Im Sterben dem Leben begegnen
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Im Sterben dem Leben begegnen

Mut und Mitgefühl im Angesicht des Todes

  1. 288 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Im Sterben dem Leben begegnen

Mut und Mitgefühl im Angesicht des Todes

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Eine bewegende Meditation über die Palliativpflege... ein äußerst lesbares Buch, das Leser aller Glaubensrichtungen anziehen wird, die Joan Halifax' Klarheit und Mitgefühl schätzen werden sowie die Aussagekraft der Geschichten über ganz normale Menschen, die ihren letzten Stunden mit stillem Mut entgegensahen." Publishers WeeklyDie buddhistische Annäherung an den Tod kann für Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen von Nutzen sein – was Zen-Meisterin Joan Halifax über Jahrzehnte in ihrer Arbeit mit Sterbenden und ihren Begleitern immer wieder gezeigt hat. Dieses von traditionellen buddhistischen Lehren inspirierte Buch ist eine Quelle der Weisheit für alle, die einen sterbenden Menschen begleiten, ihrem eigenen Tod entgegensehen oder das transformierende Potenzial des Sterbeprozesses erforschen und betrachten wollen. Ihre Unterweisungen bestätigen, dass wir uns für unsere innere Stärke öffnen und allen, die leiden, helfen können, das auch zu tun.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783958831155

DRITTER TEIL
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Für denjenigen, der stirbt, ist die dritte und letzte Phase im Ritus des Übergangs die Begegnung mit dem Tod. Wir, die wir zurückbleiben, kehren fürs Erste in die gewöhnliche Welt zurück und setzen unsere Arbeit des Nicht-Wissens, der Anteilnahme und des liebevollen Handelns fort.
Der dritte Grundsatz, liebevolles Handeln, fordert uns auf, die einzelnen Teile unseres Lebens zu einem vollständigen Gewebe zusammenzufügen – alles anzunehmen, was geschehen ist, und nichts davon auszuschließen. Doch was bedeutet das? Buddhistische Nonnen und Mönche nähen ihre Roben aus weggeworfenen Stofffetzen. Genauso setzen Sterbende und alle, die sie begleiten und um sie trauern, die ausgefransten Fragmente der Erfahrung ihrer Reise zu einem vollständigen Gewebe zusammen.
Auf dem Pfad der Begleitung heilen wir, indem wir für uns und andere das tun, was getan werden muss. Für den sterbenden Menschen geschieht Heilung im Loslassen in das Unbekannte hinein, im Sein mit der mächtigen Unausweichlichkeit der elementaren Auflösung, in der Begegnung mit dem außerordentlichen Geschmack der Freiheit von allen Sorgen und Lasten, einschließlich der von Körper und Geist.
Als Trauernde heilen wir, indem wir durch unseren Verlust reifen und lernen, das, was fehlt, und die Veränderung anzunehmen. Das gebrochene Herz, das wir Kummer nennen – in dem sich unsere Verwandtschaft mit dem nun unsichtbaren anderen ausdrückt –, ist in Wirklichkeit eine Lotus-Blüte, die sich vom kalten und trüben Wasser der Trauer nährt. Trauer kann sich in Demut, Vertrauen und Zärtlichkeit verwandeln, wenn wir ihr mit Geduld und Respekt begegnen und eine gesunde Beziehung zu unserer Traurigkeit finden, ohne überwältigt zu sein.
Das ist die dritte Phase im Leben wie im Sterben: eins zu sein mit der vollständigen Wirklichkeit der Anteilnahme, der Annahme und der Trauer – die alle ein Ausdruck der Einheit mit der großen, subtilen Wahrheit dessen sind, was ist.

13. Durchgang zur Wahrheit

Aus der Furcht zur Befreiung

Was ich von jedem einzelnen sterbenden Menschen, den ich begleitet habe, lernen durfte, ist dies: Jeder Weg in den Tod ist einzigartig. So, wie jeder in seiner eigenen Weise lebt, so stirbt auch jeder auf seine Weise. Und doch haben unsere Probleme, wenn wir auf den Tod zugehen, eine gemeinsame Wurzel: die Furcht – Furcht vor der Veränderung, Furcht, unser abgetrenntes Selbst und alles, was uns zu gehören scheint, zu verlieren, Furcht vor dem unbekannten Terrain, das wir betreten. Im Folgenden beschreibe ich sechs häufige Reaktionen auf Tod und Sterben. Wenn wir sie betrachten, stellen wir fest, dass es keine »falsche« Art zu sterben gibt und wir Freiheit selbst in der schwierigsten Situation verwirklichen können.
