Wider die Natur
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Wider die Natur

  1. 192 Seiten
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Über dieses Buch

Ein Mann wird älter. Er verliebt sich in eine junge Frau. Sie beginnen eine Affäre. Die junge Frau verlässt den älteren Mann. Eine alte Geschichte, doch für Tomas Espedal bedeutet sie einen Riss in seinem Leben, der einen intensiven Erinnerungsprozess in Gang setzt: Seine Jugend, die erste Liebe, die Zeit mit seiner verstorbenen Frau, große Momente, schwere Stunden und Erfahrungen des Alltags ziehen an ihm vorbei. Die tragische Auflösung des Ich-Erzählers wird von der Auflösung der literarischen Form begleitet, die in einem Notizbuch mündet, das mit den unversöhnlichen Worten schließt: »Du sagst Ende, aber die Liebe wird nicht enden.«Ein erschütternd kompromissloses Buch. Ein Heilmittel gegen den Schmerz der Liebe.»Dieses Buch ist eine Offenbarung.«Stein Roll, Adresseavisen»›Wider die Natur‹ ist einfach eine Liebesgeschichte, sie zieht den Leser mit großer Kraft in ihren Bann und spricht direkt zu jedermann, der den Schmerz der Liebe einmal erlebt hat.«Ingunn Økland, Aftenposten»Tomas Espedals Bücher sind die Hauptschlagader der norwegischen Gegenwartsliteratur.«Jørn O. Mørch Larsen, Bergensavisen

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783882214079

DIE LIEBESARBEIT

Ich war mit meiner Freundin auf einer Fete, da kam ein Mädchen zu mir und fragte, ob ich mit zu ihr nach Hause kommen wolle.
Sie sah sehr gut aus, aber nicht im üblichen Sinne, ihr Gesicht war irgendwie etwas hässlich, schwierig, was es besonders hübsch machte, von allen anderen unterschieden; sie war nicht wie wir, sie war keine gewöhnliche Achtzehnjährige, die gewöhnlich aussah.
Sie hatte große Augen und schwere Lider, durch die sie matt und abwesend wirkte, in ihrem Gesicht war etwas Desinteressiertes und Müdes, das nicht zu ihrem Alter passte. Ein schmales, blasses Gesicht mit dunklen Augen und vollen Lippen, die dick und aufgesprungen waren. Sie hatte eine scharf geschnittene Nase und große Ohren unter dickem, schwarzem Haar; es war auf eine unnatürliche Weise gelockt, offensichtlich verwandte sie viel Sorgfalt auf ihr Aussehen. Ihre Kleidung war ausgefallen, eine weiße Tüllbluse und schwarze Samthosen mit Schlag, blanke Schuhe mit hohen Absätzen, sie war groß und dünn. Den Mantel hatte sie bereits an, sie war fertig zum Gehen, vielleicht langweilte sie sich, einen roten Mantel mit schwarzem Kragen.
Wer war das?, fragte Eli, als wir beieinander standen, sie war verstört, als wäre der Abend aus dem Gleichgewicht geraten.
Das war Agnete, sagte ich. Ich kenne sie nicht.
Was hat sie gewollt?
Sie hat gefragt, ob ich mit zu ihr nach Hause kommen will.
Und was hast du gesagt?
Ich habe gesagt, dass ich mit dir zusammen bin.
Das muss sie gesehen haben, bevor sie dich das fragte. Wärst du gern mitgegangen?
Nein, woher, die ist komisch. Sie konnte doch sehen, dass wir zusammen sind, für wen hält die sich, das ist doch idiotisch.
Hast du nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, dass du mitgehen könntest, zum Beispiel, wenn du allein wärst, wenn du nicht mit mir zusammen wärst?
Aber ich bin mit dir zusammen.
Aber wenn du das nicht wärst?
Das ist unmöglich, sagte ich, man kann nicht etwas denken, das kein Gedanke ist.
Und das entsprach der Wahrheit. Es war mir unvorstellbar, ohne Eli zu sein, auch eine Zukunft ohne sie erschien undenkbar, und dennoch sollte ich Agnete heiraten, das war viele Jahre später, zwölf Jahre später war ich mit Agnete verheiratet.
Wir heirateten in einer kleinen Kapelle in Viksdalen, sie hieß Hestad Kapell, der kleine Kirchenraum hatte kaum Platz für alle Hochzeitsgäste, ich kannte keinen davon.
Die Braut trug ein weißes Kleid, im Haar eine weiße Perlenschnur, der Bräutigam einen weißen Anzug und eine Blume im Knopfloch, die Hochzeit wirkte so unschuldig und rein, zwei Monate später war die Ehe kaputt.
