1
Einleitung
Die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) ging im Jahre 1946 – zunächst in der britischen Zone – aus dem Zusammenschluß der Deutschen Chemischen Gesellschaft (DChG) und des Vereins Deutscher Chemiker (VDCh)1) hervor.2) Damit reagierten die Chemikervereine auf das Verbot der nationalsozialistischen Organisationen und der ihnen angegliederten Vereine durch die alliierten Siegermächte vom 10. Oktober 1945.3) Während die technisch-wissenschaftlichen Vereine im Osten in Liquidation gingen, erlangten sie in den westlichen Besatzungszonen nach und nach den Status von „non political bodies“. Dadurch war es ihnen wie im Fall der Deutschen Bunsen-Gesellschaft im Jahre 1947 möglich, ihre Aktivitäten nach einer Satzungsänderung wieder aufzunehmen.4) Die junge GDCh verschrieb sich dem Ziel, an die guten Traditionen ihrer Vorläufer anzuknüpfen. Der Zusammenschluß ihrer Länderorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte 1949 in München.5)
Die berufsständischen Organisationen und wissenschaftlichen Gesellschaften in der DDR distanzierten sich wegen der Rolle der technisch-wissenschaftlichen Vereine im NS-Regime sehr früh von ihren Vorläufern, auch wenn – wie im Westen – häufig schon im „Dritten Reich“ aktive Persönlichkeiten die Geschäfte fortführten.6) Im Kontext des Ost-West-Konfliktes diente die Auseinandersetzung mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ als politisches Instrument, mit dem die DDR den Nachweis der bruchlosen Kontinuität im Westen zu führen suchte. Schon 1947 erschien die erste kritische Studie über die technischwissenschaftlichen Vereine mit eben dieser Stoßrichtung.7) Im Westen kam es mit der Festschrift des Chemiehistorikers Walter Ruske8) erst im Zuge des 100. Gründungsjubiläums der DChG im Jahre 1967 zur ersten fundierten Auseinandersetzung der Chemiker mit der Zeit des Nationalsozialismus9) – allerdings noch unter maßgeblicher Beteiligung von Schlüsselfiguren der NS-Zeit wie dem ehemaligen Präsidenten der DChG, Richard Kuhn (1900–1967),10) oder dem ehemaligen Vorsitzenden des VDCh, Heiner Ramstetter (1896–1986).11)
Während die NS-Geschichte der chemischen Industrie von vielen Autoren thematisiert wurde,12) blieb die Untersuchung der berufsständischen Organisationen der Chemiker ein Desiderat. Das 100. Gründungsjubiläum 1994 bildete den Anlaß für die Bunsen-Gesellschaft, ihre Geschichte aufzuarbeiten.13) Bereits die Initiativen der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gegen Ende der 1990er Jahre ließen das Defizit deutlich werden, daß die Geschichte der Vorläufer der GDCh nicht bearbeitet war. Die Öffnung von Archiven in den neuen Bundesländern und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Ablauf von Sperrfristen in deutschen Archiven, vor allem aber die gewachsene Bereitschaft der in den Institutionen Verantwortlichen haben zu weiteren Initiativen zur Erforschung der NS-Geschichte geführt.14) Häufig genug mußten tradierte Vorstellungen über das Ausmaß der Verstrickung der eigenen Institution in den NS-Herrschaftsapparat revidiert werden. Die Ergebnisse der neueren Forschung – vor allem die grundlegende Studie von Ute Deichmann15) – eröffnen die Möglichkeit, das Verhalten der Verantwortlichen nunmehr historisch fundiert beurteilen zu können.
