Wider die Kunst
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Wider die Kunst

  1. 192 Seiten
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Über dieses Buch

Was bleibt, wenn die Geliebten fort sind? Zwei Schicksalsschläge erschüttern das Leben des norwegischen Autors Tomas Espedal: Zuerst verstirbt seine Mutter, kurz darauf auch seine Frau Agneta. Die Verluste verlangen ihm eine neue Art zu leben ab, denn er bleibt mit seiner jüngsten Tochter allein zurück. Trost kann er dem Mädchen nicht spenden, der verzweifelte Versuch, die Mutter zu ersetzen, beraubt das Kind des Vaters. Espedal beginnt Halt zu suchen in derErkundung seiner Familiengeschichte. Woraus, fragt er, erwächst eine Familie, was bedeuten Liebe und Verrat, was Mutterschaft und Vatersein. Seine Kunst, das Schreiben, stellt sich somit in den Dienstdes Lebens. Selten verweben sich in der Literatur Schreiben und Leben derat eng und unausweichlich wie in den Büchern Espedals. Der Kosmos seines Lebens, den er vor dem Leser ohne Schonungentfaltet, entwickelt ungeheure Sogkraft. Unbedingt und mit Haut und Haar möchte man eintauchen in die Welt dieses berührenden Mannes, sich erfrischen an der Klarheit und Aufrichtigkeit seiner Sprache.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783957571946
SEPTEMBER
Wer weiß
ob ich selbst
vielleicht
anders heiße
als ich selbst.
Inger Christensen
Mein Vater wurde auf den Namen Eivind Olsen getauft. Mit dreizehn Jahren bekam er den Namen Eivind Espedal Olsen, auf Wunsch seiner Mutter, sie wollte, dass ihr Name in seinem Namen vorkam. Dann nahm er den Namen Eivind Espedal an; ich glaube, er tat es um meiner Mutter willen, sie wollte nicht Olsen heißen, sie wollte nicht in einem Wohnblock wohnen. Und trotzdem zog sie in einen Wohnblock, das junge Paar konnte sich nichts anderes leisten. Sie zogen in eine Wohnung im zehnten Stock, es sollte vorübergehend sein, sie sollten dort vierzehn Jahre lang wohnen. In demselben Stockwerk, in derselben Wohnung; ich weiß nicht, warum sie nicht umzogen, es konnte nicht nur am fehlenden Geld liegen, sie hatten beide Arbeit; mag sein, sie blieben aus einer gewissen Vorsicht dort, oder aus Angst, einer Angst vor Veränderungen; ich erkenne sie in meiner eigenen wieder. Ich hätte schon lange umziehen sollen. Das alte Haus ist dabei, meine Gesundheit zu ruinieren, um die es sowieso nicht zum Besten steht; der kalte Luftzug von den Fenstern, die Feuchtigkeit in den Wänden und die kalten Böden, ein bläulicher, schimmelartiger Belag auf den blanken Holzplanken im Schlafzimmer. Ein muffiger Geruch von Pilz und faulendem Holz, von toten Insekten und Tieren; es ist, als wäre die Natur in das Haus eingezogen und wäre in ihm in Verwesung übergegangen, als wäre der Herbst eingezogen und ließe all seine Blätter auf den Boden des Schlafzimmers fallen; ein Hauch von Laub und Äpfeln. Der säuerliche Geruch von Einsamkeit und Fäulnis, wenn ich aufwache. Ich bin zu viel alleine. Es herrscht zu viel Stille, es ist zu wenig Bewegung im Haus. Es ist zu viel Einsamkeit im Haus. Sind zu viele Zimmer im Haus. Zu viele leere Zimmer; es ist zu viel Tod im Haus. Das alte Haus macht mich fertig; ich schlafe schlecht. Friere tagsüber, leide unter heftigen Schwindelanfällen. Eines Abends, als