Weshalb die Herren Seesterne tragen
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Weshalb die Herren Seesterne tragen

  1. 190 Seiten
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Weshalb die Herren Seesterne tragen

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Über dieses Buch

Longlist des Deutschen Buchpreis 2016Karl, ein pensionierter Lehrer, macht sich eines Tages auf, herauszufinden, was das Glück sei. Einen nur leicht veränderten Fragebogen im Gepäck, mithilfe dessen seit 1979 das ›Bruttonationalglück‹ in Bhutan ermittelt wird, lässt sich der Glücksforscher in einem schneelosen Skiort nieder, dessen Bewohner er nun in unbekanntem Auftrag nach ihrer Lebenszufriedenheit befragen will. Das Hotel Post, in dem Karl als einziger Gast unterkommt, wird bewirtschaftet von einer namenlosen Frau und ihrer Hündin Annemarie. Von hier aus beginnt er seine Forschungen, unterbrochen von konfliktgeladenen Telefongesprächen mit seiner Frau Margit. Bald erhält seine Reise Züge einer Flucht, und der Fragende wird unmerklich zum Objekt der Befragung anderer.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783957573605

Hundertdreizehn Kilometer

Hier ist eine Tankstelle wenigstens eine Tankstelle, denkt Karl, als er das Zapfventil zurückhängt und die Nummer der Säule liest. Fünf, er wiederholt die Zahl, während er sein Portemonnaie sucht. Neben ihm steigt ein Mann in ein rotes Auto, auf dessen Dachträger ein Vogelhaus befestigt ist. Das Auto ist klein und das Vogelhaus groß, aber nicht so sehr, dass es im Wageninneren keinen Platz gefunden hätte. Der Mann gibt Karl ein Handzeichen, das so aussieht, als ob er erst losfahren würde, nachdem Karl die Fahrbahn überquert hat, aber sicher ist sich Karl nicht. Er bedankt sich mit erhobener Hand und geht langsam zur Schiebetür.
Vorigen Winter wollte Karl ein neues Vogelhaus kaufen, aber dann besorgte Helmut ein Stück Blech, mit dem sich die Futteröffnung wieder verschließen ließ, was Margit freute, weil sie das Vogelhaus so sehr mag, es war ein Geburtstagsgeschenk. Als sie nach der Tanzaufführung nach Hause kamen, als sie gesagt hatte: Komm, wir gehen in den Garten, nahm Margit Karl an der Hand. Karl legte den Arm um sie, aus Angst, sie könnten fallen. Margit blieb vor dem Vogelhaus stehen, es war eine helle Nacht, sie schwankte und sie sagte: Ich möchte auch in etwas so Schönem wohnen. Wie meinst du das?, fragte Karl, wir leben doch in einer schönen Wohnung. Margit sah ihn eine Weile an, dann nahm sie das Vogelhaus in beide Hände, sie drückte es fest an ihren Körper und schüttelte den Kopf.
Karl tritt einen Schritt zurück, er hält das Portemonnaie in der rechten Hand, einen großen Schritt zurück und zwei kleine nach vorn, dann öffnet sich die Tür. Auch wenn diese Tür sich nur zaghaft bewegt, ist es hier besser als dort. In der Tankstelle läuft Musik, es riecht nach aufgebackenem Brot, Karl sucht die Regale ab, er ist hungrig. Wenn man sechs Wochen immer zur selben Zeit ausgiebig gefrühstückt hat, stellt sich der Hunger pünktlich ein. Fünf, sagt er an der Kasse, er legt der Verkäuferin eine Packung Waffeln hin, und bitte ein Croissant und einen Kaffee. Bei der Wirtin gab es das besondere Gebäck erst, nachdem Hirsch gekommen war, sie baute dann jeden Morgen das Buffet auf. Hirsch aß drei Spiegeleier, manchmal auch zwei. Ein Gebäck und ein Kaffee, hört Karl die Wirtin sagen, als er seinen Einkauf zum Auto trägt, sind Sie sicher, dass Ihnen das genügt? Ich habe auch eine Packung Waffeln gekauft, ich werde bald bei meiner Margit sein, wir werden zu Mittag essen, es ist nicht mehr weit. Aber so genau wissen Sie das nicht. Ich kenne die Strecke. Nicht die Strecke, das Mittagessen, Herr Hellmann, Achtung, der Autositz.
