Zusammenhänge
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Zusammenhänge

Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen

Wolf Lotter

  1. 296 páginas
  2. German
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Zusammenhänge

Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen

Wolf Lotter

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In einer immer komplexer werdenden Welt reden wir zwar viel über die Wissensgesellschaft, aber was mit den Netzwerken der Technik, der Ökonomie, der Kultur oder einer zeitgemäßen Bildung wirklich gemeint ist, durchschaut keiner so richtig. Es fehlt uns nicht nur an Durchblick, wir trauen ihn uns auch kaum noch zu.Wolf Lotter ermutigt zu einem neuen Selbstbewusstsein und konsequentem Umdenken. Wir müssen uns vom blinden Glauben an Positionen verabschieden und stattdessen in eigenes Wissen investieren. Wir müssen lernen, Komplexität zu erschließen und Zusammenhänge herzustellen. Was so entsteht, sind keine intellektuellen Konstruktionen, sondern Bausteine sozialer Gemeinschaft.

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Información

Año
2020
ISBN
9783896845740
Edición
1
Categoría
Commerce
II. Das Gewebe der Welt
Die Kultur der Zusammenhänge
»Wir brauchen weniger Eile und mehr Sorgfalt, sowohl beim Denken als auch beim Fühlen.«
WILLIAM DAVIES: »NERVOUS STATES«, 2018
Wofür Zusammenhänge gut sind
Die Wissensgesellschaft ist eine Lerngesellschaft. Lernen bedeutet hier keineswegs, einen Kanon einfach aufzunehmen, sondern das vorhandene Wissen in immer neuen Kombinationen selbst weiterzuentwickeln. Bildung heißt nicht Auswendiglernen, sondern selbstständiges Verstehen. Und Selbstbestimmung kommt ohne Bildung nicht aus. Wer ein eigenes Leben will und keines, das ihm bloß von anderen gewährt wird, der wird verstehen wollen, in welcher Welt er lebt, unter welchen Umständen und unter welchen Bedingungen. Die Voraussetzung für dieses eigene, selbstbestimmte Leben ist die Kontextkompetenz.
Das Erschließen von Zusammenhängen ist eine grundlegende menschliche Fähigkeit. Man kann sogar die gesamte Kulturgeschichte als den Versuch verstehen, sich eine Welt zu erdenken, die man verstehen kann. Diese Wirklichkeit wird aus Chaos und Wirrwarr, aus dem biblischen Tohuwabohu, wie die Welt vor der Schöpfung im Alten Testament genannt wird, konstruiert.
Denken sortiert die Welt.
Im Grunde stecken wir alle, ganz gleich, auf welche Weise wir Zusammenhänge erschließen, in jenem grauen Kittel, in dem man einst als guter Kaufmann seine Inventur machte, zählte und protokollierte, was an Waren vorhanden oder zu besorgen war. Wir zählen Realitäten, Eindrücke, Erfahrungen, wir sind gierig nach Zusammenhängen, weil wir wissen wollen, was sich aus dieser Welt machen lässt.
Context is King
Menschen, die Zusammenhänge erkennen, werden als kreativ und intelligent bezeichnet. Für klug halten wir stets jene, die die Welt nicht nur so nehmen, wie sie ist, sondern etwas aus ihr machen – weil sie in der Lage sind, noch nicht erkannte Verbindungen zu sehen und möglicherweise auch anzuwenden.
Das haben Forscher, Unternehmer, Erfinder, Künstler und andere Wissensarbeiter gemeinsam: Sie sind in der Lage, sich zu der vorhandenen Welt eine neue vorzustellen, indem sie Neues und Unbekanntes in ihre Welten integrieren und neue Varianten und Kombinationen erdenken können.
Je komplexer die Welt wird, je mehr Wissen in ihr kursiert, desto wichtiger wird es, dieses Wissen in Netzwerken miteinander zu verbinden, zu öffnen und damit neue Zusammenhänge – und Möglichkeiten – zu schaffen. So was hat man früher in Bibliotheken gemacht, wo jedes Buch eine Tür zu einer anderen Wissenswelt öffnete und in der Welt des Lesers einen neuen Sinnzusammenhang erschloss. Universitäten pflegten einst weit mehr die Kunst des Diskurses und des gepflegten Streits, des Disputs. Heute lernt man möglichst viel möglichst schnell. Und das ist merkwürdig. Denn mehr vom Gleichen brauchen wir gerade nicht in der Wissensgesellschaft.
Weiß noch jemand, was die großen Fragen waren, als das Internet in unsere Welt kam, in den 1990er Jahren also? Alle sprachen darüber, jeder versuchte, »online« zu sein, die Frage war nur, was es bedeuten sollte, online zu sein. Die neue Technologie begeisterte zwar, ihre Mode steckte an und forderte zum Mitmachen auf, aber ihr Sinn erschloss sich nicht so einfach.