ich früh ins Bett ging, um noch zu lesen, konnte ich plötzlich die Buchstaben auf der Seite nicht mehr sehen, ich blätterte um, aber die Buchstaben waren immer noch weg, oder sie fielen zusammen zu einer dünnen, unlesbaren Schrift, die die Seiten mit schattengleichen Zeichen füllte; als wäre ich Zeuge der Geburt einer neuen Sprache oder des Endes des Sehens, seines Verschwindens, alles verschwand vor meinen Augen; ich konnte keine Bücher mehr lesen. Am nächsten Morgen durchwühlte ich die Bücherkisten unter dem Bett und fand eine Brille, die meiner Mutter gehört hatte, ein großes ovales Gestell mit breitem Rand aus farbigem Plastik, die Brille bedeckte den oberen Teil des Gesichtes und gab mir mein Augenlicht wieder, nicht vollständig und scharf, aber genug, dass ich an der Schreibmaschine sitzen und lesen konnte, was ich getippt hatte. Meine Mutter hasste die Wohnung in dem Wohnblock. Es stand zwar Espedal auf dem Namensschild, nicht Olsen, aber es war meiner Mutter nicht gut genug, sie wollte umziehen, all die vierzehn Jahre, in denen sie hier wohnte, wollte sie weg. Wenn sie von der Arbeit im Krankenhaus nach Hause kam, roch es im Aufzug nach Pisse, jemand hatte in die Ecke der engen Kabine uriniert, es geschah jeden Tag wieder, sie drückte auf den Knopf mit der Zahl zehn, er leuchtete auf. Sie drückte sich in die Ecke des überfüllten Fahrstuhls, stand eingeklemmt zwischen den fremden Körpern, die sich immer dichter an sie pressten, je mehr Leute zustiegen. Sie versuchte, sich kleiner zu machen, stellte sich auf die Zehenspitzen und spürte, wie die Luft aus ihr herausgedrückt wurde, sie verlor Arme und Füße, sie bekam keine Luft mehr und blieb bewusstlos zwischen den fremden Leibern im Aufzug hängen. Allen, die in der Straße wohnten, war klar, dass sie nicht dorthin gehörte, sie stach hervor. Sie redete nicht mit den anderen Frauen auf der Etage, grüßte nicht und ging vorbei, als wäre sie zu gut, um zu sein, wo sie war, im Skyttervei, im zehnten Stock, warum wohnte sie dort? Sie litt unter Höhenangst und fürchtete sich vor Hunden. Sie trug stets teure Kleider, hatte einen eigenen Stil; es war, als wollte sie die schlichte Adresse im zehnten Stock mit exklusiver Kleidung ausgleichen, sie schminkte sich stark und änderte ständig die Frisur, sie benutzte Perücken. Sie war blond und manchmal dunkel, trug das Haar aufgesteckt, oder es hing ihr in einem schwarzen Pferdeschwanz am Hinterkopf, wenn sie morgens aus der Tür ging, es war acht Uhr, sie ging zur Arbeit. Sie stand im Hausflur und wartete auf den Fahrstuhl. Er kam aus dem dreizehnten Stock, und als sie die Tür öffnete, saß ein Hund darin. Ein schwarzer Dobermann, er saß in der Ecke der Kabine, zu Füßen seines Herrchens, er hielt den Hund an der Leine. Sie öffnete die Fahrstuhltür und starrte steif den Hund an, der die Ohren spitzte und aufstand, sie roch nach Haarspray und Parfum. Keine Sorge, er ist nicht gefährlich; sie ließ die Fahrstuhltür los und trat zurück, ging zur Treppe und blieb dort stehen, mit Blick auf den Treppenabsatz im neunten Stock. Sie traute sich nicht die Treppe hinunter und wagte nicht, den Aufzug zu nehmen, es war, als wäre sie in diesem Stockwerk gefangen, im zehnten Stock, sie war in dem Wohnblock gefangen, in dem sie wohnte.
