Die Ehe der Ruth Gompertz
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Die Ehe der Ruth Gompertz

Roman

  1. 250 Seiten
  2. German
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Die Ehe der Ruth Gompertz

Roman

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Über dieses Buch

Der dokumentarische Roman, 1934 unter dem Titel "Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland" in Wien erschienen, beschreibt das Leben der jüdischen Schauspielerin Ruth Gompertz vom Sommer 1933 bis April 1934. Ihr Alltag, die Arbeit am Theater und ihre Ehe mit dem ehrgeizigen "arischen" Arnold sind dem zunehmenden Terror des NS-Regimes ausgesetzt. Sie muss die Vernichtung ihrer beruflichen Existenz erleben und erkennen, dass ihrem Mann die Karriere wichtiger ist als die Liebe. Der Roman wurde gleich nach Erscheinen in einem regelrechten Zensurprozess verboten. Er war eines der ersten Bücher gegen Hitler überhaupt.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783924652647

Achtes Kapitel

Am nächsten Morgen erwachte Ruth von Vickis Geflüster: Die Kleine hatte ihren Regenschirm aufgespannt, Arnolds Kursbuch vom Nachttischchen genommen und tat nun so, als würde sie ihrem Bären eine Geschichte vorlesen: »Es war einmal ein Hund. Der Hund hatte eine Frau. Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen war lieb, aber der Junge war schlimm: Er wollte den Grießbrei nicht essen. Da kam ein Wolf …« Der kleine Finger, der die Zeilen unterstrich, hielt inne. Vicki drehte den Kopf, und als sie Ruth mit offenen Augen liegen sah, fragte sie: »Tante, gibt es wirklich Wölfe?«
»Ja, gewiss!« Ruth rekelte sich, bog die Arme ein und aus.
»Hier bei uns?« Vickis Augen wurden unruhig.
»Nein, nur im Zoo!« Herrgott, es ist schon neun! Was denkt sich denn Müllerchen! »Mül-ler-chen! Hallo, Müllerchen!«
Nichts rührte sich. Ruth setzte sich auf, schlüpfte in die Pantoffeln, warf den Kimono über die Schultern, lief in die Küche. Wahrhaftig, Müllerchen war überhaupt nicht gekommen! Hatte sie Geburtstag? Oder … oder … Ach, es war bereits eine Manie bei ihr, immer gleich ans Schrecklichste zu denken.
Vor der Tür auf dem Boden lag die Zeitung. Ruth hob sie auf. Die fett gedruckte Überschrift des Leitartikels schlug ihr entgegen:
»ES IST NICHT WAHR!
Wir haben es hier mit einer bewussten und plötzlichen Wiedergeburt der belgischen Gräuelmärchen zu tun … Gegenüber all den unsinnigen Meldungen, die ein Teil der Weltpresse leider noch immer Tag für Tag verbreitet, stellen wir nachdrücklich fest, dass von Pogromen oder antisemitischen Exzessen in Deutschland nicht die Rede sein kann; wer von draußen her das Gegenteil sagt, lügt bewusst oder ist ein unwissendes Werkzeug dunkler Gewalten.«
Weiter wurde auf die »professorale Weltfremdheit« Einsteins hingewiesen, der im Auslande gegen die Behandlung deutscher Juden Protest erhoben hatte.