Aber wir hatten einander schon viel früher gesehen: Sie war in den Wohnblocks in Fagernes aufgewachsen, ich in denen im Skyttervei; wir landeten in Parallelklassen in der Hellen Skole, aber eines Tages war sie weg; ich meine mich zu erinnern, dass dieses dunkelhaarige Mädchen eines Tages verschwunden war, es gab eine Lücke in den Reihen, in denen wir uns im Schulhof aufstellten. Ich weiß, dass ihre Eltern aus Sandviken-Fagernes nach Hop umzogen, in die Siedlung Skjold im Ortsteil Fana. Sie zog aus den Wohnblocks in Fagernes in ein Einfamilienhaus in Fana; und in diesem Einfamilienhaus blieb sie verschwunden.
Bis sie eines Tages im Lesesaal der Bibliothek saß; ich erkannte sie auf Anhieb wieder. Das schmale, etwas schiefe Gesicht mit den großen Augen und den schweren Lidern. Ihr Gesicht war älter als sie selbst. Dieses schwere oder melancholische Gesicht verlieh ihr eine eigenartige Schönheit, schließlich war sie nicht älter als achtzehn. Mir fiel auf, dass sie eines von Tschechows Stücken las, Die Möwe.
Eines Abends sah ich sie im Theater, in einem Stück über Franz Kafka. Sie spielte seine jüngere Schwester Ottilie; eine Nebenrolle, nur wenig Text, aber ich erinnere mich daran, dass sie in einen Schrank gedrängt wurde, sie verschwand darin, sie wurde in dem Schrank umgebracht, vergast.
Ab dem Moment, so glaube ich, war es mir unmöglich, sie nicht zu lieben.
Sie verschwand und tauchte wieder auf. Das war ihr Muster, schon bevor ich sie kannte. Sie tauchte bei dem Fest auf, wo ich zusammen mit Eli war. Sie kam zu mir in einem Moment, in dem ich allein war, fragte, ob ich mit zu ihr nach Hause kommen wollte. Das konnte ich nicht, das wollte ich nicht, aber die Art, wie sie dann ging, demonstrativ und theatralisch, als wäre ich der größte Idiot der Welt, versetzte mir einen Stich, das war einer jener Stiche, mit denen sie mich an sich heftete, in einem unguten Muster.
So verschwand sie und tauchte erst zehn Jahre später wieder auf. Das war im Operncafé. Sie war die Weihnachtsferien über zu Hause, lebte eigentlich in Rom, wo sie ihre Schauspielausbildung beendet hatte. Sie hatte die Hauptrolle in einem preisgekrönten Film gespielt, und in der Zeitung, Bergens Arbeiderblad, kam ein Interview mit ihr unter der Überschrift: Filmstar in Italien.
Ich hatte es gelesen, und jetzt betrat sie das Café, einen breitkrempigen schwarzen Hut auf dem Kopf. Roter Mantel mit schwarzem Kragen, schwarzer Minirock mit Fransen, schwarze Strumpfhosen und schwarze Stiefeletten. Weiße Bluse. Sie schüttelte sich den Schnee von Hut und Mantel, setzte sich allein auf ein Sofa und trank Martini mit dem Strohhalm. Erwartete sie jemanden? Nein, es kam niemand. Sie sah sich in dem Lokal um. Sie erkannte niemanden, auch mich nicht. Hatte sie sich verändert? Nein, sie war sich gleichgeblieben. Dieselbe Einsamkeit, obwohl sie wahrscheinlich daran gewöhnt war, allein zu sein.
Ich beobachtete sie eine Weile, bevor ich mich traute hinzugehen. Gratuliere zu der Filmrolle in Italien, sagte ich. Sie wirkte weder überrascht noch gestört, auch nicht geschmeichelt, sie hatte denselben desinteressierten, etwas müden Gesichtsausdruck, er war nicht aufgesetzt, so war sie einfach, so erinnerte ich mich an sie, unzugänglich und abwesend; es ließ sich nicht sagen, ob sie mich wiedererkannte oder nicht.