Furcht vor dem Tod
Es ist ganz selbstverständlich, dass viele von uns mit Furcht reagieren, wenn wir zuerst mit der Wirklichkeit des Todes oder einer alarmierenden Diagnose konfrontiert werden. Wir fürchten Schmerzen und ihre Behandlung; wir fürchten den Verlust von allem, was uns lieb und teuer ist, einschließlich unserer Leistungsfähigkeit, unseres Besitzes, unserer Beziehungen, unserer Würde und unseres Lebens; und wir fürchten das Unbekannte – die Vernichtung unseres Selbst. Furcht steht oft im Hintergrund heroischer medizinischer Interventionen, um das Leben zu verlängern, ohne allerdings dabei die sich daraus ergebende Lebensqualität zu berücksichtigen.
Den Tod als natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren klingt einfach, wenn da nicht unsere Furcht vor dem Sterben wäre – und die Furcht vor dem Leben. Obwohl die Furcht ein schwieriges Hindernis sein kann, wenn der Tod näherkommt, kann sie uns auch zu einem Verbündeten werden, falls sie sterbende Menschen und ihre Angehörigen dazu bewegt, spirituelle Hilfe zu suchen, sobald die Medizin nur noch wenig anzubieten hat. Angst kann uns helfen, das zu betrachten, was wirklich wichtig ist, und unsere Prioritäten zu überdenken. Vielleicht entdecken wir dann inmitten unserer Furcht kostbare Wurzeln der Weisheit. Aus diesem Grund halte ich mich mit Urteilen über die Einstellung eines Menschen zum Sterben zurück – egal ob es sich dabei um Furcht, Verdrängung, Trauer, Rebellion, Akzeptanz oder um Befreiung handelt.
Viele von uns haben bereits tiefe Angst erlebt. Praxis hilft uns, mit unserer Furcht zu arbeiten, indem wir unseren eigenen Ängsten und denen anderer Raum geben. Indem wir Anteil nehmen, helfen wir Sterbenden, ihren Familien und Freunden, ihre Angst zu akzeptieren, in ihrer Umklammerung Herz und Geist zu öffnen, die Erfahrung anzunehmen und Nicht-Angst zu realisieren. Wenn wir den Mut aufbringen, unserem alten Bekannten Angst zu begegnen, kann das ein Tor öffnen, um unser Sterben vollständig zu leben. Auf diese Weise kann selbst eine furchtsame Reaktion auf das Sterben befreiend sein.
Den Tod verdrängen
Obwohl wir Verdrängung als eine wenig hilfreiche Reaktion auf gewisse Schwierigkeiten verstehen, kann sie durchaus eine positive Annäherung an eine katastrophale Situation darstellen. In der Verdrängung mag sich eine eigene Art von Weisheit ausdrücken.
Als Mary, die an Lymphknotenkrebs litt, zu mir kam, berührte mich ihr Aussehen sehr. Wegen der Chemotherapie hatte sie keine Haare mehr, keine Augenbrauen, keine Wimpern. An ihrem Nacken waren große Tumoren ausgebrochen, die sie wie ein schillerndes Reptil aussehen ließen.
Obwohl mir ihre Freunde gesagt hatten, dass sie ihre Situation verleugnete, bemerkte ich in ihrer Verdrängung etwas merkwürdig Strahlendes. In unserem ersten Gespräch lehnte sie sich zu mir und sagte: »Ich werde nicht sterben.« In diesem Moment spürte ich, dass sie die Wahrheit sprach. Wenn wir die Illusion, permanente und abgetrennte Wesen zu sein, durchschauen, können wir zu dem Schluss kommen, dass letztendlich niemand stirbt.
