I.1 Hexagramm 1: Jian 鍵
Jian 鍵(TR Hexagramm 1 Qian 乾)
HT-TR: 乾,元亨,利貞.
Wilhelm: Das Schöpferische wirkt erhabenes Gelingen, fördernd durch Beharrlichkeit.
HT-MWD: 鍵#元 亯#利貞.
Das Schloss, der Beginn, das Wachstum, die Reife, die Beständigkeit. Der Stern Jian [leuchtet], bereitet man eine große gekochte Speise als Opfermahlzeit zu, so ist das von vorteilhafter Bestimmung.
Im ersten Hexagramm wird das Prinzip des reinen Yang 陽 — im Sinn der einen von den beiden komplementären Wirkkräften, aus welchen ebenso der gesamte Kosmos mit all seinen vielfältigen Erscheinungsformen wie der Mensch selbst besteht - und die ihm eigenen Qualitäten veranschaulicht. Die Verdoppelung des Trigrammes mit den sechs durchgezogenen Linien symbolisiert die Dynamik in ihrer Phase der höchsten Aktualität, weswegen als seine besondere Eigenschaft auch »das Schöpferische« gilt. Die Energie »des Schöpferischen« gibt immer wieder den Impuls zu neuem Leben und bewirkt die Wandlung vom Unbelebten zum Belebten. In der Natur entspricht dem Trigramm qian乾der Himmel, der einerseits durch sein Licht immer wieder neues Leben zu schenken vermag und andererseits den zeitlichen Rhythmus des Menschen bestimmt. Denn das Auf- und Untergehen der Sonne am Himmel, die zyklisch wechselnden Mondphasen und die kreisenden Sternbilder machen die Qualität der Zeit für den Menschen ja erst erfahrbar und lassen ihn sich seiner selbst im Strom der Zeit bewusst werden.35 Qian ist im Sinne eines Prozesses das initiatorische Vermögen, das Schöpferische innerhalb eines Prozesses, das nicht mit einem - wie auch immer gedachten - „Schöpfer“ verwechselt werden darf. Qian bildet mit seinem polaren Gegensatz kun 坤, der Erde, „dem Empfangenden“ und somit dem rezeptiven Vermögen eine nicht zu trennende Einheit.
Schließlich symbolisiert das Trigramm qian auch eine Form der Stärke und Stabilität, wie sie aus einer Zusammenballung von Energie entstehen kann. Das Schriftzeichen jian 鍵 in der Mawangdui-Version bezeichnet zunächst den »Türriegel« in Form eines schweren Holzbalkens, der vor eine Tür geschoben wird, um sie abzuschließen, woraus die allgemeine Bezeichnung »Schloss, Schlüssel« resultiert. Es diente jedoch ebenso als Bezeichnung für die »Griffe« bzw. »Henkel eines Opfergefäßes«, die sich ähnlich wie der Türriegel vor allem durch Stabilität auszeichneten und gleichzeitig den Gebrauch des Opfergefäßes erleichterten bzw. erst ermöglichten. Im Hinblick auf die Position des Schriftzeichens im Yijing— als erstes Schriftzeichen überhaupt — darf es sicherlich als Schlüssel, der die Tür zu den 64 Hexagrammen öffnet, verstanden werden. Darüber hinaus versinnbildlicht es den Schlüssel zum Verständnis des kosmischen Wandels ganz allgemein, da die vier Zeichen yuan 元 »der Beginn«, heng亨 »das Wachstum«, li 利 »die Reife« und zhen 真 »die Beständigkeit«, wie im vorangegangenen Vorwort bereits erläutert, die vier Phasen eines abgeschlossenen Zyklus darstellen und gleichzeitig mit den vier Jahreszeiten korrespondieren. Versteht man die Schriftzeichen hingegen in ihrer Funktion als Orakelentscheid, so ist es in einer »Schlüsselsituation« von vorteilhafter Bestimmung, zuerst eine große Opfermahlzeit zuzubereiten und darzubringen.
In der Astronomie, die in China ja in enger Beziehung zur Kunst der Wahrsagung stand, wurde das Schriftzeichen jian 鍵 auch als Name für einen Stern verwendet, der nordöstlich des 4. Mondhauses fang liegt. Aufgrund der Überzeugung, dass sich das himmlische Geschehen auf der einen und das Staatsgeschehen (jedoch nicht das Volk oder gar ein Individuum) auf der anderen Seite gegenseitig beeinflussen, wurde in der chinesischen Astronomie der gesamte Sternenhimmel zunächst in vier gleichmäßige Segmente eingeteilt - auch die vier Paläste (der östliche, westliche, südliche und nördliche) genannt welche wiederum in 28 Mondhäuser (xiu) unterteilt waren. Jedem Palast waren dabei sieben Mondhäuser zugeteilt. Das Zeichen xiu 宿 bezeichnet ursprünglich eine Art Stall, der aus Matten gefertigt war und eine Unterkunft bildete, so dass die 28 Mondhäuser als Rastplätze für die Planeten, die Sterne, die Sonne und vor allem den Mond gedacht waren. Die Zahl 28 basiert dabei wahrscheinlich auf der Beobachtung, dass die Sterne und der Mond während einer Phase durchschnittlich 28 Tage benötigen, um zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren.36 Jedem der einzelnen Mondhäuser entspricht nun ein ganz bestimmter Teil der Regierung bzw. des kaiserlichen Palastes. Das Mondhaus fang 房 wird hierbei sinnbildlich für die Abteilung der Regierungsbeamten und Minister verwendet.
Bereits in den ältesten astrologischen Texten wird berichtet, dass der Stern jian — entsprechend seiner ursprünglichen Bedeutung -den »Schlüssel zu dem Mondhaus fang darstellt und im Regelfall nicht leuchtet. Ist er jedoch ausnahmsweise dennoch zu sehen, so bedeutet dies, dass im Inneren (des Palastes) Unordnung bzw...