Im Herzen Sibirien
Ich bin seit sechs Uhr wach, hört Karl Hirsch durch die Gaststube rufen, wenn es nach mir ginge, bräuchte die Welt keine Wecker. Gut, dass nicht alle Menschen so sind, das Frühstück gibt es auch morgen nicht vor acht, antwortet die Wirtin und Karl freut sich, dass Hirsch jetzt nicht mehr besser behandelt wird als er. Vielleicht liegt es am Wochenrhythmus, wer länger als sieben Tage bleibt, gehört zum Haus. Karl hört Hirsch erzählen, dass es seiner Frau besser geht, dass sie beschlossen hätten, länger zu bleiben, um die verpassten Urlaubstage nachzuholen, die Wirtin hätte ohnehin genügend Zimmer frei. Hirsch lacht, die Wirtin nicht und Karl hustet, um auf sich aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen, dass auch er heute schon hier ist.
Haben Sie schlecht geschlafen?, fragt die Wirtin, als sie zu seinem Tisch kommt, es liegt etwas in der Luft. Karl schüttelt den Kopf und Annemarie kriecht unter der Bank hervor, um die Wirtin zu begrüßen. Er könnte von seiner Nacht erzählen, von der Angst, die er hatte, das Licht auszuschalten, von der Angst vor der Dunkelheit und den Gedanken darin. Von Annemarie, die irgendwann unter seine Decke kam und dort bis zum Morgen blieb. Möchten Sie ein weiches Ei, Sie sehen müde aus. Nein, danke, an Wochentagen esse ich keine Frühstückseier mehr. Das weiß ich, und das ist vernünftig, aber Sie sehen schlecht aus, schlechter als je zuvor. Danke, antwortet Karl, es ist noch früh, nach einer Tasse Kaffee wird alles anders sein.
Hirsch trägt den roten Pullover wie an den Tagen zuvor, aber heute hat er ein Tuch um seinen Hals gewickelt. Es geht etwas um, sagt die Wirtin, als sie den Kaffee bringt, geben Sie gut auf sich Acht, mein Hals kratzt auch ein wenig. Jedes Jahr in der letzten Novemberwoche, zuerst beginnt es mit einem Kratzen und ein paar Tage später ist die Stimme weg. Versuchen Sie, ohne Stimme ein Gasthaus zu führen, es wird Ihnen nicht gelingen. Aber so viel Betrieb haben Sie nicht, möchte Karl antworten, doch die Wirtin hat die Augenbraue schon hochgezogen und setzt sich neben ihn auf die Bank. Schmeckt es?, fragt sie, ich habe dieses Mal die bessere Marmelade gekauft. Sehr gut, antwortet Karl, er kaut und schluckt, es ist ihm unangenehm, so nahe neben der Wirtin zu frühstücken. Hirsch liest Zeitung, er verhält sich, als bemerke er nichts von dem Gespräch, und die Wirtin vergewissert sich mit einem kurzem Blick, ob es tatsächlich so ist. Es ist alles nur eine Frage der Taktik, hört Karl Margit sagen, er denkt: Wenn er wirklich läse, hätte er längst umgeblättert. Margit, du wärst der bessere Karl.
Wie ist es mit der Nachbarin gewesen?, fragt die Wirtin, sie flüstert fast. Das Interview war doch schon vorgestern, antwortet Karl und beißt in sein Brot. Sie werden sich aber noch erinnern können. Kann ich, aber warum fragen Sie heute danach? Gestern ist keine Zeit gewesen. Karl schaut auf die Zeitung, die vor ihm liegt. Gut ist es gewesen, murmelt er. Gut, wiederholt die Wirtin und schüttelt den Kopf, was hat sie erzählt? Karl blickt nicht auf, er zuckt mit den Schultern. Früher sind die Gäste freundlicher gewesen. Wie bitte? Nichts, sagt die Wirtin. Ich bin hier in dieser Gaststube aufgewachsen, ich kenne die Menschen. Ich weiß, wie sie vor dem ersten Kaffee aussehen und wie sie sich verhalten, wenn sie etwas verbergen möchten. Wir hatten viele Gäste. Früher, als die Busse noch kamen, gab es welche, die Jahr für Jahr hier waren, zehn, fünfzehn Jahre, wir ehrten sie beim Abendessen, wir überreichten eine Flasche Schnaps und einen Kranz Wurst, wir sagten: Es freut uns, dass Sie uns so lange die Treue halten. Meine Schwester und ich hatten die Haare zu Zöpfen geflochten, die Eltern überreichten die Geschenke und eine Urkunde, die anderen Gäste klatschten laut. Es durfte nicht zu lange dauern, weil alle hungrig waren. Ein Händedruck, ein Foto, dann wurde das Essen serviert.