Zuletzt habe ich dich in einem Stück über Kafka gesehen, du spieltest Ottilie, seine Lieblingsschwester, und ich kann mich erinnern, wie du Tschechow gelesen hast, für die Aufnahmeprüfung in der Schauspielschule, sagte ich. Ich kann mich an dich erinnern, du warst ein arroganter, unsympathischer Junge. Ja, das war ich, sagte ich. Und du bist Schriftsteller geworden, sagte sie. Ich hab mir dein Buch im Skandinavischen Institut in Rom ausgeliehen, wahrscheinlich hatten sie es, weil es dort spielt, eine Liebesgeschichte in Rom, nicht besonders originell, sagte sie. Nein, wohl nicht, sagte ich. Setz dich, sagte sie. Ich wollte gehen, aber ich setzte mich zu ihr.
An dem Abend fuhr ich mit zu ihr nach Hause. Wir nahmen ein Taxi; wir saßen auf der Rückbank; als der Wagen vor dem Haus ihrer Eltern hielt, sprang sie hinaus, lief um den Wagen herum und öffnete meine Tür, küsste mich rasch auf die Wange und winkte; ich habe in Italien einen Freund, sagte sie.
Ein paar Tage später stand sie auf meiner Treppe und warf Steinchen an mein Küchenfenster. Ich wohnte allein am Danmarksplatz, war aus Kopenhagen zurückgekommen, um mit Eli zusammenzuwohnen. Das funktionierte nicht, und jetzt lebte ich in einer Wohnung, die zu der Fabrik gehörte, in der mein Vater arbeitete. Eine kleine Wohnung, die Fenster gingen zur Werft in der Solheimsvik hinaus; Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Küche, Bad. Ein guter Ort. Ich wohnte gern allein.
Sie trug den roten Mantel, darunter hatte sie eine Flasche Wein und zwei Lammkoteletts versteckt. Wollen wir zusammen zu Abend essen?, rief sie.
Sie blieb drei Tage in meiner Wohnung. Als sie ging, fühlte ich mich erleichtert, aber schon nach ein paar Stunden lief ich plötzlich hinaus und die Treppen zu dem Laden hoch, in dem es ein Münztelefon gab. Am nächsten Tag kam sie zurück, sie hatte ein paar Bücher und ihre Kosmetiksachen dabei, diesmal blieb sie zwei Wochen.
Mitte Januar flog sie zurück nach Rom. Sie wolle mit ihrem Freund Schluss machen, sagte sie. Dann sollte ich nachkommen und zu ihr in ihre Wohnung in der Via Natale del Grande ziehen.
Sofort als sie weg war, vermisste ich sie.
Ich wollte nicht hinterher. Ich verschob es immer wieder.
Sie schrieb mir, sie habe mit ihrem Freund Schluss gemacht. Ich betröge sie. Ich sei wie alle anderen Männer. Ich hätte versprochen zu kommen, und jetzt käme ich nicht.
Ich wanderte ruhelos durch meine Wohnung, durch Straßen und Kneipen, wartete darauf, dass es vorüberging, die Sehnsucht, sie würde irgendwann vorübergehen.
Es wurde Februar.
Die Kälte kam, der Frost, das Eis.
In der Wohnung war es schön, fand ich, Eisblumen an den Fensterscheiben. Ein bläuliches Licht in den Zimmern; ich saß am Schreibtisch und schrieb.
Ende des Monats kam wieder ein Brief. Aus ihm erfuhr ich, dass sie es nicht ertrug, verlassen zu werden. Sie war es, die verließ, sie machte Schluss, niemand sonst. Sie wurde nicht verlassen. So las ich den Brief. Jetzt war Schluss mit uns.
Eines Morgens flog ich nach Kopenhagen. Ich nahm den Flughafenbus zum Hauptbahnhof, ging die Istedgade hinunter, bog nach links in die Viktoriagade ab und läutete bei Nummer 18. Ich ging die Treppen in den vierten Stock hinauf, wie schon so oft, Knut erwartete mich in der Tür. Was gibt es denn um alles in der Welt, fragte er, willst du wieder einziehen?
Ich blieb bei Knut, schlief auf einer Matratze im Wohnzimmer. Abends saßen wir in der Küche und besprachen, was ich tun sollte. Immer, wenn ich in der Klemme saß, immer, wenn ich wichtige Entscheidungen zu treffen hatte, sprach ich mit Knut. Er war älter als ich, und klüger, ich war ganz und gar abhängig von ihm, von seiner Meinung, seinem Rat. Ich erklärte ihm die Lage; willst du oder willst du nicht?, fragte er. Ich will nicht, sagte ich. Warum nicht?, fragte er. Ich habe Angst, sagte ich. Wovor hast du denn Angst?, fragte er. Da mussten wir lachen. Wir konnten nicht wieder aufhören. Wir saßen in der Küche und lachten, bis uns die Tränen kamen; wovor hast du Angst?, wiederholte er. Es kam häufig vor, dass wir so lachten, jedesmal, wenn wir ein ernstes Thema berührten, das war so besonders mit Knut, dieses ernste Lachen; wovor hast du Angst?, fragte er immer wieder, ich konnte es kaum verstehen in seinem tränenerstickten Lachen.
