Elísio Macamo
Vorsprung durch Aufklärung
Ein Märchen, an das Europäer nach wie vor glauben
Zhou Enlai, der legendäre Premier von China, wurde einmal gefragt, wie er die Auswirkungen der Aufklärung einschätze. Seine Antwort: Es ist noch zu früh zu sagen. Recht hatte er. Oder anders ausgedrückt: Es gibt viele Menschen im außereuropäischen Raum, die ihm recht geben würden.
Europäer sind stolz auf das, was sie für das Erbe der Aufklärung halten. Das Credo kann in Anlehnung an Audi umformuliert werden: Vorsprung durch Aufklärung. Sie glauben fest daran, dass sie ihre Vormachtstellung dem Fortschritt zu verdanken haben, der durch die von der Aufklärung geprägte Vernunft begünstigt wurde. Die Aufklärung habe nicht nur die Bedingungen dafür geschaffen, dass sich die Menschheit – sprich die Europäer – die Natur und die Welt untertan machen. Sie habe auch den Weg für politische und gesellschaftliche Ordnungen geebnet, welche imstande sind, die wichtigsten menschlichen Werte zu gewährleisten: Freiheit, Gleichheit, Würde, Verantwortung. Die Geschichte Europas ist die Geschichte der Menschheit in ihrer Vollkommenheit. Europa nachzuahmen bedeutet, dass man der wahren Bestimmung der Menschheit Rechnung trägt. So weit das Märchen.
Frei ist nur derjenige, der besitzt
Mahatma Gandhi soll auf die Frage, was er von der europäischen Zivilisation halte, sehr süffisant reagiert haben: Es wäre eine gute Idee! Die Menschen, die Freiheit erfunden haben, haben lange kein Problem damit gehabt, andere zu versklaven. Dass ein Teil ihres Reichtums auch darauf zurückzuführen sei, stört anscheinend die wenigsten. John Locke, der englische Philosoph, dem die Welt wichtige Elemente der liberalen Demokratie zu verdanken hat und über den Voltaire gesagt haben soll: »Was er nicht klar gesehen hat, das werde ich nie sehen können«, schrieb für Plantagenbesitzer in Amerika eine Verfassung, die keine politischen Rechte für Sklaven vorsah. Das Irre daran: Seine Argumente waren stichhaltig. Frei – und deswegen Mensch – ist derjenige, der etwas besitzt. Der Sklave ist selber Eigentum. Da ist nichts zu wollen, selbst beim besten Willen nicht.
Die Menschen, die Gleichheit erfunden haben, haben nie ein Problem damit gehabt, dass sie Kolonien hatten, dass sie dort die Einheimischen nicht als Bürger behandelt haben, sondern als Untertanen, dass große Teile von ihnen ein menschenverachtendes System wie das Apartheidsystem in Südafrika unterstützt haben beziehungsweise sich nicht veranlasst gesehen haben, etwa...