Das ist interessant, denn eigentlich hatte einer der wichtigsten Konstrukteure der neuen digitalen Welt, der britische Informatiker Timothy Berners-Lee, der zwischen 1989 und 1991 die Grundlagen für das WorldWideWeb (WWW) legte, einen ganz nüchternen, praktischen Zusammenhang im Sinn, als er sich an die Arbeit machte, die Welt zu verändern. Berners-Lee arbeitete am Genfer Kernforschungszentrum CERN. Ständig wurde er von Forschern gefragt, wo denn bitte schön genau diese Studie oder jene Statistik in der Datenbank des Instituts zu finden wäre. Im Grunde genommen hatte Berners-Lee, wie seine übrigen Fachkollegen auch, einen (nervigen) Bibliothekarsjob.
Um dem zu entgehen, griff er eine bereits bekannte Idee namens Hypertext auf, die der amerikanische Computerpionier Ted Nelson schon im Jahr 1965 formuliert hatte. Dahinter steckt der Gedanke, vorhandenes Wissen enzyklopädisch zu verbinden, also unterschiedliche Erkenntnisse und Wissensgebiete leichter zugänglich zu machen und zu »verlinken«. Ein Hypertext ist per Definition »ein Text, der Links zu anderen Texten enthält«.
Auch der Text dieses Essays versteht sich als Hypertext, denn er geht in jeder Zeile davon aus, dass die Leserinnen und Leser die darin gesammelten Anregungen als Sprungbrett für eigenes Denken und Weiterlesen nutzen.
Es sind jene Enzyklopädien neuen Typs, wie ihn der große Vordenker der Wissensgesellschaft, Vannevar Bush, erstmals im Jahr 1945 in seinem Aufsatz As We May Think unter dem Schlagwort Memex formulierte. Bush hat damit das englische »Memory Extender« abgekürzt, also einen »Gedächtnis-Erweiterer«, der aber nicht nur Bekanntes liefern sollte, sondern bei dem es gerade um den neuen Zusammenhang ging, den der Benutzer bilden konnte, wenn er sich dieses Vorläufers des Internets bediente.
Tatsächlich ist das der Job aller informatischen Netzwerke, ihr Daseinszweck: Sie sind Enzyklopädien, die bestehendes Wissen – das man erklären und verstehen kann – in unsere Köpfe bringen, wo sie neue Zusammenhänge entstehen lassen.
Netzwerke sind Kombinationsmaschinen, Zusammenhangs-Generatoren. Sie sind weit mehr als die banale Vorstellung, dass das eine mit dem anderen verbunden – »verknüpft« – ist. Sie dienen nicht nur dem Zugang zu bestehendem Wissen, das man (auch auswendig) lernen kann, vor allen Dingen schöpfen sie neues Wissen.
Sie erschließen neue Zusammenhänge, die oft aus vorhandenen Ideen, die neu betrachtet werden, entstehen.
Sie schaffen Assoziationsräume, was nichts weiter bedeutet, als dass man verschiedenes Denken miteinander verbindet und sich dabei weiterbewegt.
Es mag sein, dass Berners-Lee all das nicht interessierte, als er seine »Netzwerksprache« Hypertext Markup Language (HTML) schrieb und am CERN einführte. Ihm ging es vordergründig um ein besseres Informationsmanagement. Aber seine Sprache HTML wurde zur praktischen Umsetzung eines Grundprinzips der Wissensgesellschaft: Mache Wissen zugänglich, damit neues Wissen entstehen kann. Erkenne die Verbindungen zwischen deinem Denken und dem der anderen und schaffe neue Möglichkeiten daraus. Das ist erschlossene Komplexität. So denkt man in Netzwerken – oder sollte man denken. Leider benutzen wir diese Netzwerke mit einer alten Kultur im Kopf, die recht einfach ist, um nicht zu sagen: einfältig. Deshalb lassen wir uns durch die Fülle der Informationen und des Rohstoffs Wissen auch immer mehr irritieren. Mit anderen Worten: Unser geistiges, kulturelles Betriebssystem passt nicht zu unserem Netzwerk. Wir müssen mühsam unsere alten Codes verlernen, um Platz für neues Denken zu schaffen. Das ist der wichtigste Job der jungen Wissensgesellschaft: Altes verlernen, Neues entdecken und erkennen, was längst schon da ist. Eine schwere Aufgabe. Diese erste Phase des WWW weckte die Fantasie und die Hoffnungen darauf, dass nun ein Netzwerk aus Wissen und Informationen für mehr Klarheit und Durchblick für alle sorgen würde. Schon begeisterte man sich für einen »Information Superhighway«, auf dem die Zivilgesellschaft sich konstruktiv und nach Lösungen suchend austauschen würde. Bald würde es weder Herrschafts- noch Geheimwissen geben.
Solche idealistischen Modelle des »Freien Wissens« und dessen barrierefreien Zugangs waren der Kammerton des frühen WWW. Doch tatsächlich herrschte bald ein ziemliches Durcheinander. Das Internet wuchs chaotisch. Man wusste auch nicht so genau, wozu die Technologie führen sollte: »Irgendwas mit Internet« wurde zur stehenden Phrase. Man war Teil der neuen Zeit. Aber keiner konnte erklären, woraus die denn nun konkret bestünde.
