Ballade vom Abendland
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Ballade vom Abendland

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ballade vom Abendland

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Wir kennen alle Details des Ersten Weltkriegs, seinen Beginn, seinen Verlauf, sein Ende. Doch die Wahrheit über diese fundamentale Erschütterung des Abendlandes kennen wir nicht. Vuillard führt uns diese Unkenntnis mit seiner grandiosen literarischen Geschichtsrhapsodie vor Augen. Er vermischt die sonst säuberlich getrennten Perspektiven und fügt sie zu einem neuen Ganzen zusammen. Mit atemberaubenden, musikalisch komponierten Assoziationen verbindet er die große Politik mit dem Elend der Schützengräben, die Detonationen der Gasgranaten mit den gemeinsamen Tänzen der Mächtigen jenseits der Front. In der ›Ballade vom Abendland‹ wird die Geschichte zum Handelnden, erkennbar im Mosaik der Bilder, Vuillard will uns befreien, ernüchtern vom trunkenen Schwelgen in Tod, Opfer, Schlachten, Zerstörung und Heldentum.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783882214093
ERNTEN
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Diesmal ist es so weit, die Sonnenschirme klappen zu, man geht nicht mehr ins Kabarett. Der Frühling zeigt seine zartgrünen Blätter, sie sind breiter, dichter geworden, der politische Kontext spitzt sich zu. Die Ulanen schlafen auf ihren Lanzen, die Grenadiere dösen im Pulver, ein Trompetensignal weckt sie plötzlich. Es geht los. In wenigen Tagen werden viele Kreuzzeichen gemacht. Ganz Europa führt ergriffen die Fingerspitzen an die Stirn. Man betet, man trinkt einen Schnaps oder Pernod. Unterdessen spielt der Zar Tennis. Wieder wird telefoniert; Befehle und Gegenbefehle in dichter Folge. Doch ab dem 31. Juli sind die Armeen nur noch durch eine feine Schicht Angst voneinander getrennt. Es scheint, als stünden sie sich unmittelbar gegenüber, nur wenige Millimeter zwischen sich.
Joffre ist besorgt. Bisweilen hat er den Eindruck, als versteckten sich die Deutschen hinter seinem Bett, unter seinem Schreibtisch, zwischen den Wäschestapeln und dem Papiermesser. Und seine Soldaten, wo sind sie? In ihren Provinzkasernen. Also setzt er ein dringliches, überzeugendes Schriftstück auf; er versichert dem Kriegsminister, jeder Tag Verspätung bedeute – ja, tatsächlich! – zwanzig verlorene Kilometer: Frankreich, von den deutschen Stiefeln zurechtgestutzt, angenagt.
Österreich-Ungarn wollte Serbien eine deutliche Lektion erteilen; aber da es nicht kühn genug war, alleine zu handeln, zog es viele Völker mit sich. Ein Reigen aus Gesichtern, Sprachen, Kostümen. Es schien, als habe die ganze Erde jäh beschlossen, sich aufzumachen. Plötzlich hat der Kaiser eine Offenbarung: Wenn man Frankreich nicht angreift, wird England nichts unternehmen. Rasch läuft er die Gänge entlang, rennt die Treppen unter den Putti herunter, prallt an der Ecke zum Hof zurück und schlendert dann zwischen den Beeten des Barockgartens bis zur Silhouette Moltkes des Jüngeren, den er von der Freitreppe aus gesehen hat. »Ach!«, ruft er ihm zu, »Ach! Warten Sie, ich habe nachgedacht, man muss über den Osten angreifen, hören Sie! Das alles muss aufhören, der Schlieffen-Plan muss abgebrochen werden, auf der Stelle!« Plötzlich hält er inne, außer Atem, zwischen zwei kleinen Buchsbaumkugeln. Von Moltke sieht ihn an: »Aber, Majestät, es bräuchte ein ganzes Jahr Büroarbeit, um das zu schaffen!« Nun, das ist etwas anderes. Eine endloser Stapel mit Papieren fällt dem Kaiser auf die Nase. Papiere, Pläne, Wundertüten, von kleinen, halb verrückten Schlieffens verfasste Schriftstücke; und diese Papiere regnen, schneien und decken alles zu. Es ist nichts mehr zu machen, das Papier wird Fleisch, Stahl, Pulver. Künftig sind die Serben weit vom Schauplatz der Kämpfe entfernt, man schert sich einen Dreck um sie; sie haben ihre ekstatische, provokante Rolle gespielt. In einem Jahr werden auch sie die ersten Patronen knallen hören.