»So hat er – nach einem Bericht der Telegraphen-Union – heute dem Zentralausschuss der Internationalen Liga gegen den Antisemitismus eine Erklärung abgegeben, die von brutalen Gewalttaten gegen die Juden und von einem groben Rückfall in die Barbarei längst vergangener Epochen spricht. Herr Professor Einstein ist offenbar über die deutschen Verhältnisse im Allgemeinen und über die wahre Lage des deutschen Judentums im Besonderen nicht im Mindesten informiert.«
Im Inneren des Blattes wurden Gutachten der Sachverständigen über die Relativitätstheorie gebracht. Tatsache war, dass auch Fachleute sie nicht verstanden, und der Journalist ließ – vorsichtig durch die Blume – die Vermutung durchschimmern, dass sie vielleicht nichts anderes als ein groß aufgemachter Schwindel sei. Weiter versuchten Papen und Göring das Ausland zur Vernunft zu bringen. Papen klärte Amerika darüber auf, dass das Ziel der nationalen Revolution die Vernichtung des Kommunismus wäre, die Juden seien ungestört, die Übergriffe beigelegt. Göring ging in seiner Erklärung an die Vertreter der Auslandspresse noch weiter: »Niemals würde es die Regierung dulden«, rief er aus, »dass jemand Verfolgungen ausgesetzt sei, weil er Jude ist.« Wenn die Regierung Maßnahmen gegen eine Überwucherung des jüdischen Elements ergreife, dann sei das ihre Sache! Sie sei aber »erschrocken, empört und fassungslos« über das, was im Auslande über die Zustände in Deutschland geschrieben werde. Unvermittelt, nach all den Dementis gab er zu, dass es »Fälle gegeben habe, wo Juden festgenommen und geschlagen worden seien«, die Täter wurden aber bestraft und entlassen, übrigens handelte es sich in den meisten Fällen um »kommunistische Provokateure«. Zugleich hatte Hitler eine Unterhaltung mit Goebbels gehabt, um eine Abwehr gegen die »von interessierten jüdischen Kreisen in Amerika und England gegen das neue nationale Regime in Deutschland entfesselte Gräuelpropaganda« zu organisieren. Man war gewillt, zu »schärfsten gesetzmäßigen Maßnahmen« zu greifen, um damit die intellektuellen Urheber und Nutznießer dieser landesverräterischen Hetze zu treffen.
Was das wieder bedeuten sollte, mein Gott, was das bedeuten sollte?
Unten stand eine Entschließung des Bundes nationalsozialistischer Juristen, dass von nun an nur Arier Armenanwälte, Pfleger, Vormünder, Testamentsvollstrecker, Zwangsverwalter und Konkursverwalter sein konnten. Angehörige fremder Rassen durften nicht mehr Notare oder Richter werden. Da war ein Kaufmann wegen Erpressung und Betruges vor Gericht erschienen. Er hatte sich als Nationalsozialist dagegen verwahrt, von einem jüdischen Richter abgeurteilt zu werden. Und tatsächlich war seinem Antrag stattgegeben worden mit der Begründung, dass ein jüdischer Richter einem Nationalsozialisten keine Unbefangenheit entgegenzubringen vermöge …
Wenn das Ausland nur diese Meldung übersah, ach, wenn es die nur übersah! Sonst mussten die Juden für die Hetze büßen!
Im Badezimmer begann das Wasser zu fließen. Nach zwanzig Minuten mühseliger Arbeit war es Vicki gelungen, den Hahn aufzudrehen. Sie hatte auch schon ihr Hemd ausgezogen, einen Schemel zur Wanne geschleppt, schickte sich an, ins Bad zu steigen. Ruth erwischte sie noch rechtzeitig, das Wasser war viel zu heiß, die Kleine hätte sich verbrüht. Unerhört, dass sie das Kind vergessen konnte. Jetzt seifte sie den glatten Kinderkörper ein. Vicki streckte die Arme aus, drehte sich um, doch schien auch sie etwas zu beschäftigen.