Warum kommen sie nicht mehr?, fragt Karl und streicht Butter auf das Brot. Sie sind tot oder schlecht auf den Beinen, die können nicht mehr so weit fahren, was sollten sie hier. Die Wirtin schaut hinüber zu Hirsch, der weiterhin aussieht, als würde er Zeitung lesen. Möchten Sie noch Kaffee, Herr Hirsch?, ruft sie durch den Raum. Hirsch starrt auf die Zeitungsseite und antwortet nicht. Das macht er gut, denkt Karl, das macht er wirklich gut.
Einmal setzte einem bei der Gästeehrung das Herz aus, sagt die Wirtin, aber das ist lange her und er hat sich davon wieder erholt, zumindest bis zum nächsten Jahr, da kam er wieder. Es hätte mir sonst das Herz gebrochen, sagte er und meine Eltern lachten mit ihm. Vergiss nicht, flüstert die Wirtin, sie spricht zu sich selbst: Lache, wenn die Gäste lachen, ob die Backen davon schmerzen, spielt keine Rolle.
Nachdem sie ein Kreuzzeichen gemacht hat, schlägt sie so fest auf den Tisch, dass selbst Hirsch erschrickt, sie sagt: Ich muss weitermachen, aber eines noch: Sie sollten Ihre Gesprächspartnerinnen sorgfältig auswählen, die Leute reden schnell, aber das Gerede soll Sie nicht durcheinanderbringen. Welches Gerede? Sie wissen von nichts?, fragt die Wirtin, Sie haben wirklich von nichts gehört? Dann ist es besser, wenn es so bleibt. Was?, fragt Karl, er sagt es laut und tief, und Annemarie bellt.
Ich habe keine Gerüchte gehört, flüstert Hirsch, als die Wirtin in der Küche verschwunden ist. Ich wäre mir nicht sicher, ob das stimmt, vielleicht steckt etwas anderes dahinter, eine Eifersucht, eine alte Geschichte, man weiß nie. Ich bin kein misstrauischer Mensch, sagt Karl, er fragt: Ich dachte, Sie haben Zeitung gelesen? Ich habe die Zeitung angeschaut, was darin steht, höre ich ohnehin im Radio, es ist in den letzten Tagen viel zu laut aufgedreht. Unter gewöhnlichen Umständen würde mir das nicht auffallen, aber jetzt, wo meine Frau weg ist, höre ich das doch sehr.
Hirsch hält ein Stück Semmel unter den Tisch und Annemarie läuft zu ihm hinüber. Das macht man nicht, sagt Karl, man soll Hunde nicht beim Tisch füttern, vor allem nicht ohne vorher zu fragen. Das Betteln ist angeboren, der Hund hofft, dass der Ranghöhere etwas für ihn übrig lässt, das ist klassisches Rudelverhalten. Geht dieser Hund denn nie hinaus? Nein, das mag sie nicht. Wir hatten auch einen, sagt Hirsch, das ist lange her, aber er war gern im Freien. Wie werden Sie Ihren Tag verbringen, Herr Hellmann, was halten Sie davon, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste? Wir könnten Ihren Freund besuchen, nach neuen Interviewpartnerinnen suchen, wir könnten an Ihrer Fragetechnik arbeiten und uns über die Glücksforschung unterhalten.
Über die Glücksforschung unterhalten, wiederholt Karl, er lacht und hofft, dass Hirsch bemerkt, dass er seine Vorgehensweise durchschaut hat. Unter gewöhnlichen Umständen wäre es mir eine große Freude, mit Ihnen über mein Fachgebiet zu sprechen, aber ich spüre ein Kratzen im Hals. Es hat gestern Abend begonnen und seither stark zugenommen, ich werde den heutigen Tag im Bett verbringen. Ich werde Ihre Sache vorantreiben, sagt Hirsch, er erhebt sich langsam, klopft Karl auf die Schulter und geht aus der Gaststube hinaus. Frage eins, hört Karl ihn sagen, wie alt sind Sie, woher kommen Sie?
