Kapitel 1
Sex, Klicks und die ersten krummen Dinger
Ein schillernder Geschäftsmann mit einer genialen Idee – die Geburtsstunde von Wirecard
So viele nackte Frauen gibt es selten in der »Trompete«. Es ist der 9. November 2000, und der Herausgeber der deutschen Version des Erotikmagazins Hustler hat in den Berliner Tanzclub von Schauspieler Ben Becker geladen. Showdamen rekeln sich um eine eigens angebrachte Stange. Anlass ist die Erotikmesse »Venus 2000«, geladen sind VIPs wie Udo Lindenberg und Hausherr Ben Becker.
Das Berliner Boulevardblatt B.Z. wird später protokollieren, dass die Damen sich »erst ganz brav« gezeigt hätten: »Doch je früher der Morgen, desto mehr verloren sie Hemmungen und Kleidungsstücke.« Gegen ein Uhr: »Busenalarm«. Leitspruch des Abends: »Jetzt wird in der Trompete endlich mal richtig geblasen.«
Das Ereignis soll den Hustler in Deutschland bekannter machen – ein Heft, das bis dahin vor allem Amerikas einsamen Fernfahrern ein Begriff war. Heute, 20 Jahre später, kann der Abend zusammen mit ein paar weiteren Ereignissen aus dieser Zeit als historische Stunde für etwas viel Größeres gelten: die Geburtsstunde der Wirecard AG. Geschaffen hat sie Paul Bauer-Schlichtegroll, ein vielseitig interessierter Geschäftsmann aus dem Raum München.
Nach dem Abitur geht Bauer nicht wie seine Klassenkameraden zur Uni. Er studiert lieber das Leben: Bauer reist nach Nairobi, nach São Paulo. Zurück in Deutschland wird er Unternehmer. Er scheint das Risiko zu mögen und probiert vieles aus. So gründet er eine Event-Agentur in Düsseldorf, verkauft sie jedoch wieder. Er importiert Textilien aus Asien und ist viel in den USA unterwegs, wo er hippe Marken aufspürt, die er in Deutschland vertreiben kann. Die Skater-Marke »Vans« etwa gehört zu seinem Portfolio. Bauer hat ein Gespür für Trends. Damit bringt er es zu einem gewissen Wohlstand.
Im Jahr 2000 ist Bauer 37 Jahre alt. Er hat dunkelbraunes volles Haar, ist meist braun gebrannt und hat eine sportliche Figur. Geschäftspartner aus jener Zeit beschreiben ihn als souverän und selbstbewusst, aber regelmäßig eine Spur zu laut im Auftritt. Viele aus der Zeit erzählen: Wenn Paul Bauer etwas nicht passte, dann wurde er laut oder verließ kommentarlos den Raum.
Er ist ein Macher, der nicht lange diskutiert. »Er war wie ein Duracell-Bunny«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. »Er war effektiv, gab die Linie vor.«
Es ist gerade die Zeit, in der das World Wide Web erwachsen wird. Boris Becker wirbt für den Internetanbieter AOL: »Ich bin drin – das ist ja einfach.« Die Deutschen folgen dem Tennisstar in die noch fremde Welt und richten E-Mail-Adressen ein. Rund um Unternehmen, die etwas mit dem Internet zu tun haben, bricht Hysterie aus. Die seinerzeit beliebte Suchmaschine Yahoo etwa, entstanden aus einem Internetverzeichnis, das zwei Studenten für Freunde sechs Jahre zuvor angelegt hatten, ist an der Börse 100 Milliarden US-Dollar wert. AOL kommt, vor der Fusion mit dem Medienkonzern Time Warner, auf 160 Milliarden US-Dollar Börsenwert. Junge Technologiefirmen sammeln über Börsengänge ohne Schwierigkeiten Millionen ein, sofern sie zumindest am Rande etwas mit IT oder Internet zu tun haben. Sie brauchen nicht viel mehr als eine Idee. Investoren werfen coolen Unternehmern mit kühnen Visionen das Geld nur allzu gerne hinterher; Hauptsache, sie sind online unterwegs – zumindest irgendwie.
Visionen sind eigentlich nicht so Bauers Sache. Er will die Welt nicht verändern oder etwas schaffen, an das man sich noch in 20 Jahren erinnert. Er will sich nicht einmal länger als nötig mit einer Geschäftsidee befassen, so erzählen es mehrere Weggefährten aus dieser Zeit. Bauer will in erster Linie Geld verdienen. Ihn fasziniert die Idee, etwas im Internet zu verkaufen. Nur das ist damals kaum möglich. Zahlungssysteme für das Internet, die Händlern wie Kunden Sicherheit bieten, werden entwickelt oder gerade eingeführt, aber Standard sind sie noch nicht.
