1 Einordnung und Überblick
1.1 Motivation und Ziel der Forschung
Die in dem vorliegenden Reader zusammengestellten Forschungsarbeiten verfolgen das übergeordnete Ziel, die praktische Relevanz der Wirtschaftsinformatikforschung im Allgemeinen und der Forschung zum strategischen Informationsmanagement (IM) im Besonderen zu stärken. Die Wirtschaftsinformatik (WI) als Wissenschaftsdisziplin erforscht die Entwicklung und Anwendung von Informations- und Kommunikationssystemen in Wirtschaft und Verwaltung. Als Realwissenschaft und angewandte Wissenschaft steht die Wirtschaftsinformatik im engen Bezug zur betrieblichen Realität und Praxis. Diese enge Verbindung zeigt sich beispielhaft in der starken Gestaltungsorientierung der deutschen Wirtschaftsinformatik (Gill & Bhattacherjee, 2009, p. 223), die sich in weiten Bereichen als »Design Science« versteht (Österle, et al., 2011). Aber auch für die stärker verhaltenswissenschaftlich geprägte Disziplin »Information Systems (IS)«, die aufgrund des gemeinsamen Forschungsgegenstandes als anglo-amerikanisches Pendant der deutschen Wirtschaftsinformatik gelten kann, ist die praktische Relevanz der Forschung ein wesentliches Gütekriterium. Die IS-Disziplin ist mit dem Ziel der Entwicklung beschreibender und erklärender Theorien stärker empirisch ausgerichtet als die deutsche WI (Schauer, 2011). Ungeachtet ihrer stärkeren Theorieorientierung versteht sich auch die IS-Disziplin als angewandte Wissenschaft. Sie ist wie die deutsche WI dem praxeologischen Wissenschaftsziel verpflichtet: Die entwickelten Theorien sollen nützlich sein in dem Sinne, dass aus ihnen Handlungs- und Gestaltungsempfehlungen für die Praxis abgeleitet werden können (Benbasat & Zmud, 1999; Gill & Bhattacherjee, 2009). Eine hohe Praxisorientierung wird etwa erreicht, wenn (1.) Forschungsfragen aus praktischen Problemen heraus motiviert sind, (2.) Praktiker Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Journalen zur Gewinnung von Handlungsorientierungen nutzen und (3.) sich schließlich in ihren Entscheidungen und bei der Gestaltung von Lösungen auf akademische Empfehlungen stützen (Moody, 2000). Ob die WI und ihr angloamerikanisches Pendant, die IS-Disziplin, diesem Anspruch gerecht werden, wird allerdings zunehmend in Frage gestellt (Lyytinen, 1999; Moody, 2000; Kock, et al., 2002; Recker, et al., 2009; Gill & Bhattacherjee, 2009; Hassan, 2014). Michael Myers, der ehemalige Präsident der Association for Information Systems, äußert seine Bedenken wie folgt (Kock, et al., 2002, p. 339): »In other words, while relevance to practice is frequently proclaimed as a virtue in public, in reality practical relevance does not matter. What we say we believe we do is quite different from what we actually do. Our existing values and practices, embedded as they are in longstanding institutional practices, ensure that the frequent calls for IS research to become more relevant to practitioners are doomed to fail.« Diese Einschätzung unterstellt eine Entkopplung der Systeme Wissenschaft und Praxis im Bereich WI/IS, auf die auch Moody (2000) sowie Gill und Bhattacherjee (2009) aufmerksam machen.
Unzureichende Praxisrelevanz der Forschung ist weder ein neues noch ein exklusives Problem der WI. Auch in anderen realwissenschaftlichen Disziplinen, die zum Teil über eine deutlich längere wissenschaftliche Tradition verfügen, ist dieses Problem seit langem bekannt. Dies gilt in besonderer Weise für die betriebliche Managementlehre (Hambrick, 1994; Carton & Mouricou, 2017). Hier wurde in der Konsequenz sogar der Nutzen in Frage gestellt, den die Vermittlung wissenschaftlicher Theorien für die Ausbildung von Nachwuchsführungskräften hat (Bennis & O'Tool, 2005; Goshal, 2005). Verantwortlich dafür werden oft auch hier die unterschiedlichen Modi der Wissensproduktion in Wissenschaft und Praxis gemacht (van de Ven & Johnson, 2006; Kieser & Leiner, 2009).
Wenn demnach in WI und Managementlehre eine Lücke zwischen Theorie und Praxis besteht, so kann vermutet werden, dass diese im Schnittstellenbereich beider Disziplinen eher größer als kleiner ist. In diesem Schnittstellenbereich liegt das Informationsmanagement (IM), dessen Forschungsgegenstand das auf die technikgestützte »Information und Kommunikation gerichtete Leitungshandeln in Organisationen« ist (Heinrich, et al., 2014, p. 19). Das IM wird als Forschungsgebiet der WI zugeordnet und gleichzeitig als Teilbereich der Managementlehre betrachtet (Krcmar, 2005).
