Der Ausnahmezustand als Normalfall
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Der Ausnahmezustand als Normalfall

Modernität als Krise

  1. 16 Seiten
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Der Ausnahmezustand als Normalfall

Modernität als Krise

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Über dieses Buch

Armin Nassehi argumentiert aus einer Perspektive der modernen Gesellschaft, die derart komplex und differenziert geworden ist, dass der Ausnahmefall längst als Normalfall gewertet werden kann - immerhin existieren zuweilen gar einander ausschließende Logiken legitim nebeneinander. Was bedeutet das für unser "Wie zusammen leben?".

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783867742030
Armin Nassehi
Der Ausnahmezustand als Normalfall
Modernität als Krise
Manche datieren den Anfang der Moderne auf den Allerheiligentag des Jahres 1755, als ein Tsunami, ausgelöst durch ein Erdbeben 200 Kilometer vor der Küste Portugals, Lissabon zerstört hat. Es war ein sinnloses Geschehen, das man nicht einem Weltenplan oder gar Gottes Ratschluss subordinieren konnte, schon deshalb nicht, weil die Alfama, das Sündenviertel der Stadt, von den Zerstörungen weitgehend verschont blieb. Katastrophen hatte es immer gegeben, aber warum sollte diese der Ausgangspunkt der Moderne sein? Zumindest hat die Erfahrung des sinnlosen Ereignisses mit allen seinen bösen Auswirkungen die alte Frage, wie Gott angesichts seiner Allmacht und Güte solches Unheil zulassen könne, neu belebt. Diese sogenannte Theodizeefrage freilich wurde nun nicht mehr primär religiös gelöst, sondern letztlich dadurch, Natur und Kultur, Notwendigkeit und Freiheit, Zufall und Sinn voneinander zu trennen.
Modernität beginnt deshalb damit, unterschiedliche Lebensbereiche und Argumentationslogiken voneinander zu trennen. Immanuel Kant etwa hat im Gefolge von Lissabon eine naturwissenschaftliche Theorie des Erdbebens und Tsunamis verfasst. Wiewohl diese sich am Ende als falsch herausstellte, diente sie dazu, die Ereignisse als das bloße Wirken von Naturkräften anzusehen, die letztlich mit der Frage nach einem angemessenen und guten Leben nichts zu tun haben.
Die Lehre aus Lissabon war eine doppelte Lehre. Zum einen lernte man, dass nicht der Tsunami selbst, nicht die vielen Toten und die Zerstörung eine Krise darstellten, sondern die Tatsache, dass man das Geschehen nicht angemessen interpretieren konnte. Zum anderen wurde immer deutlicher, dass das neue Zeitalter sein Schicksal selbst in die Hand nehmen musste, dass es nicht mehr an die Allmacht Gottes, sondern an die eigene Gestaltungskraft glauben wollte. Daraus sollte sich bekanntlich ein wenn nicht triumphales, so doch ein »klügeres« Zeitalter entwickeln, das, ganz wie die Fortschrittstheorien etwa im Stile Auguste Comtes es nahelegen, alte theologische und metaphysische Muster durch rationale und wissenschaftliche abzulösen versuchte. Letztlich wurde damit die Theodizeefrage aber nur verschoben, denn die Lösung konnte man nun nicht mehr der Allmacht Gottes, aber dem Gang der Geschichte zurechnen.
Wir stellen uns die Aufklärung bisweilen als allzu triumphal und selbstbewusst vor. Sie war jedoch viel mehr von der Selbstverunsicherung geprägt, dass Krisenbewältigungsnarrative nun aus sich selbst heraus gewonnen werden mussten, weil keine anderen Kriterien mehr zur Verfügung standen. Um aber die Unzulänglichkeit der Gegenwart auszuhalten, bedarf es einer Anwesenheit, die nicht allzu sichtbar sein durfte, um eine solche Zurechnung tatsächlich vornehmen zu können. War es bis dahin noch Gott als Anwesenheit und Abwesenheit zugleich, erfand sich die Moderne dadurch, dass sie die Zukunft als jene abwesende Anwesenheit ansetzen konnte, die in die Zukunft verschiebt, was gegenwärtig noch