Wenn sie nach Hause kam, war manchmal in sämtlichen Briefkästen im Eingang Feuer gelegt. Alle vier Reihen mit zweiundvierzig Briefkästen und Namensschildern; jemand hatte Benzin oder Paraffin in die Schlitze gegossen und die ganze Bescherung angezündet, Namensschilder und Briefe. Andere Male war die Wohnung, wenn sie nach Hause kam, von Kindern okkupiert, ihrem eigenen Kind und anderen Kindern aus dem dritten und zehnten Stock; wir spielten Fußball oder rannten von Zimmer zu Zimmer und versteckten uns im Garderobenschrank und ihren Kleiderschränken. Sie hatte vor die Balkontür eine Art Klimpervorhang gehängt, Nylonfäden mit Glocken oder Holzröhren, die sie mit ihrem Geklingel alarmieren sollten, falls einer von uns die Tür zu dem kleinen Balkon öffnete; sie sah vor sich, wie einer von uns, wie ich über das niedrige Geländer kletterte, hinausstürzte, aus dem zehnten Stock fiel und kopfüber auf dem Asphalt aufprallte. Die Wohnung bot Aussicht über das Meer. Vom Balkon aus konnten wir die Stadt und die umliegenden Berge sehen, wir sahen die Inseln und den Fjord, der zwischen Olsvik und Askøy verlief, ein Mund, eine Öffnung, die zum Schärengarten und zum Meer hinausführte. Wenn abends Wolken und Dunkelheit sich über die Stadt und die Berge legten, verwandelte sich die Aussicht zu einer dichten schwarzen Wand, die uns einschloss; wir sahen die kleinen Lichter der Häuser dort außen, wie Sterne an einem alles verschluckenden Himmel; er löschte Land und Wasser aus, sie lösten sich auf, wurden zu einer dunklen, fließenden Masse mit Lichtflecken, es war, als wohnten wir in der Luft. Wir hingen zwischen Himmel und Erde fest, eine leuchtende kleine Wohnung zwischen anderen Lichtern an dem schwarzen Himmelszelt; die Lichter wurden gelöscht, eins nach dem anderen, es war Zeit, ins Bett zu gehen.
Die Lichter wurden gelöscht, draußen und drinnen, die Lichter in den Häusern und das Licht im Wohnzimmer, im Eingangsflur und im Schlafzimmer, es wurde dunkel. Ganz schwarz. Nicht der geringste Lichtstreifen unter der Tür. Auch kein Licht durchs Fenster, kein Mond, keine Sterne, nur diese dicken braunen Samtgardinen, die nach Staub rochen, nach Erde rochen. Es war, wie im Bett begraben zu sein; ich rief nach meiner Mutter, ich konnte die Geräusche des Fahrstuhls hören, wie er von den Kabeln und der Maschine auf- und abgelassen wurde, oder war es mein Zimmer, das hinabgelassen wurde; mein Zimmer wurde langsam, fast unmerklich einen Schacht hinuntergelassen, der sämtliche Stockwerke passierte, in den Keller hinab und weiter unter die Erde; ich konnte es hören. Wie mein Bett an starken Seilen in das offene Erdloch gelassen wurde, es glitt in die Dunkelheit hinab; ich rief nach meiner Mutter. Ihr Zimmer lag auf der Vorderseite des Wohnblocks, meines auf der Rückseite, zwischen uns lag eine Welt von dunklen Zimmern. Wir waren getrennt durch eine Nachtwelt, in der dunkle Lampen und alte Möbel wohnten, ein furchteinflößender Sessel, das braune Sofa mit den Armlehnen, es roch nach Wald. Von meinem Jungenzimmer im zehnten Stock blickte ich tagsüber direkt in den Wald. Nachts hörte ich den Wind in den Bäumen, ich hörte die Vögel und andere Tiere, manchmal war es, als schliefe ich unter freiem Himmel, ich lag ungeschützt, von den Geräuschen des Waldes umgeben, von der Dunkelheit des Waldes; ich lag mitten im Wald und wagte nicht zu schlafen. Ich rief nach meiner Mutter. Nachts lebten wir in zwei getrennten Welten. Zwischen uns lagen ein großer, dunkler Wald und ein großes, dunkles Wohnzimmer, in dem kleine Wesen oder Tiere lebten, unter Stühle und Tische geduckt, unter das Sofa und die Regale, überall, wo Platz genug war, hineinzukriechen und sich zusammenzukauern, um dann herauszuspringen und anzuschwellen und so groß zu werden, dass sie den, der es wagte, sich nachts im Wohnzimmer zu bewegen, verschlucken konnten. Ich konnte sie hören, ihr Knurren und ihre Schreie, kamen sie aus dem Wohnzimmer oder aus dem Wald? Ich rief nach meinem Vater. Er kam sofort zu meiner Tür, öffnete sie behutsam und trat leise ins Zimmer. Er stand an meinem Bett, bückte sich und küsste mich auf die Wange. Er strich mir durchs Haar. Er steckte die Decke fest um mich und machte die Nachttischlampe an, hängte ein weißes Hemd über den Lampenschirm, sodass ich im Zwielicht lag: Endlich, endlich konnte ich schlafen.
