso wie das Essengehen, Kochen oder Abwaschen. Egal, was wir tun – in allem leuchtet das Geheimnis der Welt auf. Das ist Gedo Zen. Gedo Zen ist die Öffnung meiner Persönlichkeitspotenziale. Wer bin ich? Was sind meine Stärken? Die Suche nach unserer Kernkompetenz liegt also in diesem Bereich, wenn wir dabei wirklich offen sind und das Unbekannte zulassen. Statt einer Haltung von „Ich bin und will mehr“ entstehen die Fragen: Wer bin ich als vollständiger Mensch? Was sind meine Fähigkeiten, was ist meine Kernkompetenz? Wer bin ich als Person, wenn ich in meiner Mitte bin? Deshalb bezeichnet man Gedo auch als den Weg der Entwicklung, Heilung und Verwirklichung unserer selbst als Mensch in der Welt, als den Persönlichkeitsweg. Oft ist dies die Vorstufe zu Daijo, dem dritten Aspekt, dem spirituellen Weg.
Es gibt im Gedo Zen zwei Ebenen: Die eine ist die der positiven Herausforderung. Das ist der Weg für den neugierigen, erobernden, erforschenden Menschen, den das Unbekannte, Neue reizt – besonders das Unbekannte in ihm selbst. Der Gedo Zen-Weg erwächst aus Stärke, Sensibilität, Feinsinnigkeit, offener Intelligenz und Lebenskraft. Freude und der suchende Geist selbst sind der Motor, um größere unbedingte Freude und größeren Geist zu suchen.
Die andere Ebene hat eine eher defensive Dimension. Sie ist eine mögliche Antwort auf eine Herausforderung, die durch Nöte oder Bedrängnis entsteht – sei es aufgrund von Arbeitsbedingungen, unerkannten Fähigkeiten, schwierigen Beziehungen oder einfach Bedingungen, die sich kontinuierlich verschlechtern, ohne dass wir wissen (oder wissen wollen) warum.
Wenn wir den Gedo Zen-Weg betreten, ahnen wir, dass es um das Unbekannte in uns selbst geht. Wir spüren, dass dies der Schlüssel zu allem ist, auch wenn die Dinge scheinbar allesamt nur von außen kommen. Es ist der Weg, der aus einem tiefen Unbefriedigtsein, aus einer äußeren oder inneren Erschütterung heraus entsteht. Dann, wenn alle Patentrezepte, oberflächlichen Floskeln und gutgemeinten Lebensweisheiten nicht mehr wirken.
Gedo Zen ist der Weg, sich selbst zu besiegen
Gedo Zen ist das Erforschen des Potenzials in uns. Es unterscheidet sich vom Bonpu Zen in einem ganz wesentlichen Punkt: Im Bonpu Zen wissen wir immer, was wir wollen – beispielsweise Prokurist werden. Wir wissen, welche Hindernisse es gibt und woran wir arbeiten müssen. Im Gedo Zen dagegen weiß ich überhaupt nicht, worum es letztlich geht. Das klingt etwas provokativ und ist für viele Menschen ein Bereich, in dem sie sich nicht wohlfühlen.
Vor einigen Jahrzehnten erforschten Persönlichkeiten wie Einstein, Planck, Sommerfeld, Heisenberg oder von Weizsäcker dieses Unbekannte. Wer meint, heute sei alles schon erforscht, schließt aus seiner eigenen Begrenztheit auf die Wirklichkeit. Gedo Zen ist keine intellektuelle Einstellung, nicht eine andere Perspektive, die man einnehmen kann, indem man beispielsweise über ein Buch nachdenkt. Gedo Zen ist genau wie Bonpu Zen ein praktischer Trainingsweg. Es ist ein Training, um das Unbekannte in uns selbst zu öffnen, zu erforschen, um festzustellen, dass in dem Maße, in dem wir uns selbst erforschen und uns selbst erobern, sich die Welt um uns herum öffnet, sich tiefer erforschen lässt und das Erfahrbare immer weiter wird.
In diesem Zusammenhang ist der Ausspruch zu verstehen: „Nicht wer tausend Helden auf dem Schlachtfeld schlägt, sondern nur der allein, der sich selbst besiegt, ist ein wahrer Held.“ „Sich selbst besiegen“ darf man jedoch nicht preußisch-deutsch als quälende Kasteiung auslegen. Es ist damit nicht gemeint, dass man durch einfachen Drill etwas Großartiges erreichen soll. Nein, es geht um etwas anderes. Es geht darum, das, was in uns liegt, zu erfahren und zu erforschen.
Dies ist oft nicht einfach zugänglich, weil wir mit bequemen Abläufen leben, in denen sich die immer gleichen Erkenntnisse und Erfahrungen wiederholen. Viele Wissenschaftler sind immer dann, wenn sie in eine wahre Wissenstiefe eingedrungen sind, auch gleichzeitig in die Tiefe ihres Selbst vorgedrungen. So war Carl Friedrich von Weizsäcker beispielsweise nicht nur Physiker, sondern auch Philosoph, der über die Grenzen der Physik hinaus an die Grenzen seines Selbst gekommen ist. Menschen wie er sind ein gutes und leuchtendes Beispiel für Gedo Zen.
In meinem persönlichen Training mit Führungskräften im Rahmen von Gedo Zen sind es vielleicht 30 bis 40 Prozent, die kommen, um eine Herausforderung zu suchen, oder spüren, dass ihr Leben nicht wirklich das ist, was zu ihrer Stärke und ihrer Persönlichkeit passt. Sie suchen einen wirklich großen Weg, im Wachstum der Persönlichkeit, im Wachstum in der Welt. Sie suchen das Neue, die Erfüllung in einer angemesseneren Aufgabe. Die Triebfedern sind Neugier, Stärke, Freude und die Suche nach Grenzen als formgebender Prozess der Selbstwerdung.