Und auf einmal gab es einen Körper. Einen einzigen Körper aus Millionen Menschen. Einen Körper aus Brot und Wein. Und die Millionen Beine dieses riesigen Körpers liefen unter ihren roten oder grauen Hosen im Takt los. Auf die Schädel hatte man verbeulte Képis oder Pickelhauben gesetzt. Die Pickelhauben sind die Deutschen. Sie gehen die Bahnsteige entlang ohne zu drängeln, es sind nette Kerle, vor Begeisterung brennend, sie brechen auf zum Abendmahl. Die Képis sind die Franzosen, sie schreiben mit Kreide auf die Waggons »Zug nach Berlin!«; sie lehnen sich aus den Fenstern und singen dazu säbelrasselnde Lieder. Aber alle brechen auf, fahren weg, küssen die Mädchen, werfen ihre Baskenmütze auf die Schienen, schreiend, schwätzend, rauchend. Das ist das Ende des Fortschritts, das Ende der Ausflugslokale, das Ende der Marne-Ufer. Meerbäder wird es später wieder geben, in fünf Jahren, dann werden die Sonnenschirme erneut aufgespannt, spüren die Füße wieder Sand unter sich. Einstweilen rauchen die Pariser auf dem Bahnsteig eine Gauloise, die Bauern marschieren auf der großen Straße, die Hamburger nehmen die Straßenbahn, aus jedem Dorf brechen die Wehrpflichtigen, die Reservisten auf: Fritz Haeckel, Otto Bleiss, Jürgen Reinhard, Karl Moser, Friedrich Hein, Henry Floch, Gustave Berthier, Gervais Morillon, Marcel Rivier, Roland Deflesselle, Georges Gallois, Jean Mando, und alle haben zwei kleine Haarbüschel über den Lippen, alle tragen Knobelbecher, also Nägel unter der Fußsohle.
Wir stehen auf der Freitreppe. Sämtliche Völker der Welt werden an den Ufern der Mosel sterben kommen. Sämtliche Herrscher Europas wollen ihre Butterbrote in denselben Kaffee tunken. Sie steigen die Stufen von ihren Palästen herab, die Menge klatscht Beifall. Sehen Sie sie an, auf den Schwarzweißfotografien, Waschfrauen mit einer vielleicht schon rötlichen Schaumwäsche. Sehen Sie diese verstaubten Größen, diese Basar-Ludwig-die-Vierzehnten, verjährte Haltungen, verschlissene Teppiche, schlechte alte Staatsraison. Nichts Heiliges mehr an einem Kaiser, einem Nikolaus II., einem Georg V. Der eine sammelt Briefmarken, der andere ist Tennisspieler, und der Dritte nimmt an Regatten teil. Selbst mit großen Kanistern voller Weihwasser ließe sich aus diesen Fürsten nicht mehr machen als Groschenromanmajestäten. Adlige Bankiers begleiten sie. Bei den Deutschen ist Gold in der Kasse, der Juliusturm in Berlin ist gefüllt. Zweihundertmillionen Reichsmark! Das ist die Kriegskasse von 1870. Die Franzosen ihrerseits haben wenig einzusetzen; sie können ein paar Monate durchhalten, das ist alles. Sie seien, sagen sie von sich, mehr als bereit zum Krieg, doch in Wirklichkeit ist gar nichts bereit; die Kostüme stammen aus früheren Kriegen, die Trompeten sind verbeult; und mit den Fahnen wurden inzwischen Tonnen von Geschirr eingewickelt. Die Franzosen werden im Kriegführen weniger gut sein als im Kunsthandwerk der Schützengräben. Sie sind bald ausnehmend geschickt im Verwandeln von Patronenhülsen in Tabakdosen, in Würfelbecher für das fabelhafteste Trick-Track aller Zeiten.