Empirische Untersuchungen bestätigen die Annahme einer geringen Praxisrelevanz der Forschung zum IM. So stellt Schauer (2010, pp. 35, 66) in einer Befragung von Führungskräften mit Verantwortung für Informationstechnologie und -systeme (IT/IS) fest, dass gerade in »IT-managementbezogenen Wissensbereichen« eine große Lücke zwischen der akademischen Ausbildung in WI und den in der Praxis geforderten Fähigkeiten und Kompetenzen besteht. Ward (2012, p. S. 169 ff.) schließt sich einem »low impact criticism of IS and management research« an. Er fordert als Reaktion darauf, im Überschneidungsbereich von WI/IS und Managementwissenschaft Problemstellungen aus der Praxis heraus zu formulieren und das Ziel der praktischen Verwertbarkeit von Ergebnissen im Auge zu behalten.
Abbildung 1–1 stellt die Kritik an der mangelnden Bedeutung der Wirtschaftsinformatikforschung für die Managementpraxis grafisch dar. Mehr bis weniger praxisrelevante Forschungsbereiche sind in Abbildung 1–1 durch hellere bis dunklere Färbung dargestellt. Die »Low-Impact-Kritik« ergibt sich nach der in Abbildung 1–1 gewählten Darstellungsweise als dunkler Überschneidungsbereich von Managementforschung und Wirtschaftsinformatik. Zudem deutet die Färbung, die nach oben hin dunkler wird, darauf hin, dass die Lücke zwischen Forschung und Praxis für strategische Fragestellungen größer ist als für technisch-operative. Dies entspricht der Einschätzung von Gill und Bhattacherjee (2009), die der WI/IS-Forschung in technischen Fragestellungen eine größere Praxisrelevanz zuschreiben als in Managementfragestellungen. Auf ersteren liegt der Schwerpunkt der deutschen WI-Forschung. Da diese
Abb. 1–1: IT/IS-Strategie im Mittelpunkt einer Low-Impact-Kritik
ingenieurwissenschaftlich-gestaltungsorientiert ausgerichtet ist, wird hier kaum managementwissenschaftlich geforscht (Teubner & Mocker, 2008). Hieraus resultiert ein Forschungsdefizit nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art: Die Themen, mit denen sich die IM-Forscher befassen, scheinen nicht dieselben zu sein, die IT/IS-Führungskräfte beschäftigen. Dies zeigen beispielsweise Studien, in denen die Inhalte akademischer Topjournale mit denen von Praktiker-Magazinen verglichen wurden (Lee, et al., 1999; Srivastava & Teo, 2005). In Abbildung 1–1 lässt sich die IT/IS-Strategieforschung im oberen, dunklen Schnittstellenbereich von WI/IS und Managementlehre einordnen. Sie liegt damit im Zentrum der »Low-Impact-Kritik« an der IM-Forschung.
Im Mittelpunkt der IT/IS-Strategieforschung steht das Konzept der IT/IS-Strategie. Denn solange nicht klar ist, was unter einer IT/IS-Strategie verstanden wird bzw. verstanden werden sollte, können weitergehende Fragen etwa zu Vorgehen und Methoden der IT/IS-Strategieentwicklung (engl. »Strategic Information Systems Planning«, SISP) oder zu Determinanten und Wirkungen von IT/IS-Strategien wissenschaftlich nicht sinnvoll beantwortet werden. Unzureichender Konsens und das Fehlen einer klaren Strategiedefinition stellen dementsprechend ein unmittelbares Problem für das gesamte Forschungsfeld dar (Peppard, et al., 2014). Im vorliegenden Buch sind deshalb Forschungsarbeiten zusammengestellt, die zur Klärung und Weiterentwicklung des IT/IS-Strategiekonzepts im Sinne des praxeologischen Wissenschaftsziels beitragen. Die übergeordnete Forschungsfragestellung lautet:
Wie lässt sich das Konzept der IT/IS-Strategie in der angewandten Forschung erfassen?
Zur Beantwortung dieser Frage ist zu klären, was (1) in Wissenschaft und Praxis unter einer IT/IS-Strategie verstanden wird, (2) ob, und wenn ja, welche Unterschiede im Verständnis bestehen, und (3) wie ggf. die Forschung stärker auf die Praxis ausgerichtet werden kann. Dies etwa, indem neue Forschungsfragen unmittelbar aus der Praxis heraus formuliert werden, praktisch besonders relevante Themen mehr Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten oder Ergebnisse so formuliert werden, dass sie in der Praxis leichter rezipiert und genutzt werden können.
1.2 Entwicklung der IT/IS-Strategieforschung
Anhand von Abbildung 1–2 lassen sich die Anfänge der Forschung zum strategischen IM bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen. ...