Später traf sich Marys Netzwerk von Freundinnen, insgesamt ungefähr 25 Frauen. Wir setzten uns zu einem Gesprächskreis zusammen, und ich stellte eine einfache Frage: »Was fühlt ihr?« Alle drückten ihre Enttäuschung und ihr Leiden aus. Ich konnte diesen Kreis gutherziger Frauen nicht kritisieren. Etwas lief einfach nicht gut für sie. Zum einen störte es sie, dass Mary ihre Situation verdrängte. Zum anderen waren sie nicht sonderlich gut organisiert, fühlten sich demoralisiert, und die Betreuung ihrer Freundin war unregelmäßig. Sie schienen in einer anderen Welt zu sein als Mary, aber zugleich liebten sie sie und wollten jetzt, da sie im Sterben lag, das Beste für sie tun.
Wir sprachen über das Problem der Verdrängung und darüber, dass Marys Weigerung, ihren bevorstehenden Tod anzunehmen, auch als Ausdruck ihrer Einsicht in die Todlosigkeit gesehen werden konnte. Ich hoffte, diese Perspektive würde ihnen helfen, Marys Verdrängung zu akzeptieren.
Wir hörten einander aufmerksam zu. Marys Freundinnen konnten ihre gemeinsamen Ängste und ihre Enttäuschungen nicht ignorieren, nachdem sie ausgesprochen waren. Indem sie einander zuhörten, änderte sich ihre Perspektive: Sie hatten jetzt Mitgefühl mit sich selbst und ein tieferes Verständnis dafür, wie ihre Freundin das Sterben betrachtete. Danach kümmerten wir uns um praktische Dinge und stellten einen Zeitplan auf.
In den darauffolgenden Wochen schien alles viel reibungsloser abzulaufen. Die Frauen erschienen pünktlich und bemühten sich, Mary so zu akzeptieren, wie sie war. Ich war auch Teil dieser Gruppe, und es war eine tiefe Befriedigung, mehrmals in der Woche bei Mary zu sitzen. Wir hörten gemeinsam Musik, saßen still beieinander und sprachen manchmal über einfache spirituelle Dinge. Mary verdrängte bis zum Moment ihres Todes. Sie starb friedlich. Ihre letzten Worte waren: »Ich werde nicht sterben.«
Es ist einfach, Verdrängung als einen neurotischen Zustand aufzufassen. Wenn wir jedoch Sterbende begleiten, können wir nicht wissen, ob das Leugnen nicht vielleicht auch eine positive, heilsame Funktion hat. »Die Schwierigkeit ist«, sagt der Philosoph Ludwig Wittgenstein, »die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.«17 In diesem Satz drückt sich wirkliches Nicht-Wissen aus. Tief in unserem Inneren wissen wir alle, dass wir sterben werden. Wenn wir unsere Hoffnung oder unsere Weisheit durch Verdrängung ausdrücken, wie Mary dies tat, ist das ganz allein unsere Angelegenheit. In manchen Situationen mag dies hilfreich sein und uns Frieden schenken. Die Verdrängung war in Marys Fall vielleicht Ausdruck ihres Wissens, dass ein Teil von ihr nie sterben würde. Nicht, dass ich das damals wirklich verstanden hätte, und auch heute, Jahre später, habe ich darüber keine Gewissheit, außer der, dass ihr Tod erstaunlich friedlich war.
Den Tod beklagen
Eine alarmierende Diagnose kann eine tiefe Wunde der Traurigkeit aufreißen, einen Schmerz über den bevorstehenden Verlust eines noch nicht voll gelebten Lebens. Ich sprach bereits über Ann, bei der ein Glioblastom, ein aggressiver Gehirntumor, festgestellt wurde. Sie war in ihren frühen Vierzigern und eine kreative Ärztin und Forscherin. Als sie ihre Diagnose erhielt, war sie mitten in einem Forschungsprojekt über genau den Tumor, der sie nun peinigte – eine merkwürdige Ironie. Meist war sie mutig, manchmal objektiv und hin und wieder tieftraurig.
Welche Geschenke konnte ihr diese tiefe Traurigkeit machen, fragte ich mich manchmal? Es war ein Schmerz, der für viele, die ihr beistanden, unerträglich war. Wer konnte jemanden trösten, dessen Herz so tief gebrochen war? Natürlich konnte das niemand, obwohl alle es versuchten.