Zu Beginn der Feindseligkeiten sieht man manchmal, wie sämtliche Armeen ausfallen; einen Tag lang oder zwei bleiben die Gewehre in der Luft hängen, der Geruch von Kohl ersetzt das Pulver. Man hat nämlich den Verbrauch an Granaten und Kugeln unterschätzt, man bekommt zehn 18 mm-Granaten pro Tag, bräuchte aber tausend, zehntausend, weil man die zehn Granaten des Tages in einer einzigen Gefechtsminute verschießt! Danach ein hohles, angsterfülltes Nickerchen. Ein Angelusläuten der Fliegen. In neun Monaten geht Großbritannien von 3 000 Granaten monatlich zu 225 000 über. Sämtliche Alliierte geben ihre Bestellungen bei den Vereinigten Staaten auf, die das Angebot der Nachfrage anpassen. Man schätzt, man plant, aber man bombardiert immer noch mehr. Es braucht eine Kriegswirtschaft, eine Kriegsfinanzierung, Millionen Rubel, Reichsmark, Francs und Pfund werden sich in Millionen Dollar und Millionen Granaten verwandeln. Was die Deutschen betrifft, so gehen sie bei sich selbst einkaufen, fabrizieren ihre Krupp-Kanonen, ihre Mauser-Gewehre, ihre eigenen Sintflutmaschinen. Da betreten den Schauplatz der Geschichte die fabelhaften Händler von Schienen, Stahl und Kanonen. Bertha Krupp, Tochter Alfreds, Enkelin eines anderen Alfred, Urenkelin von Friedrich Krupp, dem Gründer, beschäftigt 85 000 Leute, besitzt neun Stahlwerke, 180 Schmiedehämmer, 7 000 Maschinen. Sie fabrizierte die Dicke Bertha, ein riesiges 42 cm-Geschütz, das drei Meter Beton durchschlagen konnte. Der freundliche Fritz Rausenberger und der nette Hauptmann Becker entwarfen diesen Mörser. Er wog in seiner beweglichsten Ausführung 42 Tonnen. Jeder Granatabschuss kostete 3 000 Reichsmark, ein kostspieliges und herrliches Feuerwerk. Die Dicken Berthas verwüsteten unter anderem die Festungen von Lüttich, Namur, Maubeuge, Antwerpen. Später fügte der sanfte Herr Rausenberger erfindungsreich weitere Rohre an und verhalf derjenigen Kanone zum Durchbruch, die an einem Karfreitag Saint-Gervais teilweise zerstören sollte. Das Gewölbe der Kirche brach ein, während der Kelch zum Himmel aufstieg; es gab achtzig Tote. Ein Kavaliersdelikt für die Krupps. Dabei ist Bertha eine angenehme Erscheinung; ihre Fabriken besucht sie im Musselinkleid, mit einem hübschen Hut voller Begonien.
Um Krieg zu führen verfügt das Reich über zwei Jahre an Goldreserven, es gibt auch die ausländischen Werte, eine Beteiligung an zahlreichen Industrien. Aber das wird nicht reichen. Man muss Scheine drucken, Banknoten, schön glatt zuerst, ganz mit Tinte und hübschen Bildern bedeckt. Man braucht immer mehr davon. Die Scheine sind kleine Zärtlichkeitsbekundungen, die die Staatschefs und die Bankiers zu Hunderttausenden den Völkern schicken, aus Liebe. Manchmal aber welken diese Liebesbeweise auf unerklärliche Weise; sie verlieren an Wert, und die Preise klettern schneller nach oben als das Efeu an den Ruinen. Bald ist die kleinste Patrone so viel wert, dass man sich fragt, ob es sich noch lohnt, einen Feind zu töten. Man überlegt vor dem Schießen, man sucht sich seine Zielscheibe aus, es läuft nicht mehr reibungslos. Doch Deutschland will seine Schlacht in Freiheit führen, und es druckt Scheine wie diese schlechten Bücher, die alle lesen, aber an die sich keiner erinnert.
