1 Verfall der Gesprächskultur
Warum der Ton im Geschäftsleben rauer geworden ist
Der Mann ist unter Druck. Er steht vor Gericht und soll Auskunft über seine Finanzverhältnisse geben. Diese erteilt er freimütig. Roland Berger verlange von ihm 7,5 Millionen Euro, sein früherer Vermögensverwalter Josef Esch 2,5 Millionen Euro, der Insolvenzverwalter 3,4 Millionen Euro und die Bank Salomon und Oppenheim rund 70 Millionen Euro. Er selbst behauptet, Forderungen gegen andere in Höhe von 200 Millionen Euro zu haben. Eine solche unwägbare Finanzsituation würde Normalsterblichen den Schweiß ins Gesicht treiben. Nicht so „Big T“, wie Thomas Middelhoff einst von seinen Bewunderern genannt wurde.
Als sei diese Situation nicht schon Adrenalin fördernd genug, setzt er noch eins drauf. Genüsslich schildert er vor Gericht, wie er den Paparazzi entkommen sei, als der Gerichtsvollzieher an seiner Tür klingelte. Er habe sich wie „eine Katze übers Dach“ geschlichen und sei so den Fotografen, die ihn „abschießen wollten wie Freiwild“ entkommen. Nachdem eine zur Verfügung stehende Leiter zu kurz gewesen sei, sei er einfach aus dem Fenster gesprungen und durch den Hinterhof entkommen. Als er wieder festen Boden unter den Füßen gehabt habe, sei er „fröhlich pfeifend“ in eine Nebenstraße gegangen und habe dort ein Taxi gerufen. Später sei er nach London geflogen.
Der Mann hat Nerven, diesen Eindruck hinterlässt „Big T“ bei Beobachtern. Andere gehen in ihrem Urteil über Thomas Middelhoff noch weiter. Middelhoff genieße offenbar den Ritt auf dem Vulkan.
Selbst als die Strafe, drei Jahre Haft ohne Bewährung, am Ende des Prozesses verhängt wird, ist sich Thomas Middelhoff keiner Schuld bewusst. Journalisten, die angereist sind, um über den Prozess zu berichten, bemerken das völlige Fehlen von Reue. So schreibt die Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeine Zeitung:
Mindestens genauso starke Nerven, wenn nicht sogar noch bessere, bewies Bernard L. Madoff. Mehr als 30 Jahre hielt er in New York ein Finanz-Schneeballsystem am Laufen, das mindestens 60 Milliarden Dollar umfasste. Dieses Schneeballsystem fiel wie Pulverschnee in sich zusammen, als der Finanzcrash 2008 den dauernden Zufluss von frischem Geld unterbrach und er die Renditen an seine Kunden nicht mehr zahlen konnte. Als Madoff vom FBI abgeführt wurde und sofort gestand, brach für seine Anleger eine Welt zusammen. Madoff galt an der Wall Street als Institution, viele hatten geglaubt, dass er den Markt einfach besser durchschaut habe als sie selbst und daher im Stande gewesen sei, Renditen von bis zu zwölf Prozent zu zahlen.
Was Madoff von anderen Betrügern unterscheidet, ist die Unverfrorenheit, mit der er vorging. Während sein betrügerisches Schneeballsystem bereits im Gang war, forderte er härtere Kontrollen für die Akteure an der Wall Street. Doch damit nicht genug. Er setzte sich an die Spitze eines Gremiums, die NASD, welches die NASDAQ, die größte elektronische Börse in den USA, regulierte. Dieser Posten verhalf ihm zu enormer Reputation, ebenso sein großes finanzielles Engagement bei Wohltätigkeitsorganisationen, gemeinsam mit seiner Frau Ruth.Dieses Image des um Seriosität bemühten Finanzgenies, den gesellschaftliche Nöte nicht kalt ließen, machte ihn nahezu unangreifbar.
Gift fürs Unternehmen
Es gibt Menschen, die diese Typen mit Nerven aus Stahl bewundern. Andere nennen so ein Verhalten psychopathisch. Ich schließe mich denen an, die ein solches Gebaren im Business nicht nur als geschäftsschädigend, sondern auch als psychopathisches Verhalten einordnen. Den wirtschaftlichen Schaden, den solche Menschen verursachen, schätzt der Kriminalpsychologe Robert D. Hare in den USA auf einen mehrstelligen Millionenbetrag. In Deutschland fängt man gerade erst an, darüber nachzudenken, welchen Schaden solche Menschen in der Geschäftswelt anrichten. Diese Naivität gegenüber dem Phänomen halte ich für äußerst gefährlich. Hare ist sich sicher, dass selbst führende Wirtschaftsberatungsunternehmen bei der Analyse der Ursachen, warum in einem Unternehmen etwas schiefgelaufen ist, noch immer zu sehr auf die Strukturen des Unternehmens schauen. Stattdessen sollten sie in Betracht ziehen, dass möglicherweise Personen mit toxischen Eigenschaften dem Unternehmen mehr Schaden zugefügt haben könnten als ineffiziente Strukturen. Dabei steuern Menschen mit dieser Veranlagung sehr gerne Wirtschaftsunternehmen an. Sie fühlen sich von dem herrschenden Wettkampf in Wirtschaftsunternehmen geradezu angezogen. Ihr unübersehbares Dominanzgebaren stört dort nicht. Im Gegenteil. Ellbogen sind in der Wirtschaft gefragt.