Manchmal rief Ann mich an. Über das Telefon nahm ich dann Anteil an ihrer Trauer. Diese Trauer war wie dunkles Wasser, das aus einem tiefen Spalt in ihr aufstieg. Ihr Weinen war wie das einer Mutter, deren Kind gerade gestorben war, wie das einer Frau, deren Mann gerade im Krieg getötet worden war. Dieser Welle unerträglicher Traurigkeit folgte immer eine Welle der Erleichterung, die den Strand von allen Ablagerungen befreite. Weder versuchte ich sie zu stoppen noch zu trösten. Ich war einfach nur für sie da, was ihr half, die Unvermeidlichkeit ihres Todes und den Verlust von allem, was ihr lieb war, einschließlich ihres Mannes, ihrer Freunde, ihrer Arbeit und, zu guter Letzt, ihres Lebens, immer tiefer anzunehmen.
Obwohl es mir manchmal schwerfiel, an Anns Schmerz Anteil zu nehmen, begriff ich dennoch seinen Wert: Er half ihr, ihr Herz zu leeren, sodass es offen war, als die aktive Sterbephase begann. Wenn ihr die Möglichkeit, ihre Traurigkeit auszudrücken, genommen worden wäre – durch unnötigen Trost oder Ablenkung –, hätte ihr das einen Teil ihres Lebens genommen, den sie in ihren optimistischeren Jahren nicht artikuliert hatte. Anns ganz natürliche Traurigkeit half ihr, sich einem tiefen Mitgefühl zu öffnen – das schließlich zu ihrem Begleiter in den Tod wurde.
Dem Tod Widerstand leisten
Wenn der Tod als Feind gesehen wird, kann der Drang, ihn zu bekämpfen, stark und entschlossen sein. Einer meiner Freunde, der sich seinem Tod widersetzte, kämpfte bis zu seiner letzten Minute. Er tat alles Menschenmögliche, um sein Leben zu verlängern. Er nahm exotische Medikamente, unterzog sich ungewöhnlichen alternativen Heilverfahren, nahm Zuflucht zu tibetischen Praktiken, Visualisierungen, Gebeten, zum Schreiben und arbeitete fast bis zu seinem Todestag. Auf viele von uns wirkte sein Kampf inspirierend und erschreckend zugleich.
Buddhistischen Lehren zufolge ist die Chance, als Mensch zur Welt zu kommen, etwa so selten wie die Wahrscheinlichkeit, dass eine blinde Seeschildkröte, die nur alle hundert Jahre an die Meeresoberfläche kommt, ihren Kopf durch ein an der Wasseroberfläche treibendes goldenes Joch steckt. In diesem so kostbaren menschlichen Leben können wir anderen dabei helfen, ihr Leiden zu verwandeln, und wir können unsere eigene Erleuchtung erkennen. Obwohl Buddhisten die Unausweichlichkeit des Todes akzeptieren, werden die meisten Buddhisten, wie andere Menschen auch, alles tun, um ihr Leben zu verlängern.
Darin war mein Freund keine Ausnahme. Er widersetzte sich dem Tod, bis der Tod ihn holte – doch ich kann sagen, dass er in den Jahren, die er über seine Prognose hinaus lebte, vielen, sehr vielen von uns eine Hilfe war.
Den Tod akzeptieren
Mein erster Lehrer war ein Huichol-Heiler aus Mexiko, Don José Ríos, den wir Matsúwa nannten. Eines Morgens, als Matsúwa bereits sehr alt war, verließ er seine Hütte auf dem Gipfel eines Berges, um allein in der Wildnis zu sterben. Er akzeptierte seinen Tod, so wie er auch alles andere in seinem Leben akzeptiert hatte. Doch Matsúwas Familie war noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Nach ein paar Tagen verstanden sie, wieso er die Hütte verlassen hatte, und begannen, nach ihm zu suchen. Er lag unter einem Baum, weit vom Dorf entfernt – friedlich, schwach, ausgezehrt und bereit, alles loszulassen. Doch die Familie trug ihn ins Dorf zurück und überredete ihn, ins Leben zurückzukehren. Ich glaube, Matsúwa war sehr enttäuscht darüber, dass sein Plan vereitelt worden war. Er hatte seinen Tod akzeptiert, doch die Familie akzeptierte ihn nicht.
Diese Geschichte ist nicht so unüblich. Ich bin sehr vielen Menschen begegnet, die wiederbelebt wurden und danach ärgerlich oder enttäuscht darüber waren, dass man ihnen nicht erlaubt hatte, dem Tod nach ihren eigenen Vorstellungen zu begegnen. Den Tod zu akzeptieren erfordert tiefe Geistesgegenwart und die radikale Fähigkeit, das anzunehmen, was jeder Moment mit sich bringt, einschließlich der Möglichkeit, vom Tod noch einmal verschont zu werden.