Eine der ersten Branchen, die diese Hürde nimmt, ist die Pornoindustrie. Wer kostenpflichtige Filme oder Bildchen anschauen will, lädt einfach einen sogenannten Dialer auf seinen Computer. Die Software sorgt dafür, dass die Standardverbindung ins Internet, zum Beispiel über die Deutsche Telekom, beim Aufruf bestimmter Seiten durch eine 0190er-Verbindung ersetzt wird. Abgerechnet werden dann nicht mehr die üblichen 3 bis 5 Pfennig, sondern bis zu 3,63 D-Mark pro Minute. Die Dialer werden zur ersten gängigen Bezahlform im Internet. Schuhe oder Hosen lassen sich damit nicht bezahlen, aber alles, was sich in Minuten abrechnen lässt. Wie eben der Besuch von Pornoseiten.
Paul Bauer sieht diese Chance – und nutzt sie. Am 9. Juli 1998 trifft er sich mit einem Münchner Notar und gründet die EPM AG – Entertainment Print Media –, später eingetragen im Handelsregister in München unter der Nummer 122026 mit Sitz in Hallbergmoos, bei München. Geschäftszweck: »Produktion und Vertrieb von Medien und Entertainmentprodukten aller Art.« Kosten für den Verwaltungsakt: 1235,05 D-Mark.
Der Sitz von Bauers Firma ist in einem hässlichen Gewerbegebiet, nicht einmal sieben Kilometer vom Münchner Flughafen entfernt. Das Bürogebäude gehört heute zu einem Hotel.
Bauers Gesellschaft erwirbt das Recht, die Marke Hustler für ein deutschsprachiges Erotikangebot zu nutzen. In den USA ist das Sexmagazin, das im Vergleich zum Playboy eher prollig daherkommt, bekannt. Der Gründer Larry Flynt ist damit steinreich geworden und in den USA eine Legende. Seit einem Attentat 1978 ist er gelähmt. Sein Markenzeichen: ein goldener Rollstuhl.
Bauer muss auch sechs Mal im Jahr ein Heft herausgeben, das ist Bedingung. Es rentiert sich nicht. Allein die Kosten für den Druck und die Rücknahme unverkaufter Exemplare belaufen sich 1999 auf 1,6 Millionen D-Mark. »Sonderlich viel Mühe hat sich mit dem Magazin keiner gegeben«, erinnert sich ein Mitarbeiter, der in den Anfangsjahren für Bauer gearbeitet hat. »Die Zeitschrift war nur das notwendige Übel, um die Marke Hustler online nutzen zu können.« Die deutsche Hustler-Seite – laut Eigenwerbung die »hottest site on the net« – wird noch um andere Pornoangebote erweitert mit »Hardcore Live-Shows« und »Sweet Teens«.
Das Geschäft mit den Inhalten für Erwachsene steht aber nicht im Fokus. Bauer erkennt schnell, dass das Potenzial der Abrechnungssysteme viel größer ist als das der Pornoseiten selbst. Denn die Pornogemeinde wächst gigantisch. Bauer lässt in seiner Firmengruppe eigene Dialer programmieren oder einkaufen und stellt sie anderen Seiten zur Verfügung. »Bauer war ein Verkaufstalent«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. »Es war beeindruckend, wie er die Kunden auf den Messen davon überzeugt hat, dass wir die Größten sind. Keiner konnte das so wie er.« Das Herzstück der Firmengruppe wird in EBS – Electronic Billing Systems umbenannt. Das Pornogeschäft wird später ganz wegfallen.
Ein Mitarbeiter erinnert sich: »An Bauers Schreibtisch klemmte ein Minutenzähler. Der war extra so angebracht, dass Besucher ihn nicht sehen konnten. Auf dem Schirm konnte er immer sehen, wie viele Minuten an dem Tag schon über die Dialer abgerechnet worden waren. An seiner Laune konnte man immer ablesen, ob es ein guter oder ein schlechter Tag war.«
Doch die Dialer und ihre Schöpfer geraten bald ins Zwielicht, denn die Grenzen des Erlaubten werden mehr als ausgereizt.
Um die Jahrtausendwende stößt ein neuer Programmierer zu der Truppe aus Hallbergmoos, ein stets gut gekleideter Mann, mit amerikanischem Akzent. Er gilt als technisches Wunderkind. Mit ihm aber beginnen auch die Probleme. Die Dialer laufen technisch sehr viel besser, seit der 42-Jährige da ist. Aber es wird auch hier schmutziger.
