1. Einleitung
1.1 Methodisch
1.1.1 Thema
„Die Juden haben wir ihnen ja nun beseitigt, bei den Altgläubigen und Polen gehen ihre Ziele konform mit unseren. Nun kommt das Problem der Russen. Auch diese möchte man nun bei der Gelegenheit aus Lettgallen herausbringen. Es wird von lettischer Seite mit allen Mitteln versucht, dieses Ziel, das ihnen in den 20 Jahren nicht gelungen ist, nun zu erreichen und durchzusetzen mit Hilfe und auf die Kappe der Deutschen“1.
Zu dieser Einschätzung kam der deutsche Gebietskommissar in Dünaburg (Daugavpils) Friedrich Schwung im Sommer 1942. Schwung bezog sich auf die „Lettgallenaktion“, bei der etwa 8000 Zivilpersonen aus der im Osten Lettlands gelegenen Region Lettgallen (Latgale) unter der organisatorischen Regie der deutschen Arbeitseinsatzverwaltung für den „Reichseinsatz“ deportiert worden waren. Diese „Aktion“ besitzt gewissermaßen exemplarische Funktion der historischen Problematik der deutschen „Arbeitseinsatzpolitik“ in den drei baltischen Generalbezirken. Das nationalsozialistische Verwaltungskonstrukt „Reichskommissariat Ostland“, das am 17. 7. 1941 ins Leben gerufen wurde2, umfasste neben den drei baltischen Bezirken noch den Generalbezirk Weißruthenien, der sich jedoch nicht nur bezüglich der „Arbeitseinsatzpolitik“ von der Besatzungsherrschaft im Baltikum gravierend unterschied3. Hier war die deutsche Besatzungspolitik deutlicher von der auf der Idee des „Untermenschentums“ basierenden Politik bestimmt. Doch auch die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum war alles andere als eine nur auf die Zustimmung der Zivilbevölkerung abzielende Strategie, wie folgende im Zitat Schwungs deutlich werdende Problemfelder aufzeigen:
• Die menschenverachtende Qualität der deutschen „Arbeitseinsatzpolitik“4: Wie in dem Zitat deutlich wird, stellte das Baltikum keine Ausnahme dar. Im Gegenteil, die Versuche auch aus dieser Region einen größtmöglichen Nutzen für die deutschen Kriegsanstrengungen zu gewinnen, stellen einen exemplarischen Fall für die allgemeine deutsche „Arbeitseinsatzpolitik“ dar.
• Die rassenideologische Komponente der „Arbeitseinsatzpolitik“: Schwung stellt in diesem Zitat unmissverständlich die inhaltliche Verknüpfung zwischen Rekrutierung von Arbeitskräften und dem Kriterium von ethnischen Gruppen als potentielle Opfergruppen her. Wie am Beispiel des „Arbeitseinsatzes“ von Fremdarbeitern im Reich schon hinlänglich gezeigt5, war die Praxis des nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzes“ massiv von einer auf rassenideologischen Grundsätzen basierenden Hierarchie begründet. Auch diesbezüglich war das Baltikum keine Ausnahme. Und trotzdem war diese Region in gewisser Weise ein Spezialfall, wie die Definitionsgrenze des Ostarbeitstatus‘ verdeutlicht6: Denn Arbeitskräfte aus dem Baltikum – einschließlich der slawischen Minderheiten – galten nicht als „Ostarbeiter“. Und doch gab es „Ostarbeiter“ im Baltikum7 – eine widersprüchliche Situation, auf die einzugehen sein wird.
• Die Verbindung der „Arbeitseinsatzpolitik“ mit dem System der „Vernichtung durch Arbeit“8: Wie durch den Verweis Schwungs auf die Vernichtung der Juden dargelegt, ist diese Politik auch unmittelbar im Zusammenhang des Holocaust zu verstehen9. Das Zitat Schwungs zeigt, wie gleichgültig physische Vernichtung („die Juden haben wir ihnen ja nun beseitigt“) mit der Deportation zum „Arbeitseinsatz“ von Menschen gleichsetzt wurde. Die Berücksichtigung des Holocaust und des jüdischen „Arbeitseinsatzes“ ist für das Baltikum10 auch deshalb von großer Bedeutung, da sich die einzigen KZs auf sowjetischem Territorium im Baltikum befanden und das KZ Kaiserwald in Riga sowie die Ölschieferabbaustätten Estlands zu den wichtigsten Schauplätzen von jüdischer Zwangsarbeit zählten11.
• Gestaltungsspielräume der „landeseigenen Verwaltung“: Schwungs Beschwerde über den Versuch der Beeinflussung der deutschen Besatzungspolitik durch lettische Kräfte verweist auf die Tatsache, dass der deutschen Besatzungsmacht nur begrenzte machtpolitische Mittel zur Verfügung standen. Hierbei ergeben sich Fragen sowohl nach der Reichweite der deutschen Aufsichtsverwaltung bei der Umsetzung politischer Ziele als auch nach Formen von Kollaboration12 und Widerstand, die Relevanz für das weite Forschungsfeld der Kollaborationsforschung anhand des exemplarischen Falls der Arbeitseinsatzverwaltungen besitzen13.
• Ethnische Konflikte: Die Relation von Rasse- und „Arbeitseinsatzpolitik“ fand in Lettland, wie das Zitat Schwungs zeigt, vor dem Hintergrund eines bereits bestehenden ethnischen Konfliktes statt, der insbesondere zwischen dem lettischen und slawischen Bevölkerungsteil schwelte14. Ähnliche angespannte Situationen bestanden auch in den beiden Nachbarländern Lettlands zwischen den Mehrheitsbevölkerungen und den slawischen Minderheiten15.