Zur Stunde bügeln gerade alle Soldaten der Welt ihre Jacken. Sie haben eine Verabredung. Auf den Bahnsteigen wird man Zigaretten, Bonbons an sie verteilen. Man schart Tausende von Pferden zusammen, sämtliche Rassen Europas werden bald von Bauern aus Clermont und Grenadieren aus Bremen ohne Sattel geritten. Es gibt Andalusier, Lusitanier, Anglo-Araber, Friesen, Kabardiner, Hannoveraner, Comtois, schön stämmige Anglo-Normannen, Boulonnaispferde mit ihrem merkwürdigen Zirkuspferdaussehen, Holländer, Tarpane, Ardenner, Lipizzaner, Mérens-Pferde, Palominos, Achal-Tekkiner, Englische Vollblüter, Poitevins mit robusten Fesseln, Shires mit fellbehangenen Hufen. Die Arche Noah ließ alle ein, bevor sie ihre Pforten schloss. Und es erklang das Getrappel von Stiefeln in ganz Europa, und die Räder setzten sich in Bewegung und zogen überall ihre regelmäßigen Bahnen, in der Mitte ein kleines Fähnchen Gras.
Plötzlich, am 3. August abends, richtet der Kaiser einen freundschaftlichen Appel an Belgien. Die Umsetzung des Schlieffen-Plans verlangt, dass man seine Weizenfelder und Schweinegehege durchquert. Der Kaiser bittet den König der Belgier höflich um Erlaubnis. Und übrigens, ist er nicht ein bisschen deutsch, dieser König der Belgier? Er ist ein bisschen Herzog von Sachsen, ein bisschen Prinz zu Sachsen-Coburg-Gotha; für den Kaiser so etwas wie ein Vetter. Doch er ist ein unabhängiger Fürst, der feinste Schnurrbart dieses ganzen Krieges; er trägt dieselbe Brille wie Bertolt Brecht. Er hat als erster belgischer Herrscher seinen Eid auf Französisch und auf Flämisch abgelegt; er hat einen Besuch im Kongo gemacht und die Ausbeutungspolitik der Kolonie heftig kritisiert. Doch jetzt geht es nicht mehr nur um eine Reise und schöne Reden, es gilt eine Entscheidung zu treffen, die sich einschneidend auf die Zukunft seines Landes auswirken wird. Und er trifft sie. Er lässt die Maasbrücken zerstören und befiehlt dem Kommandanten der Festung Lüttich, bis zum Ende durchzuhalten.