nicht lösbar war – wobei der Übergang fließend war, sich langsam und eher vorsichtig vom Rekurs aufs Religiöse emanzipierte, wie man Hans Joas’ jüngster Studie über die Sakralität der Person entnehmen kann. Wie man die imperfekte Sündenwelt zuvor als Prüfung Gottes und somit als Chance für das Bemühen um Überwindung der Sünde ansehen konnte, wird es nun möglich, die Gegenwart in all ihrer Unvernünftigkeit als vernünftig darzustellen. Selbst die Kontingenzen der Natur waren dann nicht mehr böse, sondern eben ungewisser Natur. Und unvernünftige Menschen und Verhältnisse wurden zu Durchgangsstadien einer prinzipiellen Lösbarkeit des Problems.
Letztlich war die Moderne ein Kind der Krisenerfahrung – wie die unterschiedlichen Erfahrungen und Logiken des Lebens zusammen gedacht werden konnten: etwa die Reiche der Notwendigkeit und der Freiheit angesichts eines Tsunamis wie 1755 oder die regulative Idee der Vernunft und der guten Gründe angesichts der Unvernunft der empirischen Menschen. Mit der Aussicht auf Versöhnung in der Zukunft lässt sich dann sogar die unvernünftige Gegenwart vernünftig erfahren – der Höhepunkt ist wohl Hegels Behauptung der Vernünftigkeit alles Wirklichen in der Vorrede zur Rechtsphilosophie von 1821. Hier wird Krisenerfahrung dadurch verschleiert, dass sie als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum historischen Heil interpretiert werden kann. Formulierungen aus der Rechtsphilosophie, dass der schlechteste Staat immer noch besser sei als keiner, weil sich in ihm die Wirklichkeit der sittlichen Idee und damit die Vernünftigkeit des gerade Wirklichen zeige, sind offenkundige Versuche, die Krisenerfahrung der Welt »aufzuheben«. Ein Erdbeben an Allerheiligen, selbst in einem der katholischsten Länder überhaupt, kann dieser Aufhebung nichts mehr anhaben. Man kann dann beides haben: Leiderfahrung und das Unvernünftige sowie Heilserwartung und die Vernunft.
Susan Neiman hat eine Studie über das Böse vorgelegt und wundert sich darin, warum diese Verbindung gelang. Es hätte doch ausgereicht, Natur und Kultur, Vernunft und Unvernunft einfach zu scheiden. Neiman meint, nichts sei »leichter, als das Problem des Bösen ohne Gott als Prämisse zu formulieren, beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Hegel: Das Wirkliche ist nicht das Vernünftige, ja nicht einmal mit diesem verbunden. Um diese Beobachtung zu machen, bedarf es keiner großen Theorie. Dazu sollte es genügen, die Welt ein paar Minuten zu beobachten.«1
Dass es dazu keiner großen Theorie bedarf, hört sich so an, als sei die große Theorie nur nicht zu dieser Einsicht vorgedrungen. Ich meine aber, man muss den Zusammenhang umkehren: Man braucht große Theorie, um die Unabhängigkeit des Wirklichen vom Vernünftigen zu verdecken! Anders formuliert: Die Moderne hat sich große Erzählungen gegeben, um mit ihren eigenen Erfahrungen des Disparaten, des Krisenhaften, der Selbstverunsicherung klarzukommen. Die großen Narrative der Moderne waren stets Krisenbearbeitungsnarrative. Die Vernunfterzählung sollte die Unvernunft besiegen, die man bei empirischen Menschen stets vorfand; die Erzählung der Nation trat dort auf, wo die Gesellschaft nach der großen Revolution Ordnung und Fortschritt versöhnen musste, aber an sich selbst erlebte, dass es schon genügte, komplexer und unregierbar werdenden Gemeinwesen einen Namen zu geben, damit man Kommandos und Versprechen adressieren konnte; die Erzählung der Freiheit ist die schwierigste: Sie leistet eine Theodizee des freien Willens, indem sie einerseits freie Entscheidungen postuliert, diese aber mit der Begrenzung auf richtige Entscheidungen erst ermöglicht. Freiheit ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Verlag
  3. Benutzerhinweise
  4. Armin Nassehi
  5. Über den Autor
  6. Impressum