Sie bleiben zu Hause?, fragt die Wirtin, als sie wieder in die Gaststube kommt, ich dachte, es geht Ihnen gut. Sie haben doch in der Küche Geschirr eingeräumt, wie konnten Sie hören, was wir reden? Ich habe gute Ohren, antwortet die Wirtin, die braucht man im Gastgewerbe. Mein Hals, sagt Karl, ich spüre ihn doch. Das tut mir leid, aber – die Wirtin steht zwei Meter von Karls Tisch entfernt, in der rechten Hand trägt sie ein Tablett, die linke stemmt sie in die Hüfte – aber so kommen Sie nicht weiter, Herr Hellmann, so wird das nichts, so werden Sie auch in fünf Jahren zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kommen. Sie geht zum Tisch, an dem Hirsch zuvor gesessen hat, sie stopft die Serviette in die Tasse, sie räumt das Geschirr auf das Tablett und wischt die Brösel vom Tisch. Dann trägt sie das Tablett in die Küche.
Haben Sie von dem Vortrag gehört?, fragt Karl, als die Wirtin mit einer Schachtel zurückkommt, er bemüht sich um einen freundlichen Ton. Aus seiner Hosentasche zieht er den Zettel, den M1 ihm gegeben hat. Im Herzen Sibirien, beginnt er zu lesen. Selbstverständlich, unterbricht ihn die Wirtin, ich habe meine Karte längst gekauft, die Lichtbildervorträge sind sehr beliebt. Lichtbildervorträge?, fragt Karl. Ja, Lichtbildervorträge. Der Herr, darf ich auch hier keinen Namen nennen? Karl schüttelt den Kopf: Besser nicht. Gut, sagt die Wirtin und stellt die Schachtel ab. Der Herr ist aus dem Nachbarort, aber er lebt nicht hier, er ist in der Welt zu Hause, wie er sagt. Jeden Herbst kommt er zurück und erzählt, wo er war, abseits der üblichen Pfade, dort, wohin sich die wenigsten wagen, einige Male ist er dem Tod entronnen, aber bis jetzt war er jeden Herbst wieder hier. Dem Tod entronnen?, fragt Karl und lacht, die Wirtin schaut ergriffen. Wochenlang ist er mit den Bildern und Geschichten unterwegs, dann bricht er zur nächsten Reise auf. Mit ihm sollten Sie sprechen, er könnte Ihnen viel erzählen. Hat Ihnen Ihr Freund auch eine Karte gegeben? Nein? Dann besorge ich eine, das müssen Sie gesehen haben, Sie haben am Wochenende ohnehin nichts vor.
Karl bedankt sich und überlegt, was er am Wochenende vorhaben könnte, aber vielleicht wird die Wirtin ohnehin darauf vergessen. Er trinkt den letzten Schluck Kaffee, er gießt Milch in die Tasse und gibt zwei Löffel Zucker hinzu. Die Wirtin stellt die Schachtel auf die Bar, sie sagt: Weihnachten rückt näher, ich werde die Kürbisse gegen Sterne tauschen. Es sind doch noch ein paar Wochen bis dahin, sagt Karl, es ist noch nicht Advent. Der Advent beginnt früher, als man denkt, antwortet die Wirtin und sammelt die Kürbisse ein. Schade darum, Zierkürbisse schmecken bitter und können tödlich sein, aber unter uns, ich mag den Kürbis ohnehin nicht. Die Gäste erwarten das im Herbst, Kürbissuppe, Kürbisgulasch, ich koche vor, ich friere ein. Und jedes Jahr, wenn ich die alten Kürbisgerichte gegen die neuen tausche, denke ich: Wie die Zeit vergeht, zeigt das Eingefrorene. Karl nickt verständnisvoll und drückt ihr den Kürbis von seinem Tisch in die Hand, die Wirtin legt stattdessen drei Sterne hin. Macht Weihnachten Sie wehmütig?, möchte er fragen, er verrührt mit der Rückseite des Löffels die Zuckerreste in der Tasse.