Gegenstand der vorliegenden Studie sind die Vorläuferorganisationen der GDCh, also die Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein Deutscher Chemiker. Mit ihrem Forschungsvorhaben zur NS-Geschichte hat sich die GDCh in eine Reihe mit den oben genannten Institutionen gestellt. Dem Historiker obliegt die nach den geschichtswissenschaftlichen Methoden gebotene kontextualisierte Analyse der verfügbaren Quellen, weshalb die Ergebnisse der vorgelegten Studie – wie die jeder Forschungsarbeit – vorläufig sind. Gerade im Fall der NS-Forschung steht die Frage der Mitverantwortung der Institutionen und ihrer führenden Persönlichkeiten im Zentrum der Bewertung.16) Die hierzu notwendige Interpretation der Befunde bildet den zweiten maßgeblichen Bereich historischer Forschung, die zwar als methodisch rückgebunden verstanden werden muß, gleichwohl immer den Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen bilden wird. Die vorliegende Studie bezieht sich hierbei auf die aktuellen und historisch einschlägigen Studien.17)
1.1 Gründerzeiten der Chemie (1850–1900)
„Der Zeitpunkt für die Bildung einer chemischen Gesellschaft in Berlin sei ein besonders günstiger. Zu keiner Periode seien Theorie und Praxis in ähnlicher Weise Hand in Hand gegangen, und wenn es früher vorzugsweise die Industrie gewesen sei, welche aus der Entfaltung der Wissenschaft Vortheile gezogen habe, so liefere jetzt der wunderbare Aufschwung der Industrie nicht selten der Wissenschaft die Mittel für ihren weiteren Ausbau.“18)
Die Vorläuferorganisationen der GDCh wurden im 19. Jahrhundert gegründet. Sie repräsentierten die Entfaltung und gesellschaftliche Aufwertung der exakten Naturwissenschaften nicht nur im Gefolge der Humboldtschen Bildungsreform und der anschließenden Herausbildung eines Wissenschaftssystems. In ihnen versammelte sich eine neue bildungsbürgerliche Elite, die ihren Status einer akademischen Bildung verdankte. Einen zweiten mächtigen Schub erfuhren die Vereine durch die ab den 1850er Jahren in Deutschland einsetzende Industrialisierung und die damit einhergehende Herausbildung neuer Branchen und Berufsbilder. Anders als noch während der Frühindustrialisierung avancierten technisch-wissenschaftliche Experten angesichts der Komplexität der Produktionsverfahren nun zu Garanten der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit. Bei der Herstellung von Alkalien, Mineralsäuren und Bleichmitteln war England durch die Textilindustrie, dem Leitsektor der Industriellen Revolution, zunächst führend. Ab den 1840er Jahren wurden in Deutschland zahlreiche Fabriken für Schwerchemikalien gegründet, und ab 1845 wurde der Deutsche Zollverein zum Nettoexporteur z. B. von Schwefelsäure.19)
Mit den Erfolgen der Teerchemie ab den 1840er Jahren, der es gelang, Farbstoffe zu synthetisieren, begann der Aufstieg der organischen Chemie. Die Farbenindustrie substituierte die kostspieligen Pflanzenfarbstoffe durch die Veredelung des Steinkohlenteers – eigentlich lästiges Abfallprodukt der Gas- und Koksgewinnung. Auf der legendären Londoner Weltausstellung von 1862 machten die neuen Anilinfarbstoffe Furore.20) Schlüsselfigur dieser Entwicklung war der zu dieser Zeit in England wirkende deutsche Chemiker August Wilhelm Hofmann,21) der dadurch als Mitbegründer der englischen Teerfarbenindustrie gilt. Hofmann, Professor am Royal College of Chemistry in London, kehrte 1865 nach Deutschland zurück und wurde Professor an der Universität Berlin. Dort und in Bonn sorgte er durch die Gründung neuer Laboratorien für den Ausbau der chemischen Forschung.
Ebenso wie in der Industrialisierung hinkte Deutschland bei den wissenschaftlichen Gesellschaften hinterher (Tab. 1.1). So waren 1841 die Chemical Society of London – ab 1862 mit A. W. Hofmann als Präsidenten – und 1857 die Société Chimique de Paris gegründet worden.22) Die Chemiker aus den deutschen Ländern hatten sich ab 1822 in der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) versammelt, die sich angesichts der beschleunigten Ausdifferenzierung der Disziplinen einer „zentrifugalen Tendenz“ ausgesetzt sah. Gleichwohl bildeten die Sektionen der Naturforschergesellschaft wie im Fall der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zu Berlin 1845 die Keimzellen der Gründung zahlreicher weiterer wissenschaftlicher Vereinigungen.23)
Tabelle 1.1 Gründungsdaten und Umbenennungen technisch-wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften im 19. Jahrhundert
1822 | Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte |
1841 | Chemical Society of London |
1845 | Deutsche Physikalische Gesellschaft zu Berlin |
1856 | Verein Deutscher Ingenieure |
1857 | Société Chimique de Paris |
1867 | Deutsche Chemische Gesellschaft |
1877 | Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie (VzW)a) Verein analytischer Chemiker |
1883 | Freie Vereinigung bayerischer Vertreter der angewandten Chemie |
1887 | Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie (vormals Verein analytischer Chemiker) |
1894 | Deutsche Elektrochemische Gesellschaft (ab 1902 Deutsche Bunsen-Gesellschaft für angewandte physikalische Chemie) |
1896 | Verein deutscher Chemiker (vormals Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie) |
| Verband selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands |
| Deutsche Sektion der internationalen Vereinigung der Lederindustrie-Chemikerb) |
1897 | Verband der Laboratoriumsvorstände an Deutschen Hochschulen |