Die Gruppe vertreibt nun auch Dialer, die der Internetnutzer herunterlädt, ohne es zu merken, und die fortan die Standard-Internetverbindung der Nutzer heimlich durch eine 0190er-Nummer ersetzen. Wer unbemerkt einen solchen Dialer installiert, zahlt fortan für jede Minute, die er im Internet verbringt, immer bis zu 3,63 D-Mark – also auch, wenn er im Netz nach Kochrezepten sucht und nicht nur, solange er sich auf einer Pornoseite vergnügt. Das Geschäft ist lukrativ. Der Nutzer erfährt erst mit der nächsten Telefonrechnung, dass er ein Problem auf seinem PC hat. Bis dahin sind aber oft ein paar Hundert, manchmal ein paar Tausend Euro an Gebühren aufgelaufen. »Dem Hustler und anderen Magazinen wurden Porno-CDs beigelegt, auf denen diese Dialer drauf waren«, sagen mehrere ehemalige Mitarbeiter. »Wer die CD in den Computer legte, hatte das Programm auf dem PC.« Einer ergänzt: »Das Perfideste aber waren die Einmal-Dialer, bei denen nicht pro Minute horrende Gebühren abgebucht wurden, sondern direkt bei der ersten Einwahl ins Internet eine Pauschalgebühr von bis zu 800 D-Mark entstand.« Wenn sich ein Nutzer geweigert habe zu zahlen, »wurde auch nie vollstreckt. Aber die meisten haben eben gezahlt, vermutlich aus Scham«.
Zu jener Zeit entsteht auch das Geschäftsmodell, das viele Jahre später von Betrügern missbraucht wird. Die EBS beginnt, heikle Geschäfte an Partnerfirmen auszulagern. Viele Jahre später werden die Geschäfte mit solchen Partnerfirmen Wirecard in die Insolvenz stürzen.
Die Anfänge des Partnermodells sind relativ harmlos. Die EBS lässt Dialer von einer Firma ihres neuen, so geschickten Programmierers entwickeln und reicht die Lizenzen hierfür an ein Unternehmen namens Crosskirk mit Sitz in Palma de Mallorca weiter.
Die Crosskirk betreibt eigene Pornoseiten und vertreibt auch die Dialer der Bauer-Truppe in Hallbergmoos. Laut einem Lizenzvertrag muss Crosskirk 80 Prozent ihrer Erträge an die EBS abgeben. Die Vorteile liegen auf der Hand: Gibt es später Ärger mit den Dialern, können sich die Chefs der EBS darauf zurückziehen, dass das Unternehmen ja nur Software zur Verfügung gestellt hat und sie keine Verantwortung dafür tragen, wenn diese von einer anderen Gesellschaft für schädliche Zwecke genutzt wird. Laut Vertrag hat Crosskirk die EBS von allen Ansprüchen freizustellen, die gegen die EBS geltend gemacht werden. Hinzu kommt: Die Gesetze sind in Spanien seinerzeit laxer als in Deutschland.
Einschlägige Fachmedien warnen vor Crosskirk. Verbraucherforen sind voll mit Beschwerden. Im März 2001 berichtet SternTV über die Dialer von Bauers Truppe. Danach bekommt die Firma Besuch von der Polizei.
Das Geschäft läuft zunächst unbeeindruckt weiter. Im Februar 2001 rechnet die EBS durchschnittlich rund 20 000 Minuten am Tag ab. Im August 2001 sind es nach eigenen Angaben bereits fünf Mal so viel. Die Crosskirk allein setzt 2002 rund 15 Millionen Euro um.
Dass der spanische Partner ein Quell potenzieller Schwierigkeiten ist, wird nicht geleugnet. In einem Wertpapierprospekt heißt es später unter anderem: »[D]ie Zahlungssysteme der Crosskirk [entsprechen] nicht in vollem Umfang den Vorgaben der Freiwilligen Selbstkontrolle Telekommunikation e.V.« Die Mitglieder des Vereins verpflichten sich, gewisse Standards einzuhalten. Über den Verein wollten sich die Anbieter eigentlich selbst regulieren, um härtere Gesetze zu verhindern.
Weil aber nicht nur Bauers Truppe zweifelhafte Geschäfte mit Dialern betreibt, häufen sich die Beschwerden bundesweit. Die Gesetze sollen angepasst werden. Die Dialer stehen vor dem Aus.
Zwar hat die Bauer-Truppe bereits seit 1999 auch andere Zahlvarianten wie Kreditkarte, Kontoeinzug und Scheck im Programm. Das Volumen aber ist zu vernachlässigen.
Ende 1999 stößt Alexander Herbst zur Bauer-Truppe, damals 34 Jahre alt. Eigentlich wollte er die Steuerberatungsgesellschaft seiner Mutter übernehmen, aber das Internet fand er dann doch spannender, als Paragrafen zu wälzen, sagt er. Ein Bekannter habe ihn und Paul Bauer zusammengebracht. Dann sei alles ganz schnell gegangen, erinnert sich Herbst. »Ich weiß noch genau, wie ich Finanzvorstand wurde. Paul Bauer und ich saßen an seinem Schreibtisch. In der Mitte stand der Freisprecher ...