Es ist noch lange nicht Weihnachten, wiederholt er stattdessen und streicht die Einladung glatt, auf der Vorderseite sind der Brunnen vor dem Gemeindeamt und das Foto einer Landschaft abgebildet, ganz unten das Logo der Bank. Das muss ein schönes Leben sein, sagt Karl. Ich weiß nicht, antwortet die Wirtin, nie zu Hause und wenn, dann muss er wochenlang erzählen, immer dieselben Geschichten, immer dieselben Witze. Er ist gelernter Bäcker, aber er war nicht gut darin, das sagten sie damals schon: Er wird kein guter Bäcker werden. Wer sagte das?, fragt Karl und schiebt die Tasse weg. Die Leute. Die Leute, wiederholt Karl und setzt die Tasse ab, die Leute sagten das. Die Wirtin geht zum Fenster und kippt es. Immer noch nichts, sagt sie, als sie in den Himmel schaut. Der wärmste November seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen, so sagten sie im Vorjahr, mir kommt es jetzt nicht kälter vor.
Mit tauben Fingern
Mittwoch, spricht Karl in das Diktiergerät und hält es nahe an sein Gesicht. Heute, Mittwochnachmittag, seit einer Stunde auf dieser Bank an der Haltestelle, ich friere, vom Frieren sind meine Finger kalt und fast schon taub.
Karl hält das Gerät mit beiden Händen, so dass Außenstehende nicht bemerken, dass er spricht. Mittwoch, bedeckter Himmel, flüstert er, als ein Auto vorüberfährt, immer noch kein Schnee in Sicht. Das Wetter hat einen wesentlichen Einfluss auf das Wohlbefinden, es heißt, wir erkundigen uns deshalb bei Telefongesprächen, wie das Wetter am Aufenthaltsort des Gegenübers ist, um einschätzen zu können, ob schlechte Laune durch das Telefongespräch hervorgerufen wurde oder dadurch, dass das Gegenüber zu lange keine Sonne gespürt hat.
Ich sitze seit einer Stunde hier und es sind fünf Personen an mir vorübergegangen. Zwei männlich und drei weiblich, eine Person mit Hund und eine mit Kinderwagen, ich habe nicht hineingesehen.
Karl legt das Gerät zur Seite, er überlegt, ob er die Personenangabe korrigieren sollte, er denkt an den Kinderwagen und die Frau, die er vor ein paar Jahren auf der Straße sah. Sie hatte graues Haar und ihr Kinderwagen war mit Stofftieren gefüllt, kein Kind darin, sie schimpfte einen Dinosaurier, dessen Kopf wieder und wieder herauskippte, sie kam nur langsam voran. Das Irritierende an der Situation war, dass Margit nicht irritiert reagierte. Ein Dinosaurier, murmelte Karl. Ist gut, Karl, sagte sie, ein Dinosaurier, ja.
Fünf Personen, wiederholt Karl, ich weiß nicht, ob jemand in dem Wagen war. Er hält das Gerät dicht vor sein Gesicht. Karl, würde Margit sagen, pass auf, dass du die Leute nicht verschreckst. Margit, sorge dich nicht. Fünf Personen sind mir begegnet und niemand hat mich angesehen. Müssten sie das nicht, müssten sie sich nicht auffälliger verhalten, vielleicht waren sie nicht von hier? Margit, werde ich sagen: Wie einsam man unter Menschen ist, die zusammengehören. Ich werde so lange hier sitzen bleiben, bis es kalt genug ist, hineinzugehen.
Ein Seestern am Revers
Karl, das geht über deine Studie hinaus, hört er Margit sagen, als er vor der Tankstellentür angekommen ist, halte die Neugier zurück, aber da ist er schon eingetreten. Draußen wäre es zu kalt gewesen, flüstert er und er zuckt zusammen, als er seinen Namen hört. Herr Hellmann, ruft M2, was machen Sie hier? Er mustert ihn von oben bis unten, er sitzt auf einer Eckbank, die in derselben Farbe bezogen ist wie jene im Hotel Post. Meine Finger sind taub, antwortet Karl, die Kälte, ich bin zu lange im Freien gewesen. Kommen Sie, sagt M2 und klopft auf den Platz neben sich, die anderen Männer am Tisch nicken freundlich.
Dort sitzen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vierhundertneunundsechzig Kilometer
  5. Dreihundertvierundsiebzig Kilometer
  6. Dreihundertvierundsiebzig Kilometer
  7. Dreihundertvierundsiebzig Kilometer
  8. Dreihundertvierundsiebzig Kilometer
  9. Dreihundertvierundsiebzig Kilometer
  10. Dreihundertvierundsiebzig Kilometer
  11. Zweihundertvierundfünfzig Kilometer
  12. Hundertdreizehn Kilometer
  13. Ein Kilometer
  14. Jupiterweg sieben
  15. Impressum