»Tante«, fragte sie plötzlich, »ist er auch richtig eingesperrt?«
Ruth zuckte zusammen:
»Wer denn? Wen meinst du?«
»Na, der Wolf im Zoo.«
»Ja, er ist richtig eingesperrt.«
Vicki deutete auf ihre Fessel:
»Da, bitte, da ist es immer ein wenig schmutzig. Kann er auch nicht weglaufen, sag, Tante?«
»Nein, er kann nicht weglaufen.«
Sie hob das Kind aus dem Bad, rieb es mit dem Frottierhandtuch ab, wollte ihr das Hemdchen überziehen, die Kleine aber sagte:
»Ich kann mich schon selbst anziehen«, und nahm ihr das Kleidungsstück aus der Hand, setzte dann hinzu: »Nur hinten kann ich das Leibchen nicht schließen, ich habe noch zu kurze Arme. Aber in neunundeinhalb Monaten, da bin ich schon groß, ich werde sechs Jahre alt. Wenn man in die Schule geht, muss man sich doch ganz allein anziehen können, nicht, Tante?«
Ruth strich ihr mit einer Bürste über das feine, glatte Haar. Vicki wehrte ab:
»Warte, eins nach dem anderen.« Ruth musste lachen, wie oft hatte sie diese Worte von Hanna gehört? Doch die Kleine meinte strafend:
»Ach, meine Schuhe sind nicht geputzt, bei uns zu Hause gibt es am Morgen immer geputzte Schuhe«, und sofort legte es sich Ruth wiederum wie Blei aufs Herz: Wo die Müller blieb? Unglaublich, sie, die die Pflichttreue, die Pünktlichkeit selbst war …
In diesem Augenblick hörte sie die Tür gehen, und plötzlich stand die Müller da – ach, aber war es denn wirklich die Müllern, die kräftige, freundliche, ausgeglichene Frau? Ein altes Weib lehnte an der Wand, mit grauen Strähnen, die ihr wild ins Gesicht herunterhingen, roten entzündeten Lidern, fahlem Gesicht. Ohne Guten Tag zu sagen, ohne sich zu entschuldigen, stieß sie nur hervor:
»Meinen Jungen haben sie weggeschleppt!«
In der Nacht waren sie gekommen, hatten die Wohnung nach Waffen und verbotenen Schriften durchsucht, nichts gefunden als alte Nummern des »Vorwärts« und der »Jungsozialistischen Blätter«. Trotzdem hatte Hans mitmüssen. Und nun war es aus. Sie würde ihren Jungen nie wiedersehen. Dessen war sie sicher.
Ruth versuchte zu protestieren: »Aber Müllerchen, wenn sie nichts gefunden haben, so werden sie ihn wieder herauslassen!«
Die Müller machte eine schwache Handbewegung – auch die Hand war alt geworden, sah aus, als könnte sie kein Ding mehr halten, das Leben nicht mehr halten.
»Lassen Se man gut sein, Frau Borchardt. Se wissen nich, was die mit uns machen. In der Laubenkolonie in Neukölln sind se plötzlich einjedrungen, haben jedroht, se in Brand zu setzen, wenn der Erich Mayer, der Sekretär des Jugendverbandes, nich herauskommt. Um die Leute nich zu gefährden, ist er schließlich rausjegangen, wenn seine Mutter auch weinte und ihn festhielt. Wusste se doch, er jeht in den Tod. Man hat ihn auch nicht mehr lebendig jesehen. Seine Leiche haben se dann jefunden, dreizehn Messerstiche hat er im Leibe jehabt und viele Hiebwunden – war nich zu erkennen, der Junge.«
»Hör auf!«, wollte Ruth schreien, »hör auf!« Aber sie brachte kein Wort heraus, und die Müller fuhr fort:
»In’n Kasernen werden se mit Stahlruten jeschlagen, müssen dann strammstehen und das Horst-Wessel-Lied singen. Viele sterben an den Misshandlungen später in den Krankenhäusern. Ja, Frau Borchardt, das weeß man alles nich, die Anjehörigen haben ja Angst, den Mund aufzutun, weil se denken, die Verhafteten werden dann noch mehr misshandelt. Zwei Freunde von mein’ Jungen sind so ums Leben jekommen, aber der Mensch denkt immer: ›Mich trifft’s nich, an mir jeht’s vorüber.‹«
»Gehen Sie nach Hause, Müllerchen«, bat Ruth. »Vielleicht erfahren Sie was Neues von Ihrem Sohn, vielleicht ist er schon frei. Sie können heute nicht arbeiten …«
»Nee, nee, Frau Borchardt, davon wird’s auch nich besser, wenn ich jetzt faulenze. Und frei sein kommt ja nich infrage, die sind ja froh, dass se ihn haben.«
Die Müller stampfte schwer aus dem Badezimmer.