Zaghaft machte nun die Parole von Content is king die Runde. Es war ein Zeichen für den menschlichen Ordnungstrieb, für seine angeborene Sehnsucht nach Verstehen und Erkennen von Zusammenhängen.
Content is king meinte keineswegs bloß, dass man verwertbare Inhalte ins neue Medium einbringen musste, um davon leben zu können. Der eigentliche Sinn des Satzes war Context is king. Zusammenhang regiert.
In einer komplexen Gesellschaft wird Kontext zur Grundlage des Handelns und Entscheidens. Er ist im Grunde das Wissen der Person, ihr Know-how, ihr Vermögen, sich in der Welt zurechtzufinden und ihre Möglichkeiten zu nutzen. Context is king. Wir schaffen Zusammenhänge, die immer kleinteiliger werden, individueller.
Dahinter steckt der Paradigmenwechsel, den die Wissensgesellschaft, die Digitalisierung und der Umbau der Organisationen in Netzwerke mit sich bringt.
Die eigentliche, bis heute kaum erkannte große Veränderung, die das Internet ausgelöst hat, ist die Frage, wie wir mit Komplexität und Persönlichkeit umgehen. Wo potenziell alles vorhandene Wissen jederzeit und überall zur Verfügung steht, braucht es eine ordnende Struktur. Es braucht einen Rahmen, also das, was das Wort Kontext eigentlich bedeutet. Allerdings muss man den Begriff der Ordnung heute, wo die Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft wird, auch neu denken. Er ist nicht mehr statisch und fest, nicht einheitlich, nicht allgemein verbindlich. Ordnung ist eine Richtlinie, nicht dauerhaft, sondern eben situativ.
In seinem lateinischen Ursprung steht das Wort contexere für »zusammenweben«. Ein Kontext ist also ein Webrahmen, auf dem ein Stück Stoff oder ein Teppich gewoben wird; und so entsteht aus einfachen Fäden ein bestimmtes Muster, eine bestimmte Bedeutung.
Das ist, wonach die modernen Menschen suchen, wenn sie nach Sinn fragen, nach Purpose. Etwas, mit dem sie sich in einen Zusammenhang zu ihrer Umwelt und ihren sozialen Beziehungen setzen können. Der Umgang mit Komplexität – und damit mit Zusammenhängen – ist eine Beziehungswissenschaft.
Woraus Netzwerke bestehen
Von außen betrachtet ist ein Netzwerk fast immer unüberschaubar, ein Labyrinth. Für jeden einzelnen Teilnehmer scheint dagegen jeder »Knoten« zunächst klar und deutlich. Die Menschen agieren nämlich in den Netzwerken in ihrem jeweils eigenen, von ihnen selbst geschaffenen Kontext. Es sind Zusammenhänge, die das Netzwerk bilden und ausmachen, temporäre Interessen, Projekte, Vorhaben.
Wer sich mit Netzwerken – als Modelle wie auch in technologischer Hinsicht – beschäftigt, weiß schnell um diesen Aspekt. Netzwerke sind, wie wir noch sehen werden, die logischen Organisationsformen der Wissensgesellschaft, die Komplexität nicht mehr reduzieren, sondern erschließen will. Deshalb reicht hier kein Regelwerk für den richtigen Umgang. Und mit der disziplinierten Pflichterfüllung nach Muster und Plan, wie er heute immer noch den Arbeits- und Lebensalltag bestimmt, kommen wir nicht weiter. Absolut notwendig ist es aber, die Entscheidungs- und Zusammenhangskompetenz zu stärken. Die Fähigkeit zum Durchblick.
Drei der mächtigsten Konzerne der Welt, Apple, Google und Amazon, zeigen, wie wesentlich diese Kontextkompetenz ist. Apples Erfolg basiert zweifellos auf der Kernfähigkeit des Unternehmens, komplexe Computertechnologie einfach und barrierefrei zur Verfügung zu stellen und die jeweils neueste Technologie dafür anzuwenden. Das war von jeher so beabsichtigt – die Gründer Steve Jobs und Steve Wozniak wollten die komplexe Technologie jedem zugänglich machen. Die Teilhabe an Datentechnik, bis dorthin nur Eliten und wenigen Nerds vorbehalten, wurde ein wichtiger Beschleuniger der Wissensgesellschaft und ermöglicht, jedenfalls potenziell, mehr Selbstbestimmung. Der Sinn der Phrase Context is king erschließt sich noch unmittelbarer beim amerikanischen Informatikkonzern Google alias Alfabet. Die Eingabezeile der meistgenutzten Suchmaschine der Welt ist der Beweis dafür, dass die Erschließung von Komplexität längst zu einer alltäglichen Tätigkeit geworden ist. Drei Milliarden Anfragen pro Tag wickelt die Google Search Engine ab. Googles Geschäft ist das Erschließen von Kontext, genauer: die Unterstützung der Benutzer, selbst Zusammenhänge herzustellen, also vorhandene Informationen und Wissen zu neuen Erkenntnissen werden zu lassen, so beiläufig und kurzfristig sie auch wirken mögen. Im Grunde genommen ist Google ein gewaltiger, global agierender Webrahmen, in dem jeder Einzelne der Milliarden täglichen Nutzer seinen Kontext herstellt.
