1 »MAKE THEM GO« – DER AUFTRAG
Eine neue Saison steht bevor, das Team einer Eishockeybundesligamannschaft ist optimal zusammengestellt, und Fans und Öffentlichkeit wünschen sich nach der verkorksten vergangenen Saison endlich wieder Siege und Erfolg. Vereinsführung und Management haben Geld in die Hand genommen, um optimale Ausgangsbedingungen zu schaffen. Nicht nur das Team selbst, auch das Funktionsteam wurde erweitert – unter anderem um einen Sportpsychologen.
Als Sportpsychologe hat man den Auftrag, die mentalen Prozesse der Spieler durch entsprechende Trainingsverfahren langfristig auszubilden und zu schulen und Trainer durch fachkundige Beratung dabei zu unterstützen, das Zusammenspiel der Athleten als Mannschaft zu optimieren. Neben individuellen Besprechungsterminen und Maßnahmen für Mannschaft oder Kleingruppen ist die Begleitung in Wettkampf und Training ein weiterer Bestandteil der Tätigkeit als Sportpsychologe eines Profiteams.
Das erste Training steht an. Wie sind die Spieler in Form? Wie gut wird das Zusammenspiel sein? Harmoniert die Mannschaft? Gemeinsam mit dem Manager und Teilen des Funktionsteams – Arzt, Physiotherapeut, Zeugwart etc. – beobachten wir das Geschehen. Plötzlich zeigt der Manager Richtung Eisfläche, schaut zu uns herüber und meint: »Make them go! Das ist euer Job. Die müssen dieses Jahr perfekt funktionieren!«, dreht sich um und verlässt die Eishalle.
»Make them go!« – das bringt die Anforderungen, die an Trainer im Spitzensport gestellt werden, knapp auf den Punkt: andere zur Höchstleistung bringen! Andere zur Höchstleistung bringen? Nein, es geht darum, Bedingungen zu schaffen, die anderen dabei helfen, sich zur Höchstleistung zu entwickeln und aus individuellen Sportlern ein effektives Team entstehen zu lassen.
Die Frage ist nur: Wie gelingt das? Wie bringt man eine Gruppe von Sportlern dazu, gemeinsam bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen? Und gibt es allgemeingültige Ansätze, sodass sich Erkenntnisse aus dem Spitzensport auf andere Bereiche übertragen lassen, in denen gleichfalls Höchstleistung im Team gefragt ist? Tatsächlich sind wir im Laufe unserer Zusammenarbeit mit hochklassigen Trainern von National- und Vereinsmannschaften oder Profiklubs unterschiedlicher Sportarten auf vergleichbare, sogar identische Kriterien hinsichtlich des erfolgreichen Führungsverhaltens gestoßen. Bei unserer Beobachtung konnten wir feststellen, dass es gar nicht so sehr darum geht, was ein Trainer mit Spielern oder Mannschaften im Einzelnen macht, sondern welche grundlegenden Einstellungen und Grundhaltungen er an den Tag legt. Sie machen den Unterschied, heben die erfolgreichen von den weniger erfolgreichen Trainern ab.
Die Erkenntnisse, die wir hier präsentieren wollen, sind weniger das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen und erheben auch keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Wir geben hier unsere persönlichen, aus der Erfahrung gewonnenen Einschätzungen wieder, indem wir – untermauert durch ein wissenschaftlich fundiertes theoretisches Gerüst – die aus unserer Sicht wichtigsten Grundhaltungen zeigen, die erfolgreiche Trainer kennzeichnen.
In diesem Buch geht es um Höchstleistungen. Eine grundlegende Voraussetzung für die im Spitzensport zu erbringende Höchstleistung ist die Entwicklung einer stabilen Kompetenzüberzeugung, das heißt einer Gewissheit, dass man auch hohen Anforderungen kompetent und leistungsfähig begegnen kann. Kontinuierliche Höchstleistung von Sportlern und Teams beginnt mit der Kompetenzüberzeugung ihrer Trainer. Wenn Trainer nicht von der eigenen Kompetenz, eine Mannschaft erfolgreich führen zu können, überzeugt sind, werden sie sich schwertun, eine Kompetenzüberzeugung bei ihren Sportlern zu entwickeln. Daraus ergibt sich, dass der Ausgangspunkt einer erfolgreichen Trainerarbeit immer die Trainer selbst sind. Alle langfristig erfolgreichen Coaches, mit denen wir zusammenarbeiten durften, haben verinnerlicht, dass konstruktives Arbeiten mit Höchstleistern nur gelingen kann, wenn sie, die Trainer, ihre eigenen Ressourcen und Kompetenzen entsprechend ausbilden und pflegen. Anders ausgedrückt: Selbstkompetenz, das heißt die Kompetenz, sich selbst anforderungsgerecht zu regulieren, ist eine Fertigkeit, die sich ein Trainer im ersten Schritt aneignen muss.