All diese Punkte bilden nicht etwa in sich abgeschlossene Problemfelder, sondern bedingten sich wechselseitig und entwickelten eine interdependente Dynamik, welche die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum kennzeichnete. Beispielsweise verschärfte die nationalsozialistische Rassedoktrin die interethnischen Konflikte ebenso, wie die menschenverachtenden Züge der deutschen „Arbeitseinsatzpolitik“ die Beziehungen zu der „landeseigenen Verwaltung“ belastete. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die hier vom Gebietskommissar Schwung suggerierte Einheit der deutschen Besatzungspolitik insbesondere auf dem Feld der „Arbeitseinsatzpolitik“ eine Illusion und alles andere als geschlossen war. Ganz im Gegenteil wurde sie zum Austragungsort von machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen einer Vielzahl von deutschen und nicht deutschen Akteuren. Dass das Charakteristikum der Widersprüchlichkeit die „Arbeitseinsatzpolitik“ kennzeichnete, war also nicht nur das Ergebnis einer in sich wechselhaften und unentschlossenen Politik, sondern auch Folge von Zielkonflikten, welche die unterschiedlichen Akteure der deutschen Besatzungspolitik untereinander austrugen16.
Relevanz des Themas – Erkenntnisgewinne:
Die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum wird hier als exemplarisches Untersuchungsfeld der nationalsozialistischen Herrschaft in ihrer Gesamtheit verstanden und bewertet, eingebettet in umfassendere Fragen der Forschung zur nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ – eine Politik, die zu keinem Zeitpunkt eine zur Ruhe kommende Balance zwischen den beiden Gegenpolen von rassenideologischen Vorstellungen und kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten gefunden hat17.
In diesem Sinne liefert diese Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ mittels der diesbezüglich bisher unberücksichtigten Region des Baltikums. Denn gerade vor diesem Hintergrund des Gegensatzes von rassenideologischer Doktrin und kriegsökonomischen Überlegungen spielte insbesondere das Baltikum eine aufschlussreiche Rolle. Es waren die baltischen Länder, in denen sich die nationalsozialistische Herrschaft in einem andauernden Schwebezustand zwischen Repressionsmaßnahmen und Kooperationsversuchen befanden18. Nur das Ziel der größtmöglichen Ausnutzung der heimischen Ressourcen für die deutschen Kriegsanstrengungen war kleinster gemeinsamer Nenner der deutschen Besatzungspolitik, was sich insbesondere in der „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum zeigen lässt.
Auch kann die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum als exemplarisches Analysefeld für die allgemeine deutsche Besatzungszeit auf dem Territorium des Baltikums gesehen werden und in dieser Funktion Erkenntnisse für die regionalhistorische Forschung zum Baltikum liefern. In diesem Kontext ist vor allem an das Themenfeld der interethnischen Beziehungen in dieser Region zu denken, das insbesondere durch die Problematik der Kollaborationsfrage innerhalb der Arbeitsverwaltung eine nicht zu unterschätzende Brisanz besitzt, was unter anderem an der bis heute höchst unterschiedlichen Wahrnehmung dieser Zeit durch Angehörige der slawischen Minderheiten im Baltikum im Vergleich zu den baltischen Mehrheitsbevölkerungen ersichtlich ist19.
Zum Verständnis dieser beiden hier ausgeführten Herangehensweisen ist eine Einführung in den Bezugsrahmen der historischen Verortung des Baltikums am Vorabend des deutschen Angriffs notwendig, um die spezifischen regionalen Begebenheiten hinreichend zu berücksichtigen. Dabei ist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Aufeinanderfolge der recht kurzen Unabhängigkeitsphase und der einjährigen sowjetischen Herrschaft unmittelbar vor der deutschen Okkupation zu verweisen – ohne deren Erwähnung und Behandlung viele Aspekte der deutschen Besatzungszeit unverständlich bleiben würden20. Auch müssen die charakteristischen Merkmale des NS-„Arbeitseinsatzprogramms“ im Allgemeinen skizziert werden, um so die Grundlage für eine vergleichende Perspektive zu schaffen, welche die besondere Rolle der Region des Baltikums in der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ erst deutlich zu machen vermag.
1.1.2 Allgemeine Fragestellungen
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Spannungsverhältnis zwischen normativen und planerischen Zielvorstellungen einerseits sowie der praktischen Umsetzung des „Arbeitseinsatzes“ und der Rekrutierungspraxis in den drei baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland andererseits. Zentral ist dabei der Umstand, dass sowohl die Diskussion um die normativen Vorgaben, als auch die Praxis des „Arbeitseinsatzes“ von massiven Zielkonflikten der an der „Arbeitseinsatzpolitik“ beteiligten Akteure gekennzeichnet war. Diese Zielkonflikte erwuchsen unter anderem aus der Konkurrenzsituation zwischen der Ausnutzung von baltischen Arbeitskräften im Reich oder im Baltikum. Im Ergebnis war sowohl die Differenz zwischen normativen Vorgaben und „Arbeitseinsatzpraxis“ immens, als auch die Praxis des „Arbeitseinsatzes“ selbst von markanten Widersprüchen beispielsweise bezüglich der Statuszuschreibung einzelner Betroffenengruppen durchzogen.
Konzept der Gliederung und spezifische F...