Und auch der Onlinehändler Amazon erschließt Komplexität und Zusammenhänge. Kein noch so großes Warenhaus der Welt könnte die Menge an Waren aufnehmen, die Amazon anbietet, keine Shopping Mall gleich welchen möglichen Ausmaßes die Vielzahl an Anbietern sammeln, die auf Amazon per Knopfdruck erreicht werden können. Größtmögliche Vielfalt mit geringstmöglichem Aufwand zugänglich zu machen, ist das Geschäftsmodell von Amazon-Gründer Jeff Bezos.
Auch im nicht kommerziellen Bereich ist die Komplexitätserschließung zum Marktführer geworden, wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia zeigt. Sie überragt längst ihre auf Papier gedruckten Vorgänger. Der Gründer der Wikipedia, der Finanzmakler Jimmy Wales, folgte dabei der Idee eines seiner erklärten Vorbilder, des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich von Hayek, der in der Zugänglichkeit von Wissen die wichtigste Grundlage einer selbstständigen und freien Gesellschaft und Ökonomie erkannt hatte. Wer die Monopole der vorgenannten Beispiele beseitigen will, und das wäre in jedem einzelnen Fall richtig, muss wissen, warum die Strategie der Kontextualisierung in einer Netzwerkökonomie so wichtig ist. Konzentrationen haben Ursachen. Deshalb müssen Unternehmen und Organisationen, die die Vielfalt zu Recht einfordern, die Zusammenhänge für ihre Nutzer und Kunden ebenfalls erschließen. Es gilt einmal mehr: Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen.
Die Qual der Wahl
Neues Wissen verändert unser Bewusstsein, indem es dieses Bewusstsein erweitert.
Wir sind in der Lage, Altes zu vergessen, wenn wir Neues lernen, aber nie vollständig. Es ist so ähnlich wie auf einer sehr großen Festplatte, auf der schon viel aufgezeichnet wurde, die aber immer wieder mit neuen Informationen ergänzt wird. Selbst dort, wo vorhandene Sektoren überschrieben werden, ist das, was wir einmal gelernt haben, immer noch als Fragment vorhanden. Nichts geht verloren, aber es ist gut verdeckt.
Wir lernen und entwickeln uns unaufhörlich – allerdings mit höchst unterschiedlichem Tempo.
In Krisenzeiten, wenn Krieg, Revolutionen oder große Seuchen die Menschheit heimsuchen, ist das Ausmaß der Transformation rasant, und die Bewusstseinserweiterungen vollziehen sich rapide. Wohlstand und Frieden ermöglichen grundsätzlich langsameres, »besonneneres« Handeln, bei dem überdies Handlungsalternativen ins Spiel kommen. Wohlständige Zeiten erzeugen mehr Varianten, die uns allerdings auch mehr herausfordern. Die Qual der Wahl ist ein ziemlich gutes Zeichen für eine Welt, in der der materielle Wohlstand und Frieden normal geworden sind. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte waren wir arm und unter Überlebensdruck, wir hatten keine Wahl und mussten deshalb nur wenig entscheiden. Dass wir heute unter der Vielfalt und Komplexität leiden, ist schlicht das Ergebnis der schlechten alten Zeiten, denn wir müssen erst lernen, mit Vielheit – in materieller wie auch geistiger Hinsicht – umzugehen.
Schlechte Zeiten gebären das Entweder-oder, das Schwarz-Weiß-Denken, Systeme ohne Handlungsalternativen. Gute Zeiten sorgen für viel Irritation und Desorientierung. Unser Unbehagen mit den Zuständen ist also kein schlechtes, sondern ein höchst gutes Zeichen. Allerdings braucht es ein Verständnis für Mehrdeutigkeit, für ein Sowohl-als-auch und – denn nur dann macht das Sinn – die Fähigkeit, innerhalb dieser Wahlmöglichkeiten klare, persönliche Entscheidungen zu treffen.
Nicht die Vielfalt strengt uns an, sondern dass wir nicht gelernt haben, mit ihr umzugehen.
Unsere Entscheidungsfähigkeit ist schließlich die Bewusstseinserweiterung, die die Wissensgesellschaft am dringendsten braucht. Auch darin ist sie der Demokratie gleich, in der im Ringen um Wahrheit und gute Entscheidung stets aufs Neue der Umgang mit Vielheit und Vielfalt der Meinungen und Positionen geübt werden muss. Unser Bildungsdefizit nährt den Populismus und die Gewalt. Unbildung ist gefährlich.
Die Pforten der Wahrnehmung
Der englische Autor Aldous Huxley hat in seinem Essay »Die Pforten der Wahrnehmung« (The Doors of Perception) ein schönes Gedankenexperiment angeregt. Huxley glaubte, dass unser Gehirn und unser Bewusstsein nicht etwa Instrumente zur Erweiterung unseres Wissens wären, sondern – im Gegenteil – wie ein Zensor agieren würden, der uns vor der Fülle der Eindrücke unserer Umwelt abschirmt.
Das Universum habe keine Geheimnisse, meinte Huxley, alles läge vor unseren Augen. Damit wir aber nicht verrückt w...