Nachts kam es bisweilen vor, dass eine Gestalt in meinem Zimmer stand; ich erschrak nicht, sondern blieb reglos im Bett liegen, schlug die Augen nicht auf, versuchte, durch die Lider zu sehen, die ich langsam und vorsichtig zu einem schmalen Spalt öffnete, so schmal, dass ich nicht wusste, ob das, was ich sah, sich auf der Innen- oder Außenseite der Lider befand; war es ein Traum, oder sah ich sie wirklich in der Tür stehen? Sie kam ins Zimmer, glitt durch die Dunkelheit zum Bett, vor dem sie stehenblieb. Sie stand am Fußende meines Bettes und blickte auf mich hinab. Nichts sonst, sie stand da und schaute. Dann hörte ich ein Seufzen, von meiner Mutter, sie seufzte. Ich wünschte, dass sie sich neben mich ins Bett legte, aber sie glitt wieder vom Bett weg und aus dem Zimmer, ebenso lautlos, wie sie gekommen war; was wollte sie? Warum stand sie nachts an meinem Bett und blickte auf das Kind, das erwachsen geworden war; jetzt war es zu spät, zu spät, etwas zu dem Jungen zu sagen, zu spät, ihn im Dunkeln zu beruhigen, ihn vor all dem zu beschützen, vor dem er Angst hatte, der Dunkelheit, dem Wald, dem Zimmer, dem Tod, allem. Es war zu spät, war es das wirklich? Sie verschwand aus dem Zimmer, ich blieb mit aufgerissenen Augen im Bett liegen; ich konnte den Nachttisch und das Fenster über dem Fußende deutlich sehen. Wo lag ich? Ich lag im Schlafzimmer in dem Haus auf Askøy; ich lag im Dunkeln, wie immer, wartete, dass die Angst ihren Griff löste und der Schlaf Fuß fassen konnte, wie ein Betäubungsmittel, damit ich endlich schlafen konnte.
Morgens weckte sie mich früh; bevor sie zur Arbeit ging, hatte sie Frühstücksbrote und Schulbrote geschmiert, die ich in der Küche holte; ich aß im Bett. Ich blieb so lange im Bett liegen, wie ich konnte, oft stand ich auf, um wieder ins Bett gehen zu können; ich ging in die Küche und holte das Frühstück, stellte es auf ein Tablett, das ich auf der Bettdecke platzierte, ich setzte mich ins Bett, Kissen im Rücken, und aß die Brotscheiben und das aufgeschnittene Obst, während ich ein Buch las. Ich war allein in der Wohnung. Ich konnte die Geräusche aus den Wohnungen darüber, darunter und neben mir hören; als bestünden Wände, Decke und Boden meines Zimmers aus einer dicken Membran, durch die die Laute und Bewegungen aus den Nachbarwohnungen hereinströmten und sich in dem Zimmer, in dem ich lag, einnisteten; direkt hinter dem Ende meines Bettes stand ein Mädchen, dicht an meinem rechten Ohr; ich konnte sie fast flüstern hören. Linker Hand lag in meinem Zimmer unterm Schreibpult ein Hund, er aß wie ich, und wie ich lief der Hund gern schnell durch die Zimmer, vielleicht hatte er Angst, vielleicht war er allein. In einer Stunde musste ich zur Schule gehen, ich brauchte nur aufzustehen, ins Badezimmer zu gehen und mich anzuziehen. Meine Mutter hatte die Kleidung bereitgelegt, es war etwas, das sie selbst genäht hatte, eine anzugähnliche Uniform, braune Hosen mit Bügelfalten und eine braune Jacke mit hellbraunen Knöpfen, es war ein für die Straße gefährlicher Aufzug, gefährlich, so durch die Straße und an den Wohnblöcken vorbeizugehen, ganz bis zur Schule, doch sobald ich das Klassenzimmer erreichte, war ich in Sicherheit. Meine Mutter hatte mich in eine andere Klasse versetzen lassen, weg aus der Skyttervei-Klasse, in eine Klasse mit Kindern aus den Eigenheimen in Biskopshavn. Das war ein gefährlicher Tausch, aber ich bewältigte ihn gut; ich lernte, mich zu schlagen, mich zu prügeln und die Prügeleien zu gewinnen. Ich wohnte gern im Skyttervei. Meine Mutter wollte umziehen. So schnell wie möglich. Ich weiß nicht, warum wir dort wohnen blieben, vielleicht fehlte es an Geld, vielleicht gab es weitere Gründe; mein Vater wollte nicht umziehen, und ich wollte absolut nicht umziehen, wir blieben dort wohnen. Ich blieb morgens im Bett liegen, solange ich konnte. Eine halbe Stunde vor Schulbeginn sprang ich auf, lief ins Bad und zog mich schleunigst an. Ich nahm den Fahrstuhl und trat rasch auf die Straße hinaus, trabte an den niedrigeren Wohnblöcken und dem Spielplatz, am Supermarkt und dem Fußballplatz vorbei; ich lief den ganzen Weg zur Schule. Dieses Laufen rettete mich, rettete den Anzug; ich kam mit heiler Haut hin und zurück, kein Härchen wurde mir gekrümmt, Jacke und Hose erlitten keinen Schaden.