▶Story: Fußballtrainer
Der Ablauf der Halbzeitbesprechung war genau geplant. In den ersten fünf Minuten analysieren die Trainer der Profifußballmannschaft die gespielte erste Hälfte in der Trainerkabine. Anschließend wird besprochen, welche taktischen Informationen und Anweisungen der Mannschaft oder einzelnen Mannschaftsteilen gegeben werden sollen. Immer fünf Minuten vor dem Anpfiff zur nächsten Halbzeit betritt das Trainerteam die Mannschaftskabine, und es erfolgt zunächst die Mannschaftsansprache. Danach gibt es noch Informationen für einzelne Mannschaftsteile, sofern dies erforderlich ist. Doch diesmal läuft es anders. Ein entscheidendes Spiel. Pünktlich – fünf Minuten vor Wiederanpfiff der Halbzeit – versammelt sich das Trainerteam vor der Mannschaftskabine. Der Trainer nimmt die Türklinke in die Hand – hält inne –, lässt sie wieder los und sagt: »Ich bin noch nicht so weit …« Geht noch mal in Gedanken versunken eine Runde durch den Kabinengang. Er kommt nach einigen Sekunden zurück, sagt: »Let’s go!« und betritt die Kabine, um die Mannschaftsansprache zu halten. ◀
Der Trainer im Beispiel wusste, dass viel auf dem Spiel stand und dass er sich und seine »innere Landschaft« klären und Selbstkompetenz aufbauen musste, um seine Aufgabe in diesem Moment optimal zu lösen. Die Herausforderung besteht darin, in solch einer entscheidenden Situation möglichst jeden einzelnen Spieler zu erreichen. Um hier angemessen aufzutreten, ist die Kompetenzüberzeugung des Trainers gefragt. Alle Spieler schauen auf ihn – noch bevor er etwas sagt, wirkt er auf die Spieler: kompetent und souverän oder unsicher und zögerlich.
Um als Trainer erfolgreich zu sein, reicht es allerdings nicht nur aus, Gewissheit in die eigene Kompetenz zu entwickeln und auszustrahlen. Der Trainer muss sich zusätzlich intensiv mit den einzelnen Spielern beschäftigen, wenn er sie erreichen will.
Kontinuierlich erfolgreiche Trainer haben ein großes Interesse an ihren Sportlern und beschäftigen sich viel mit ihnen. Auf Vicente del Bosque, den unübertroffen erfolgreichen Trainer (unter anderem Weltmeister mit der spanischen Fußballnationalmannschaft), geht das Zitat zurück: »Am meisten Autorität habe ich doch, wenn ich mit den Spielern spreche und sie in meine Gedanken einbeziehe.«
Erst wenn Trainer eine Verbindung zu jedem einzelnen Spieler aufgebaut haben, wissen sie, mit welchen Maßnahmen sie auch deren Kompetenzüberzeugung entwickeln und stabilisieren können.
Neben der individuellen muss im Team auch eine kollektive Kompetenzüberzeugung entstehen: die Gewissheit, gemeinsam erfolgreich agieren zu können. Dafür müssen mit geeigneten Maßnahmen die einzelnen, von sich selbst überzeugten Höchstleister zu einer Einheit geformt werden. Um eine kontinuierliche Höchstleistung des Teams zu ermöglichen, ist weniger die starke Hand oder eine geschliffene Rhetorik gefragt als vielmehr eine behutsame und werteorientierte Steuerung der Teamprozesse im Hintergrund, die letztlich zu einem Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten führen soll. Darauf wies Joachim Löw, Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, in einem Interview hin: »Ein respektvolles, vertrauensvolles Miteinander in unserem Team ist mir sehr wichtig, Verlässlichkeit und Vertrauen sind in diesem Zusammenhang wesentliche Faktoren. Offene Kommunikation auf Augenhöhe, Kritikfähigkeit, Transparenz und Toleranz, das haben wir vorgelebt, aber es dauert eine Weile, bis so etwas von allen, den Spielern und auch den Betreuern, verinnerlicht wird. Bis alle einander vertrauen.«
Wir werden im Folgenden Schritt für Schritt die wichtigsten Führungsmerkmale aufzeigen, die zur Entwicklung einer kontinuierlich hohen Teamleistung beitragen. Beginnen wollen wir das Projekt »Make them go!« zunächst mit den Spezifikationen und Besonderheiten von Spitzenteams im Hochleistungssport. Aus unserer Sicht sind dies wichtige Merkmale, aus denen sich die nächsten Schritte ableiten.
2 GRUPPE? TEAM!
Einer der erfolgreichsten Trainer Deutschlands, der ehemalige Hockeybundestrainer Markus Weise, hat für den Spitzensport einmal drei Kategorien von Mannschaften unterschieden: den Haufen, die Gruppe und das Team. Mit einem Haufen, so Weise, lasse sich kein Titel gewinnen, und an einer Gruppe müsse noch viel gearbeitet werden, damit sie irgendwann einmal einen gewinnen könne.
»Mich reizt es«, erklärte er dazu in einem Interview, »Gruppen zusammenzustellen, die gut funktionieren. Sie müssen nicht immer harmonieren, aber an den entscheidenden Tagen alles aus sich herausholen. Mich interessiert Gruppendynamik: Wie schafft man es, Individuen oder auch manchmal Egomanen zu Teams zusammenzustellen? Teams, denen es gelingt, über sich hinauszuwachsen und an absolute Grenzen zu gehen. Der Erfolg ist nur das Abfallprodukt dieser Leistung. Das ist es nicht, was mich anspornt. Ich will den Erfolg schon haben, aber letztlich will ich die Leistung aus meinen Jungs herauskitzeln.«
Eine bemerkenswerte Aussage aus dem Mund eines an den Erfolg gewöhnten Spitzentrainers – nicht in erster Linie am punktuellen Erfolg seiner Spieler interessiert zu sein, sondern daran, aus ihnen die maximale Leistung »herauszukitzeln«. Nehmen wir dieses »Herauskitzeln« als dezente Umschreibung für »Make them go!«, sind wir wieder beim Auftrag an den Trainer: eine Mannschaft so zu formen, dass sie konsequen...