»Müllerchen«, lief ihr Ruth nach, »ich bringe nur das Kind zurück und mache dann einen Sprung zu meinem Schwager Herbert. Der ist Sturmführer, kann Ihnen bestimmt helfen, Müllerchen.«
Die Müller blieb stehen:
»Wenn Se wollen, Frau Borchardt. Aber nützen wird’s bestimmt nich, ich seh mein’ Jungen nich wieder.«
Sie saßen schon in der U-Bahn, als Vicki Ruth aufgeregt am Ärmel zupfte:
»Tante, ich habe meinen Regenschirm vergessen!«
Die Kleine blickte ganz verzweifelt drein. Sie war aufgestanden, wollte aussteigen. Ruth hielt sie zurück:
»Das macht nichts, Vickichen, Müllerchen stellt ihn schön in die Ecke, es geschieht ihm gar nichts. Und morgen bringe ich ihn dir wieder.«
»Morgen?«
»Oder übermorgen. Übermorgen ganz bestimmt. Weißt du, ich habe heute noch so viel zu tun, was sehr Wichtiges. Und es wird heute nicht regnen, sieh, wie blau der Himmel ist.«
Die U-Bahn stieg jetzt aus dem Tunnel zum Gleisdreieck hinauf. Ruth dachte daran, wie sie als Kind stets auf diesen Augenblick gewartet hatte, als die Schatten immer heller wurden und der Wagen stürmisch ins Tageslicht emporfuhr. Es war ihr jedes Mal, als stiege sie in den Himmel, besonders an sonnigen Tagen, da alles blau und gold leuchtete. Nach dem Nollendorfplatz schloss sie immer die Augen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sich das Dunkel wieder an die Fensterscheiben legte.
Doch heute tat ihr die Finsternis wohl: Dort gab es keine Hakenkreuzfahnen, keine Demonstrationen. Auch die Menschen wurden stiller, so schien es ihr zumindest, die Zeitungen raschelten leiser. Was Hitler und Goebbels wohl für Repressalien gegen die Juden ausgedacht hatten? Diesen krankhaften Fantasten war alles zuzutrauen. Jemand musste schließlich dafür büßen, dass sie sich in der Außenpolitik Schlappe nach Schlappe holten. Zwar erwogen die Westmächte den Vorschlag Mussolinis, der bestrebt war, den deutschen Faschismus gesellschaftsfähig zu machen, und waren einem Viermächtepakt nicht abgeneigt. Aber es sah eher danach aus, als sei dies eine Form, Deutschland im Zaum zu halten, nicht ein kameradschaftliches Bündnis. Der zur Macht gekommene Nationalismus hatte in Europa das Kriegsgespenst neu heraufbeschworen. Wohl bestritt die deutsche Regierung nach ihrer Gewohnheit alles, was geeignet war, das Ausland gegen ihre Friedensliebe skeptisch zu machen. Sie mochte von dem »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen!« nach außen ebenso wenig wissen wie von dem »Juda verrecke!«, empfand es als Böswilligkeit, wenn die Welt nicht vergessen wollte, dass er unter diesen zwei Losungen zur Macht gekommen war. Überdies konnte man im letzten Kapitel von Hitlers »Mein Kampf«, das bis heute weder ausgelassen noch abgeändert wurde, schwarz auf weiß die kühnen Pläne des Führers nachlesen. Irgendwelche Hindernisse moralischer Natur gab es für ihn selbstverständlich nicht, da er auf dem Standpunkt stand, die Macht schaffe auch das Recht. Außerdem musste es für die minderen Völker geradezu ein Glück sein, von dem hochwertigsten Zweig der arischen Rasse, nämlich den Nachfahren der alten Germanen, kolonisiert zu werden. Dieses Glück sollte nun den Völkern der Sowjetunion zuteilwerden; was mit dem dazwischenliegenden Polen geschehen sollte, wurde nicht erwähnt, konnte aber leicht aus der Fantasie ergänzt werden. Damit aber das neidische Frankreich den Germanen nicht in die Suppe spuckte, musste dieses, wie der Autor sich ausdrückt, »vernegerte Volk« zuerst so entschieden geschlagen werden, dass es keine Kraft mehr besaß, auch nur ein Glied zu rühren. Dagegen war mit England Freundschaft zu schließen, damit es einem auf dem Kontinent freie Hand ließ. Dies war umso leichter zu erreichen, als doch auch die Engländer Germanen waren.