Meine erste Verliebtheit galt einem Jungen aus dem zweiten Stock, dem jüngsten von fünf Brüdern. Wir nannten sie die Saars-Brüder; ich dachte erst, sie gehörten zu einer Zigeunerfamilie, sie hatten dunkle Haut und kohlrabenschwarzes Haar, waren immer schmutzig und trugen löchrige Kleidung. Ihre Kleidung roch nach Abfall und Pisse; ich roch es, wenn ich zwischen ihnen eingeklemmt im Fahrstuhl stand oder einer von ihnen auf der Straße an mir vorbeiging, sie stanken, alle, außer ihm, dem Jüngsten, Helge, er roch nicht, oder er roch gut; ich roch es, als er sich plötzlich auf mich warf, den guten Geruch von Haaren und Erde und Haut. Er hatte ein dunkles, mädchenhaftes Gesicht mit großen, braunen Augen und dünnen, geschwungenen Brauen, die ihm einen offenen, intensiven Blick verliehen, einen melancholischen Blick, kann ich heute in der Rückschau sagen, doch als ich ihn damals sah, machte er mich nur unruhig. Sein Haar war lang und lockig, eine wilde, ungekämmte Mähne, die ihm ins Gesicht hing und es verbarg; er blies das Haar zur Seite. Es fiel ihm auf die Schultern und hinten bis auf den Rücken, über die Jeansjacke, die er immer trug. Enge Hosen und abgetretene Schuhe, er band die Schuhbänder nicht, sie schlenkerten beim Gehen. Er ging mit langen, raschen Schritten, als hätte er es immer eilig, er hatte nichts vor. Rastlos ging er auf der Straße auf und ab, für sich allein, auf der Suche nach Schwierigkeiten oder Streit. Wenn nichts passierte, sorgte er selbst für Probleme; er brach in einen Kellerverschlag ein oder setzte sämtliche Briefkästen in Brand, oder er pinkelte in den Fahrstuhl; ich glaube, er war es, ich weiß es. Ich folgte ihm in einigem Abstand. Er hatte etwas Tierisches, Gefährliches an sich, er schlug um sich wie ein Tier. Wurde er angegriffen, so biss er mit aller Kraft zu, oder er riss an den Haaren wie ein Mädchen, er kratzte und schlug, trat und spuckte um sich, es war unmöglich, ihn unterzukriegen, er gab nie auf. Manchmal griff er ohne Vorwarnung an, es war, als würde etwas in ihm zerbrechen oder explodieren, er vollführte wilde Schläge, trat in den Schritt und den Bauch, er trat gegen den Kopf und hörte nicht auf, bevor sein Gegner reglos am Boden lag. Es sah fast aus, als würde er über seine Beute gebeugt dastehen, um sich über sie herzumachen und ihr die Zähne in die Halsschlagader zu schlagen. Ich weiß nicht, was ihn bewegte, welche Wildheit, welcher Impuls, ein Instinkt, vielleicht war es ein Schaden, vielleicht hatten seine Brüder ihn kaputt gemacht. Die meisten Kinder in der Straße hatten Angst vor ihm und gingen ihm aus dem Weg, er hielt sich meist für sich allein. Allein stand er auf dem Platz vor dem Supermarkt, der Laden war geschlossen, aber dicht daneben stand eine Telefonzelle, die Treppen rechts von dem Vorplatz hinunter, er stand da und rauchte. Einen Zigarettenstummel, den er auf der Straße gefunden hatte. Ich sah, wie er in der Zelle ein- und ausging. Er hob ab und legte wieder auf. Ich kam vom Bus, ging von der Haltestelle hügelan. Ich kam von der Tanzschule. Sie zwangen mich, dorthin zu gehen. Zweimal in der Woche. Ich war gezwungen, schwarze, blankgeputzte Schuhe zu tragen und einen dunkelblauen Matrosenanzug, den