Dass solche Menschen Nerven aus Stahl haben, wissen wir bereits. Doch welches Verhalten zeigen sie sonst noch? Was macht sie, bis sie vor dem Strafrichter sitzen, so erfolgreich? Experten nennen folgende Eigenschaften, mit denen Menschen mit psychopathischem Verhalten ihre Umwelt faszinieren, aber auch terrorisieren:
Emotionsloses Agieren in Stresssituationen, unempfindlich gegenüber Angstgefühlen, präzises Erkennen von Schwächen anderer bei gleichzeitig mangelnder oder nicht vorhandener Empathie für ihre Mitmenschen, massives manipulatives Verhalten, übersteigertes Selbstwertgefühl, Narzissmus, notorisches Lügen, die Liebe zum Risiko und die Gier nach immer größeren Stimulanzien, schauspielerische Fähigkeiten, eine große Portion Charme und eine oft hohe Intelligenz.
Wer auf die Spur der Verwüstung schaut, die diese Menschen hinterlassen, wird mir Recht geben, dass nicht nur Menschen, die im klinischen Sinne das Vollbild eines Psychopathen aufweisen, gefährlich sind für ihre Mitmenschen, sondern auch die, die einige wesentliche Züge mit ihnen teilen, etwa die Narzissten.
Narzissten zeichnen sich durch eine extreme Ich-Bezogenheit aus. Sie sind schnell gekränkt, wenn ihr Selbstbild durch Kritik – auch wenn es sich um sachliche Kritik handelt – erschüttert wird. Das trifft auf Menschen mit psychopathischem Talent nicht zu; sie sind durch Kritik nicht zu erschüttern. Letztere sind gefühlskalt, Scham kennen sie nicht. Bei Narzissten hingegen spielen Schamgefühle eine große Rolle, weil ihnen ihre Wirkung auf andere außerordentlich wichtig ist. Anders als Menschen mit psychopathischen Verhaltensweisen, können Narzissten jedoch Gefühle entwickeln und durchaus Bindungen zu ihren Mitmenschen aufbauen, zumindest wenn diese ihr Ego stärken. Menschen, die ein psychopathisches Verhalten zeigen, sind dazu nicht in der Lage. Die Bindung an andere Menschen ist bei ihnen immer oberflächlich, auch wenn sie Gefühle wie Freundschaft und Liebe hervorragend vorgaukeln können.
Leider sind Menschen vom Schlage eines Madoff keine Einzelfälle, wenn auch die finanzielle Dimension nicht immer die Milliarden-Marke überschreitet. Dennoch sind die Schäden, die solche Menschen anrichten, immer verheerend – finanziell, menschlich und nicht zuletzt auch gesundheitlich.
Neueste Untersuchungen gehen davon aus, dass Menschen mit psychopathischer oder narzisstischer Persönlichkeit drei- bis viermal so häufig in Chefsesseln sitzen als Menschen mit normaler Persönlichkeitsstruktur. Experten schätzen, dass etwa vier Prozent der Bevölkerung Narzissten sind und etwa ein bis zwei Prozent Psychopathen. Deren Anteil an Führungspositionen beträgt etwa sechs Prozent. Die Wissenschaftler vermuten daher, dass jede zehnte Führungskraft psychopathische Tendenzen hat. Die genannten Zahlen sind nur sehr vorsichtige Schätzungen, vermutlich ist der Anteil an der Gesamtpopulation deutlich höher und wächst stetig, denn psychopathisch veranlagte Personen pflegen erfahrungsgemäß viele sexuelle Beziehungen und zeugen eine große Anzahl von Kindern.
Da die Forschung heute davon ausgeht, dass Vererbung bei einer psychopathischen Veranlagung eine wichtige, wenn auch nicht die alleinige Rolle spielt, lässt sich sagen: Wir haben ein Problem.
Kein Wunder also, dass Betroffene, die unter solchen Führungspersonen leiden, die es früher nicht in die Chefetagen geschafft hätten, sich in den einschlägigen Blogs im Internet austauschen. Wer sich diese Foren anschaut, gewinnt den Eindruck, dass das, was einmal die Ausnahme war, nämlich andere eiskalt über den Tisch zu ziehen, fast schon die Regel geworden ist. Als Coach, aber auch in meinen Seminaren, mache ich die gleichen Erfahrungen: Menschen, die unter Vorgesetzten und Kollegen leiden, die ein solches Verhalten zeigen, suchen nach Möglichkeiten, diese schädigenden Verhaltensmuster rechtzeitig zu identifizieren und Gegenstrategien zu entwickeln. Vielleicht haben auch Sie zu ...