Zeige deine Wunde
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Die Generation der Angst

  1. 12 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Die Generation der Angst

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Über dieses Buch

Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel beschreibt die Vierundsechziger als eine Generation der Angst: "Die Angst ist immer schon da. Sie ist immer schon da, so sehr man sich auch beeilt, vor ihr an sein Ziel zu kommen. Die Angst, die ich kenne, die Angst, mit der ich geboren worden bin, hat immer eine Antwort."

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Rainer Merkel
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Die Generation der Angst
1. Die Vision
Und im nächsten Moment stand ich wieder vor der Ampel an der Seestraße, das afrikanische Viertel und das Alhambra-Kino hinter mir wie eine Drohung. Ich stand da, wie früher, als das Überqueren der Ampel an der Seestraße zu meinen täglichen Aufgaben gehörte, ein ganz normaler Vorgang bei der Bewältigung meines Alltags. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Eingang zur U-Bahn. Aber schon im nächsten Moment hatte die Überquerung der Straße jede Bedeutung verloren. Es war all die Jahre lang immer der gleiche Moment, der Augenblick, in dem ich die apokalyptische Vision hatte. Immer nur hier, immer nur morgens, vormittags oder mittags, je nachdem wann der Tag angefangen hatte.
»Die Angst ist der psychologische Zustand, der der Sünde vorausgeht.« Und man muss schon weiterlesen bis zu der Stelle, bei der Kierkegaard einem erklärt, wie der Moment der Ursünde uns daran hindert, in die Ewigkeit überzugehen, und wie man gleichzeitig sündigt, wenn man »bloß im Augenblick als der Abstraktion vom Ewigen lebt«. Und so sündigte ich dann jeden Morgen, für diesen kurzen Augenblick, den die automatisch gesteuerte Ampelanlage dazu brauchte, dem Verkehrsfluss entsprechend von Rot auf Grün umzuschalten. Ich träumte. Träumte vom Untergang der Welt oder zumindest vom Untergang Berlins. Das afrikanische Viertel, die Imbissstube auf dem Mittelstreifen mit dem Namen »Zur Insel«, die wenig glamourösen Geschäfte der Müllerstraße, die Bäckereien, Schuh- und Schmuckgeschäfte, die in die Jahre gekommen Boutiquen und die ein, zwei Apotheken, die ich in Erinnerung habe. Wenn man 1964 geboren ist, hat man eines ganz gut gelernt: Man hat gelernt, die Angst zu kultivieren. Zwischen Rot- und Grünphase, in dieser schmalen immateriellen großstädtischen Schleuse. Jedenfalls so lange, wie ich stehen bleiben und warten musste, bis das Signal zum Weitergehen gegeben wurde. Was für ein Untergang war das? Was war zwischen 1964 und 1986 passiert? War 1986 der Höhepunkt dieser Vision? Ich war immer wieder überrascht, wie nah der Bahnsteig im Vergleich zu anderen U-Bahn-Stationen dieser Welt an der Straßenoberfläche lag, sodass es manchmal zu meinen Folgevisionen und Tagtraumfortsetzungsfantasien gehörte, mir vorzustellen, die dünne Asphaltdecke der Müllerstraße würde einbrechen und der U-Bahn-Schacht würde imaginär überflutet werden. (Mit Menschen, Passanten, den ganzen kläglichen Konsumangeboten der Müllerstraße, vor denen später die Besucher aus dem Ostteil der Stadt staunend stehen blieben, mitten in der Nacht. Vor den unbeleuchteten Auslagen und vergitterten Eingängen der Juweliere, von denen es natürlich höchstens drei oder vier gab, wenn überhaupt.) Diese Inszenierung, die mein Leben überschattete, hatte damals noch den Charakter einer ungestümen Zerstörungsorgie, die in ihrer jugendlichen Unschuld besonders würdevoll und rein erschien.
Man könnte sagen, diese Minuten an der Seestraße vor der Ampel waren wie ein kurzer Song, ein Lied, das wir dort alle sangen, die wir vor der Ampel standen, obwohl ich mit einiger Wahrscheinlichkeit der Einzige war, der an diesem Morgen 1986 eine Vision hatte. Oft standen ältere Frauen neben mir, Frauen, die den Krieg noch erlebt hatten, mit leichten Gesichtsfeldeinschränkungen, Hörstörungen und gelegentlichem Herzflattern. Jetzt nur noch darauf bedacht, dass es weiterging, während ich in diesem plötzlichen seligen Moment nur noch eines vor meinem geistigen Auge sah. Etwa vier, fünf Kilometer von mir entfernt, aber deutlich erkennbar in der vor uns liegenden, durch nüchtern angegraute Mietskasernen gebildeten Straßenschlucht, ungefähr in der Höhe der Niederlassung des Pharmakonzerns Schering oder vielleicht doch ein paar Hundert Meter höher, oberhalb der Dachfirste, in einem grauen kalten Berliner Winterhimmel, diesen mit einem Mal aufbrechend und mit zärtlicher energisch Wut einfach aufreißend. 1986 vor der Ampel an der Seestraße. Wo kam diese Angst her, die die Kraft hatte, sich in ein solches Szenarium zu verwandeln? »Keine andere Nation«, schreibt der ehemalige Korrespondent der New York Times Roger Cohen, »verkörpert so präzise eine Gefühlsregung, die über bloße Furcht hinausgeht, aber noch nicht in Panik ausartet.« Ich wartete das Ende meiner Vision geduldig ab, die zusammenfiel mit dem Umschalten der Ampelphase und mit dem Beginn einer kurzen Episode grünen Lichts. Wie konnte diese Vision eine so große Kraft entfalten mit einer so strahlenden, fast lüsternen Plastizität, wie ein wuchernder wollüstiger Leib, der sich am Himmel in seiner eigenen Ekstase hin und her wälzt, aufgequollen in einer diffusen Körperlichkeit? »Wie bitte?«, würde die alte Frau neben mir fragen, die zufällig auch an der Ampel stand. Und natürlich war diese alte Frau an der Seestraße gar keine Hiesige, gar keine Berlinerin, sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Transformation meiner Großmutter. (Wie bitte? Oder: Hast du das gesehen? Kannst du es sehen?, würde ich meine Großmutt...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Verlag
  3. Rainer Merkel
  4. Über den Autor
  5. Impressum