ich unter einem Dufflecoat verbarg, dienstags und donnerstags. Eine schwarze Pelzkappe, sie hatte Klappen, die man oben zusammenknoten konnte, oder unter dem Kinn, wenn es kalt war, es war kalt, November. Der Tag vor meinem Geburtstag. Ich wurde dreizehn, wir waren gleich alt, gingen in Parallelklassen, er stand beim Supermarkt und paffte einen Zigarettenstummel. Hast du Kleingeld?, fragte er. Zwei Ein-Kronen-Stücke, sagte ich. Ich suchte in meinen Taschen. Nichts. Ein Schein, aber den wollte ich nicht hervorziehen, das Papier raschelte. Hast du Scheine?, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Nichts. Kein Geld, log ich. Er sagte nichts, stand da und blickte mich an, ich log. Du kannst ihn nicht kleinmachen, sagte ich. Er lachte. Bekam Rauch in die Lunge und hustete. Ein Hunderter?, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Also ein Zehner, sagte er. Leihst du ihn mir bis morgen?, sagte er. Ich kann nicht, sagte ich, er gehört mir nicht. Wem denn?, fragte er. Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht antworten. Ich konnte nicht sagen: meiner Mutter. Ich konnte nicht sagen: Ich habe ihr versprochen, ihn ihr zurückzugeben. Wenn du nicht weißt, wem er gehört, dann gehört er mir, sagte er kurz. Ich brauche ihn, sagte er. Jetzt war ich vorbereitet; gleich würde er kommen. Ich sah mich um, war jemand in der Nähe, niemand. Licht in den Fenstern, Licht im zehnten Stock; ich wollte versuchen zu rennen. In dem Augenblick, als ich losrennen wollte, warf er sich über mich. Er schlang die Arme um meinen Dufflecoat und versuchte, mich zu Boden zu ringen. Ich war überrascht, wie vorsichtig er war, vielleicht dachte er, es wäre leicht, er nahm mich in den Schwitzkasten und wollte mich niederwerfen, aber ich schob ihn weg, schubste ihn weg. Jetzt warf er sich mit voller Kraft mit dem Kopf gegen meine Brust, ich fiel rücklings um und zog ihn mit. Er landete unter mir, und ich setzte mich auf seine Brust, griff seine Arme und wollte ihn festhalten. Im selben Augenblick hob er den Kopf, riss den Mund auf und biss mich in den Schritt, in den Hodensack. Er biss, ich spürte seine Zähne durch den Stoff der Hose, ein furchtbarer Schmerz, ich schrie auf und stieß mit aller Kraft das Knie gegen seinen Mund, sein Hinterkopf schlug auf den Asphalt auf. Es war fast ein Unfall, vielleicht war er bewusstlos, ich schlug ihm so fest ich konnte ins Gesicht. Er schloss die Augen und leistete keinen Widerstand mehr. Ich schlug weiter, schlug seinen Kopf auf den Boden, immer wieder. Dann bemerkte ich, dass er an der Schläfe blutete, da war Blut in seinem Haar und auf dem Asphalt, ich ließ von ihm ab und stand auf. Er blieb liegen, das erschreckte mich mehr als alles andere, ich rannte, so schnell ich konnte, zum Wohnblock, nahm den Fahrstuhl und schloss die Wohnungstür auf, rief nach meinem Vater, ich brauchte Hilfe, und es gab niemanden sonst, der mir helfen konnte, nur meinen Vater.
Mein Vater nahm mich aus der Schule und schickte mich zu seiner Mutter in die Michael Krohns Gate. Ich wurde für den Rest des Novembers und für Anfang Dezember weggesc...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. APRIL
  4. SEPTEMBER
  5. Impressum