Drei Tage darauf saß ich im Flugzeug nach Rom. Ich nahm ein Taxi in die Via Natale del Grande, fand die Tür zu ihrem Haus und stand lange davor, bis ich klingelte. Dann war ihre Stimme da, fremd und kalt, sie sprach italienisch. Ich bin es, sagte ich. Ich kenne dich nicht, sagte sie. Agnete, es tut mir leid, ich konnte nicht einfach so weg, es war nicht leicht. Ich hab so viel erledigen müssen, ein Manuskript abgeben und ... Tomas, mit uns ist Schluss, verstehst du nicht, was ich sage? Ich habe mit Paolo Schluss gemacht, du hast mir versprochen, sofort danach zu kommen, das ist zwei Monate her. Ich war zwei Monate lang allein. Sie weinte. Du weißt nicht, in was für eine Lage du mich gebracht hast, ich bin noch nie zwei Monate lang allein gewesen.
Es war lange still, bis auf das Knistern der Gegensprechanlage.
Wenn du nicht aufmachst, fliege ich zurück, dann fliege ich nach Hause, sagte ich. Natürlich, was sollst du sonst tun, flieg du nur, sagte sie und legte auf.
Ich nahm ein Zimmer in einer Pension in Trastevere, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Abends lag ich im Bett und las, tagsüber wanderte ich durch die Straßen des Viertels und wartete darauf, ihr zufällig über den Weg zu laufen, und irgendwann sah ich sie, sie ging rasch über den Campo de’ Fiori, schwarze Hose, schwarze Bluse, das schwarze, halblange Haar, sie sah wirklich gut aus. Aber es war zu früh, ich wollte noch warten. Ich war gern allein in Rom, ich genoss den Schmerz, er verlieh allem ringsum eine eigene Intensität, eine Deutlichkeit, ein Gewicht, ich brauchte das; die Stadt, die Straßen, die Gesichter, alles schrieb sich mir ein, mit einer eigenen Schärfe, die mir für mein Schreiben unentbehrlich war; ich lag in meinem Pensionsbett und schrieb, was ich sah und dachte, in meine Notizbücher. Ich hatte wieder angefangen zu schreiben.
Eines Tages verfolgte ich sie. Wir gingen durch Rom wie ein Paar, aber getrennt, ohne zu wissen, dass wir eines Tages unzertrennlich sein würden. Meine ganze Zukunft ging dort vor mir durch die römischen Straßen. Sie betrat eine Metzgerei, dann blieb sie bei einem Gemüsehändler stehen, kaufte Blumen auf dem Markt, ging mit ihren langen, raschen Schritten durch die Stadt; ich versuchte mir vorzustellen, ich würde dort neben ihr gehen, mit ihr beim Fleischer einkaufen, gemeinsam Gemüse aussuchen und Blumen, miteinander kochen, nebeneinander einschlafen und aufwachen; wollte ich das denn?
Jetzt ging sie die Via Natale del Grande hinunter, sah ins Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts, jemand rief nach ihr, es war der Friseur, er stand rauchend in seiner Tür, sie winkte ihm zu, ging über die Straße und stand vor ihrem Haus. Jetzt suchte sie den Schlüssel in ihrer Handtasche, wühlte darin, konnte ihn nicht finden, wirkte zunehmend verzweifelt bei dieser fruchtlosen Suche. Sie leerte die Tasche, nahm ein Adressbuch heraus, Papiere, einen Parfümflakon; die Tüten mit Gemüse und Fleischereieinkäufen standen um sie herum auf dem Bürgersteig, es war ein großes Durcheinander, sie stellte die Tasche auf den Kopf, ein Kugelschreiber, Feuerzeug, ein Päckchen Papiertaschentücher. Der Anblick der Taschentücher machte etwas mit mir, sie tat mir so leid, sie leerte ihre Besitztümer auf den Bürgersteig, da fiel der Schlüsselbund auf das Pflaster, mit einem bösen, metallischen Geräusch, sie bückte sich, hob es auf, fand den richtigen Schlüssel und wollte ihn eben ins Schloss stecken, da lief ich hin. Agnete, sagte ich.