So drangen die Dicken Berthas nach Lüttich vor wie eine riesige Rinderherde. Sie rollten auf die Forts Pontisse, Loncin und Fléron zu. Um zu schießen muss der Artillerist einen Abstand von zweihundert Metern zur Kanone wahren, einen ausgepolsterten Helm tragen und sich bäuchlings in die Luzernenfelder werfen. Sechzig Sekunden vergehen, so gemächlich wie eine trübe Jahreszeit. Dann das Feuer, ein ohrenbetäubender Knall, eine Säule aus Asche und Rauch. Die Granaten wiegen neunhundert Kilo. – Mittags um halb eins war die Festung Pontisse erledigt; die Betonmauern waren zerborsten. Entsetzt nahmen die Belagerer einen Schutthügel in Besitz. Die Festungen fielen alle der Reihe nach, immer wieder eine. Alles schien einem Programm zu folgen, das die Deutschen in einer nur ihnen verständlichen Sprache abgefasst hatten. Zwei Tage später gab es eine ungeheure Explosion, zwölf Tonnen Pulver. Das war Loncin. Die Franzosen würden sich verteidigen müssen. Und welches Vorgehen war geplant? Welcher Regenschirm war geplant, um sich vor diesen gigantischen neunhundert Kilo schweren Kothaufen zu schützen? Wir hatten den Plan XVII. Ein famoser kleiner Plan. Ein Verklausungsplan. Wir wollten den großen Strom durch die Schneise von Charmes zu uns locken. Rechts und links, auf den Anhöhen über der Maas und den Vogesen, hätten dann die stolzesten Raben Frankreichs mit ihrem Eisenschnabel den Käse schön festgehalten. Die beiden Gebirge sind befestigt und gut angebunden. Von dort aus lässt es sich Richtung Mosel und Rhein schweben, in aller Ruhe. So in Kürze der Plan XVII, der gar nicht mal sonderlich schlecht gewesen wäre, wenn die Deutschen nur darauf gewartet hätten. Doch die Deutschen, die auf einen solchen Traum von Seiten der Franzosen hofften, hatten keineswegs vor, dort in Frankreich einzumarschieren; sie platzierten auf dieser Seite einen künstlichen Truppenvorhang. Die eigentliche Offensive sollte bald die Erde von Mons und Charleroi umgraben, durch Maubeuge, Saint-Quentin, Mézières und Soissons fegen; sie sollte die großen Brachländer des Westens durchpflügen; neunzig Prozent der deutschen Truppen stehen dort. La France, gepanzert, wild entschlossen in ihre geharnischten Kleider drapiert, – die Deutschen sollten sich von ihr abkehren und sie anderswo nehmen; bald schoben sie durch die pikardische Ebene eine schwere und warme Hand, um dort, mittendrin, ihr Nest zu bauen. Sie wollten einen großen bewaffneten Bogen, der sich vom Mutterboden Flanderns bis nach Amiens spannt, aber daran vorbeiführt – das wohlwollende Lächeln des still an der Ecke seiner Kirche lebenden Engels missachtend –, um schließlich abermals diesen riesenhaften Krokodilsschwanz zu krümmen, Frankreich wie einen Festsaal auszukehren, und dann ihre Faust verliebt in die Kuhle einer Alp zu schmiegen. Und Berthas durchdringender Herzschlag gehorcht dem Diktat dieser Liebe; derselben Liebe, der La France es verdankt, dass vier Millionen Männer über sie herfallen, dass sie ihre Grenzen kraft einer machtvollen, immerwährenden Anziehungskraft überschreiten; denn gewiss ist es einem außerordentlichen Wechsel zuzuschreiben, wenn sich die Deutschen in nicht einmal hundert Jahren ganze drei Mal empfahlen, um ihr einen Besuch abzustatten, dabei in die Täler eindringen, rittlings die Hügel nehmen, sich die Waden an ihren Strohstiefeln zerkratzen.
In den ersten Tagen wirkte das Geräusch der Kanone wie das Horn des Monsieur Seguin, das irgendeine querfeldein verlorengegangene Seele zurückruft und sie sanft an die anbrechende Nacht gemahnt. Doch die junge Ziege hörte nicht, sie wollte nicht wieder zurück an die Leine und an ihrem Pflock knabbern; sie wollte durch Gräben springen, auf Büsche klettern. Man vergaß sie. Es gewitterte. Die Franzosen widmeten sich dem ersten Angriff. Sie schickten sich an, eine Bresche zu schlagen, durch die eine jener großen Offensiven drängen sollte, die nie stattfinden. Es ist der 7. August. Es herrscht schönes Wetter, die Luft ist ein bisschen schwül. Die Franzosen marschieren auf Mulhouse zu, um die Bevölkerung zu befreien; aber die Deutschen zwingen sie mit einem Rippenstoß nach Belfort zurück. Joffre ist verärgert. Er entlässt einen General und einen Kommandanten. Im November sollte er zweiundneunzig Divisionskommandanten entlassen haben. Zwar sind die Orden und die Kreuze schön, aber die Plätze sind teuer. Sie sind sämtlich in einem illustrierten Larousse zu sehen; eine Tafel zeigt auf der einen Seite die Pilze: Kaiserling, Marone, Semmelstoppelpilz, Morchel, Pfifferling, Mutterkornpilz, Hefepilz, und wenn man die Seite umblättert, hat man die Orden: die Ehrenlegion, sternförmig aus weißem Perlmutt, das Auge blau umrandet, mit dem roten Band; dann die Militärmedaille, glänzender Lorbeerkranz mit einem kleinen blauen Reifen, aufgehängt an einer silbernen Trophäe, die als Motive ein Kanonenrohrbündel, eine Axt oder einen Säbel zeigt; und schließlich das Croix de Guerre, ein furchtbares Malteser- und Schwerterkreuz, das abscheulichste und begehrteste von allen.