Leider schien sich England auf die Blutsverwandtschaft nicht zu besinnen. Es verging fast kein Tag, an dem nicht einer seiner führenden Staatsmänner, eine Zeitung, ein Abgeordneter den Rassenstandpunkt und die Innenpolitik der deutschen Regierung gebrandmarkt hätte. Die Erklärungen der deutschen Regierungen über Provokateure, kommunistische Spitzel, unverantwortliche Elemente wurden nicht ernst genommen, die stolzen Worte, Deutschland werde niemand erlauben, sich in seine Angelegenheiten zu mischen, einfach überhört. Es war nicht anders möglich, als durch eine Erpressung der öffentlichen Meinung des Auslandes den Mund zu stopfen. Dazu waren wie immer die Juden ausersehen.
Kam noch als empfindliche Demütigung hinzu, dass selbst aus den kleinen Siegen, die man sich spielend leicht gedacht hatte, nun nichts zu werden schien. Der erste Punkt des Programms war die selbstverständliche Vereinigung aller deutschen Stämme unter der Führung Berlins. Nun sah es aber so aus, als setzten sich diese schlappen Kerls, die Österreicher, zur Wehr. Wohl hatte auch hier die Parole »Juda verrecke!« bei vielen, die ihre jüdischen Konkurrenten gern auf administrativem Wege losgeworden wären, außerordentlich stark gezogen. Böhmische Kaufleute, Gemischtwarenhändler und selbst Ärzte, Anwälte namens Ruzicka oder Wrlik begannen für germanisches Rassentum zu schwärmen. Aber die Gleichschaltung der Kirche, die Brüskierung des Zentrums und der Bayrischen Volkspartei, die Verprügelung Geistlicher in München verstimmten immer mehr die maßgebenden katholischen Kreise. Der »Bauernbündler« wetterte gegen die Leute, die ein »Weihwasserbecken von einem Pissoir« nicht unterscheiden konnten. Auch widerstrebte die Brutalität, mit der die Hitlerleute zu Werke gingen, der Psyche des österreichischen Menschen. Höflich, aber entschieden begann sich nun David den Zugriffen Goliaths zu entziehen. Es war für Berlin nur ein kleiner Trost, dass dabei die demokratische Regierungsform immer mehr der autoritären wich. Und in diesem ungleichen Kampf standen die Sympathien der ganzen Welt auf der Seite des österreichischen Bundeskanzlers Dollfuß! Dies bedeutete eine neue Ohrfeige für Deutschland. Es wurde immer mehr isoliert, und der Boykott deutscher Waren, wenn er auch nicht konsequent genug durchgeführt werden konnte, um ernstlichen Schaden zu bringen, er war ein Symptom wie so viele andere.
Aber je isolierter und schwächer Deutschland nach außen wurde, desto mehr musste es im Innern die starke Hand zeigen. Durch die beständigen Drohungen und Schmähungen wurden die Verfolgten bereits so weit entnervt, dass sie selbst im Auslande für ihre Peiniger intervenierten. Die Abgeordneten der SPD hatten es nicht gewagt, der Eröffnung des Reichstags fernzubleiben. Als die Sozialdemokraten im Reichstagsausschuss die Freilassung ihrer elf Abgeordneten verlangten, antwortete Minister Frank: Die Forderung, dass sich die Re...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Vorspiel
  3. Erstes Kapitel
  4. Zweites Kapitel
  5. Drittes Kapitel
  6. Viertes Kapitel
  7. Fünftes Kapitel
  8. Sechstes Kapitel
  9. Siebentes Kapitel
  10. Achtes Kapitel
  11. Neuntes Kapitel
  12. Zehntes Kapitel
  13. Impressum