Die Wohnung in der Via Natale del Grande; ich mochte sie sofort. Ein schmaler Flur mit drei Türen, eine große Küche mit einem kleinen Tisch am Fenster, das in einen Hinterhof ging, dort saß ich nachts, wenn sie schlief, und schrieb. Agnete teilte die Wohnung mit zwei Schauspielern, Fiamma und Marco, sie hatte das größte Zimmer, es war hell, schön, mit zwei großen Fenstern. Ein Doppelbett, ein runder Tisch mit vier Stühlen, ein Fernseher, Telefon, das war alles, was wir hatten, das war alles, was wir brauchten; wir lagen im Bett und sahen fern. Ich sollte, musste Italienisch lernen, und da war Fernsehen die beste, einfachste Methode, sagte sie. Vielleicht könnten wir zusammen ein Theaterstück übersetzen? Agnete wollte etwas von Pier Paolo Pasolini spielen, in Norwegen, oder etwas von Natalia Ginzburg, in Norwegen, sie träumte davon, italienisches Theater zu spielen, in Norwegen. Vielleicht brauchte sie mich ja dazu, sie wollte nach Hause. Sie bekam keine guten Jobs in Italien, nicht genug Jobs in Rom, sie wollte in Norwegen arbeiten. In ein paar Monaten, einem halben Jahr. Aber erst sollte ich Italienisch lernen. Schnell. Bereits nach ein paar Wochen saßen wir an dem runden Tisch in ihrem Zimmer und übersetzten Porcile von Pasolini. Wir hatten das Stück auf einer kleinen Bühne in Trastevere gesehen. Ich hatte kein Wort verstanden, aber es war eine eigene Poesie in dem Text, ein Rhythmus, eine Schönheit, die ich sofort erfasste. Ich wurde eine Zeit lang vollständig von Pasolini aufgesogen und sah fast alle seine Filme in einem kleinen, von Laura Betti geleiteten Institut. Sie hatte alle Filme, alle Bücher, alle Zeitungsartikel von Pasolini; ich ging jeden Tag hin, vormittags, und lernte Laura Betti ein wenig kennen, sie sagte: Der Mord an Pier Paolo war politisch begründet, und Moravia schrieb, er sei ein Unfall gewesen, Pier Paolo sei von einem homosexuellen Liebhaber getötet worden. Wir entzweiten uns wegen dieses Artikels. Moravia hatte Pier Paolo verraten, Moravia hatte Italien verraten, sagte sie. Eines Tages fuhren Agnete und ich mit dem Bus nach Ostia, wo Pasolini seine jungen Liebhaber gefunden hatte, ich wollte den Strand sehen, die Stelle, an der er umgebracht worden war. In einer Baracke am Strand lebte eine Wohngemeinschaft aus alten Radikalen und Anarchisten; wir saßen abends mit ihnen an einem Lagerfeuer, und ich fragte sie, was sie von Pasolini hielten. Pier Paolo hat uns verraten, sagte einer von ihnen, ich vergesse nicht, dass er während der Studentenunruhen von ’68, an denen ich teilnahm, im Corriere della Sera schrieb, er unterstütze den Kampf der Polizei gegen die Studenten, denn die Polizisten seien Söhne und Töchter von Bauern, die Studenten aber Söhne und Töchter von Bürgern. Ich fragte, ob Pasolini in eine Falle gegangen sei, hatten die Faschisten den Mord beauftragt und es so aussehen lassen, als sei er von einem Liebhaber getötet worden? Natürlich waren es die Faschisten, Pier Paolo hatte den schwarzen Gürtel in Karate, ein Siebzehnjähriger wäre gar nicht imstande gewesen, ihn allein umzubringen.
Agnete und ich übersetzten Porcile. Danach übersetzten wir L’Intervista von Natalia Ginzburg. Als wir damit fertig waren, rief Agnete bei Ginzburg an und fragte, ob wir sie besuchen dürften, sie erklärte, sie wolle L’Intervista in Norwegen inszenieren. Nach vielem Hin und Her willigte Ginzburg ein, und wir nahmen die Straßenbahn zu ihrer Wohnung. Sie lag im vierten Stock eines alten Mietshauses. Ein Dienstmädchen in schwarzer Uniform mit weißer Schürze machte uns auf, dies war g...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. DIE BIBLIOTHEK
  5. DIE ARBEIT, DIE FABRIK
  6. DIE LIEBESARBEIT
  7. ARBEITSRAUM, LABORATORIUM
  8. EIN KLEINES BUCH ÜBER DAS GLÜCK
  9. DIE NOTIZBÜCHER
  10. QUELLEN DER ZITATE
  11. Impressum