Dann passiert gar nichts mehr. Es scheint als knieten die Völker hinter den Grenzen nieder und bäten um Verzeihung. Es scheint, als hätten sie ihre Bauernhöfe und ihre Maschinen im Stich gelassen, um hierherzukommen und sich liebenswürdige kleine Botschaften zuzuflüstern, die sie nicht zu schreiben wagen. Zehn Tage lang halbiert man die Rationen, verteilt sie, breitet sich aus, improvisiert eine ellenlange Reihe aus Feuerspuckern. Endlose Kolonnen schieben sich durch die Brombeerhecken, über die Haferfelder, an den langsamen Flüssen entlang. Wie die Bienen eines riesigen Bienenstockes legen sie ihre Pollenkörner neben den Kanonenrohren ab. Die Soldaten haben sich auf die Wege ihrer Großväter gemacht; in fünfundzwanzig Jahren werden auch ihre Enkel im richtigen Alter sein, um herzukommen und, etwas weiter Richtung Norden, auf denselben Feind zu warten.
Und jeden Mittag, während sich die Deutschen nähern, isst Joffre mit gesundem Appetit. Mit seinem Koch schwärmt er von Meisterwerken wie Lammragout, Rindfleisch in Burgundersauce, Flämischer Karbonade. Vor allem aber freut er sich auf das köstliche Huhn in Rieslingsauce, das sie sich bald in Colmar schmecken lassen werden, auf die Gugelhupfs, den Strudel, nach dem er ganz verrückt ist, die kleinen Berewecken, die sie am Jahresende in Zwetschgenwasser einlegen, und im Geiste sieht er sich bald als kommandierender General einer Lebkuchenarmee; Honigkuchenmänner, Erben eines von Dschingis Khan – es war sein Lieblingsessen – aus China eingeführten Rezepts, das, von den Kreuzfahrern schließlich zurückgebracht, von rosigen Händen geknetet, in Teig für Nonnettes, gefüllte Lebkuchen, Pfefferkuchenschnitten verwandelt wird, der manchmal drei bis sechs Monate lagert, bevor man ihn geschmeidig macht, luftig, ihn mit Eigelb, Gewürzen, Kräutern vermengt und ihn schließlich ausbäckt in einem der Spezialöfen in Gertwiller, ein kleines Dorf im Elsass, das es um jeden Preis zurückzuerobern galt. Natürlich vergaß er Lothringen nicht, die Kohle, das Eisen und die Salzbergwerke. Er verachtete weder die Macarons aus Boulay noch die Dragées aus Verdun; und übrigens musste man nach der gescheiterten Offensive gegen Mulhouse die Nonnettes fürs Erste ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhalt
  5. VORSPIELE
  6. DIE WELT ZU PFERDE DURCHQUEREN
  7. UNSEREN SCHULDIGERN
  8. SOMMER
  9. ERNTEN
  10. DER MÖRDERISCHSTE TAG ALLER ZEITEN
  11. DIE GROSSE VAKANZ
  12. DER RÜCKZUG
  13. DER CHEMIN DES DAMES
  14. GRÄBEN
  15. FEINDE
  16. DIE HÖHLENMÄNNER
  17. DIE RECHNUNGEN
  18. Impressum