Der Großteil der Menschen aber wird durch eine Herausforderung, eine Erschütterung darauf aufmerksam gemacht, dass es vielleicht außer dem „Ich baue im Äußeren etwas auf“ auch etwas anderes gibt und dass dieses Äußere auch in gewissem Widerspruch steht zu dem, was wir ersehnen und erahnen. Ja, meist mehr noch, dass wir uns ohne Sinn im Äußeren verausgaben und irgendwann eine Grenze erreichen, wo es nicht weitergeht. Aus einem solchen Leidensdruck heraus – ob er beruflich, in privaten Beziehungen oder einfach nur aus einer tiefen inneren Befindlichkeit heraus entsteht – öffnet man die Augen und sucht keine kurzfristige Lösung, sondern einen wirklich grundsätzlichen Weg, eine grundsätzliche Alternative. Und im Zen sind wir selbst diese grundsätzliche Alternative.
„Ich kann den Preis für den Erfolg
nicht weiter zahlen“
Äußerungen von Führungskräften spiegeln diesen Aspekt wider: „Ich bin in meinem Business erfolgreich. Das Tagesgeschäft läuft. Und ich komme manchmal auch eine kleine Idee weiter als das, was von mir gefordert wird.“ Das Aber, das dann folgt, spiegelt den individuellen Grund für den Beginn von Gedo Zen wider. „Ich erreiche meine Ziele, ich mache meine Arbeit, ich komme auch ein Stück weiter, aber ich kann den Preis nicht mehr bezahlen. Definitiv nicht mehr.“ Und auch hier gibt es individuelle Varianten. Der eine sagt: „Ich komme nach Hause und bin so fix und fertig, ich kann mich nicht mal mehr um meine Kinder kümmern. Ich bin einfach kaputt und müde, ich empfinde meine Kinder dann als totale Belastung.“ Oder ein anderer bemerkt: „Ich bin gestresst, nervös, überaktiv, in meinem Kopf herrscht Krieg, außen läuft es, aber mein Körper, glaube ich, macht das nicht mehr lange mit.“ Oder: „In der Firma ist Chaos, wir haben gerade Menschen entlassen. Das belastet mich. Und ich habe überhaupt keine Beziehung mehr zu den Alltagsthemen. Meine Frau kommt zu mir und sagt: ‚Der Hund vom Nachbarn war wieder im Garten.’ Und ich empfinde das nur als trivial, als unbedeutend. Dabei ist es nicht unbedeutend, es ist einfach nur eine andere Welt.“ Jemand anders sagt: „Ich werde meinen Job gut machen, aber in ein oder zwei Jahren kostet es meine Familie.“ Ein nächster bekennt: „Ich stoppe mich nur noch durch zwei Flaschen Wein.“ Eine sehr ernste Variante ist, wenn Menschen sagen, sie wachen nachts auf und Gedanken rattern in ihrem Kopf. Das ist eine Dimension, in der sich über kurz oder lang physische Konsequenzen wie Burn-out oder Depressionen zeigen, die niemand will und die auf Dauer auch kein Gesellschaftssystem bezahlen kann.
In all diesen Fällen gibt es keine einheitliche Ursache, die mit ein paar Tipps und Handlungsanweisungen beseitigt werden könnte. Das heißt, die Gründe für diese individuellen Probleme sind nicht zu verallgemeinern, auch wenn es von außen oft so scheint. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, die ganz maßgeblich seinen Weg prägt. Daher sind oberflächliche Ratschläge wie: „Sie sollten etwas kürzer treten, ... machen Sie etwas Sport, ... trainieren Sie nach Methode XYZ“ nicht besonders hilfreich. Zen-Leadership ist ein individueller Weg, der eigene Weg. Man muss ihn nur finden. Das ist seit 2500 Jahren die Aufgabe des Zen.
Jeder Mensch hat seine eigene Energie
Die Ursache dafür, dass sich eine Menge Menschen im Berufsleben überfordert fühlen, liegt darin, dass die individuelle Art und Weise des Agierens abgeleitet wurde, übernommen wurde von einer anderen Person, einer Gruppe, einem Kollektiv, der Familie, falschen Lehrern und Vorbildern, wie zum Beispiel der Vater eines Freundes, der in seinem Job mit seinen Mitteln und seiner Art sehr erfolgreich war. Dieser Vater, dem unbewusst nachgeeifert wurde, war erfolgreich, aber er war auch ein ganz anderer Mensch, mit ganz anderen Möglichkeiten und gleichzeitig anderen Grenzen als der Sohn.
Es gilt, den eigenen Weg zu finden, deshalb hilft hier auch keine „Burn-out-Standardmethode“. Jeder Mensch hat einen ähnlichen und hat auch einen unterschiedlichen Weg. Darauf nimmt Zen Rücksicht, weil Zen ein individueller Weg ist, eben mein ganz eigener Weg.
Jeder Mensch hat seine eigene Energie, Dinge zu bewegen. Übernimmt man zu viele Verhaltensweisen eines anderen, geht man in eine Form, die nicht die eigene ist. Und das kostet dann Unmengen an Kraft, an Energie. Ich selbst habe so eine Situation erlebt: Anfang der 1990er Jahre hatte ich zwei Lehrer, die ihre Zen-Vorträge, wie in der japanischen Tradition üblich, aus dem Hara heraus hielten, also mit einer gewaltigen Power. Wenn sie sprachen, hatte ...