Índice

  1. Cover
  2. Titelei
  3. Motto
  4. I. Die Kontextkompetenz – Was uns mit der Welt verbindet
  5. II. Das Gewebe der Welt – Die Kultur der Zusammenhänge
  6. III. Der technologische Kontext – Warum man die Büchse der Pandora öffnen muss
  7. IV. Der ökonomische Kontext – Vom Haustyrannen zur Selbstbestimmung
  8. V. Der organisatorische Kontext – Von der Kunst, die richtigen Dinge zu tun
  9. VI. Die neuen Zusammenhänge – Auf dem Weg zum besseren Verstehen
  10. Anmerkungen
  11. Über den Autor
  12. Impressum
  13. Leseempfehlungen
  14. Körber-Stifung
Estilos de citas para Zusammenhänge

APA 6 Citation

Lotter, W. (2020). Zusammenhänge (1st ed.). Edition Körber. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1922032/zusammenhnge-wie-wir-lernen-die-welt-wieder-zu-verstehen-pdf (Original work published 2020)

Chicago Citation

Lotter, Wolf. (2020) 2020. Zusammenhänge. 1st ed. Edition Körber. https://www.perlego.com/book/1922032/zusammenhnge-wie-wir-lernen-die-welt-wieder-zu-verstehen-pdf.

Harvard Citation

Lotter, W. (2020) Zusammenhänge. 1st edn. Edition Körber. Available at: https://www.perlego.com/book/1922032/zusammenhnge-wie-wir-lernen-die-welt-wieder-zu-verstehen-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Lotter, Wolf. Zusammenhänge. 1st ed. Edition Körber, 2020. Web. 15 Oct. 2022.