Befreiender Tod
Die vielleicht wunderbarste, aber auch seltenste Reaktion auf den Tod ist die der Verwirklichung der Befreiung. Unterschiedliche spirituelle Traditionen betrachten den Tod als wertvolle und einmalige Gelegenheit, Erleuchtung zu erlangen. Doch auch wenn die Erleuchtung im Moment des Todes nicht verwirklicht wird, bringen uns bereits die Praktiken, die uns auf diese Möglichkeit vorbereiten, dem Kern des Lebens näher.
Indem wir die Wirklichkeit der Unbeständigkeit annehmen, transformieren wir unsere Beziehung zu Tod und Sterben. Wenn wir wirklich erkennen können, dass wir alles verlieren, was uns am Herzen liegt, werden wir nicht mehr so viel Angst vor dem Tod haben. Wir begreifen ihn dann als Teil eines natürlichen Kreislaufs. Die Einsicht in die Unbeständigkeit führt bereits zu einer tiefen Befriedung unserer Leidenschaften und Aggressionen und kann uns dazu inspirieren, anderen helfen zu wollen. In den Zeremonien des Zen heißt es dazu: »Jetzt habt ihr die Welt der Unbeständigkeit verwirklicht – dies ist selten und unergründlich.«
Nicht nur große Lehrer sterben erleuchtete Tode. Gisela war bereits zum zweiten Mal an schwarzem Hautkrebs erkrankt, und die Ärzte teilten ihr schließlich mit, dass sie nichts mehr für sie tun konnten. Sie war fünfundsiebzig, hatte viele Jahre lang intensiv Meditation geübt und war ein wirklich altruistischer Mensch. Auch wenn ihre Erkrankung sie manchmal traurig machte, war sie doch sehr realistisch und annehmend. Als ihr gesagt wurde, dass der Krebs ihr Knochenmark überwuchert habe, sagte sie still und irgendwie erleichtert: »So ein Mist!« Später, als sie mit mir sprach, meinte sie: »Es ist weniger schwer, als ich es mir vorgestellt hatte.«
In den kurzen sechs Tagen zwischen abschließender Diagnose und ihrem Tod war jede Begegnung mit ihr mit Frieden und Freude angefüllt. Ab und zu tauchte sie aus den Tiefen ihres Sterbens auf und drückte Freude gegenüber jenen aus, die an ihrer Seite waren. Alle, die wir in ihren letzten Tagen an ihrem Bett wachten, konnten wir deutlich sehen, wie sie mit Mut und Leichtigkeit auf ihren Tod zuging. Ihr Körper löste sich leicht los, und der Moment ihres Todes war strahlend – ein Regenbogen stand über ihrem Haus, als sie starb. Nach ihrem Tod saßen wir noch mehr als drei Tage bei ihr. Ihr Körper behielt eine ungewöhnliche Frische und Schönheit; ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Wir spürten alle, dass etwas Außerordentliches geschehen war. Ihre Befreiung war spürbar.
Ein Mensch, der frei von Furcht ist, versteht auf der tiefsten Ebene der Einsicht, dass es kein Leiden, keine Geburt, keinen Tod gibt. Jeder Moment ist neu und vollkommen – genau jetzt wird er geboren, genau jetzt stirbt er. Alle Phänomene sind in Bewegung. Auf den Wellen der Unbeständigkeit reitend, setzen sich die Elemente zu Formen zusammen und lösen sich in die Formlosigkeit auf. In gewisser Hinsicht werden wir nie geboren und werden niemals sterben.
Der tibetische Yogi Milarepa fürchtete den Tod, weil er einst ein unmoralisches Leben geführt und Menschen umgebracht hatte. Er wusste, dass im Sterbe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Einführung: Die Trennung heilen
  7. ERSTER TEIL. UNBEKANNTES TERRAIN
  8. ZWEITER TEIL. FURCHTLOSIGKEIT SCHENKEN
  9. DRITTER TEIL. DEN RISS IM GEWEBE FLICKEN
  10. Nachwort: Einssein mit dem Sterben
  11. Fußnoten
  12. Danksagung
  13. Über die Autorin