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Was ist UX-Strategie?
Zwei Wege boten sich mir im Walde dar, und ich –
ich ging den, der weniger betreten war,
und das, das änderte mein Leben.1
– Robert Frost
Im vergangenen Jahr war ich schlecht gelaunt, nachdem ich mich an einem Sonntagnachmittag mit einem Kollegen traf, der Hilfe bei der Planung eines Workshops benötigte. Vielleicht lag es daran, dass ich es überhaupt nicht mag, am Wochenende zu arbeiten. Vielleicht lag es daran, dass es immer eine schlechte Idee ist, in Los Angeles von der Eastside zur Westside zu pendeln. Oder vielleicht lag es auch einfach daran, dass der Gedanke, eine glorreiche Brainstorming-Session für Führungskräfte zu leiten, einfach nicht gut zu mir passt. Was auch immer die Gründe waren, meine Stimmung wurde noch schlechter, als das Auto hinter mir so hart auf meinen Wagen auffuhr, dass mein halb gegessener, folienumwickelter Burrito vom Rücksitz gegen meine Windschutzscheibe klatschte.
Die andere Fahrerin und ich verließen sofort die volle Autobahn, um auf einer Straße in einem Wohngebiet den Unfall sicher zu regeln. Mein Auto war so stark beschädigt, dass der Benzintank aus seiner Verankerung gerissen war. Glücklicherweise wurde bei dem Unfall keine von uns verletzt. Die andere Fahrerin war versichert und entschuldigte sich sogar. Wie auch immer, während ich am Straßenrand stand und all diese Gefühle fühlte, wusste ich, dass die nächste Aufgabe darin bestand, herauszufinden, wie ich meinen ersten Schaden bei meinem Hightech-Autoversicherer Metromile abwickeln konnte.
Metromile ist ein mittelständisches Start-up mit Sitz in San Francisco, das mit seinem innovativen Geschäftsmodell und dem Einsatz von Telematik-Technologien die Autoversicherungsbranche umkrempeln will. Anstatt den Kunden eine feste Prämie für eine Jahrespolice in Rechnung zu stellen, besteht das Tarifsystem aus einem niedrigen monatlichen Basistarif plus einer Gebühr pro gefahrener Meile. Obwohl ich in Los Angeles lebe, fahre ich eigentlich nicht viel, weil ich nicht täglich zu einem Vollzeitjob pendeln muss. Im Jahr 2018 beschloss ich, zu prüfen, um wie viel meine monatlichen Zahlungen sinken würden, wenn ich von einem traditionellen Versicherungsanbieter zu diesem Tech-Disruptor wechseln würde. Ein paar Tage, nachdem ich mich angemeldet hatte, erhielt ich per Post ein kleines drahtloses Metromile-Pulse-Gerät. Dieses steckte ich in die Buchse des On-Board-Diagnose-Systems meines Wagens, damit meine Logistikdaten nachverfolgt werden können. Im ersten Monat sank meine monatliche Prämie um 40 %! Ich war begeistert.
Aber jetzt war wirklich Showtime. Das Modell einer Versicherung als Produkt besteht darin, dass Sie ein Unternehmen dafür bezahlen, um Sie vor bestimmten Risiken zu schützen: nicht vorhersehbare Gesundheitsprobleme, Naturkatastrophen oder Autounfälle. Oft interagieren die Kunden jenseits der Zahlungen nicht mit ihrem Versicherungsanbieter, es sei denn, es ist notwendig. Aber Metromile unterscheidet sich von traditionellen Anbietern dadurch, dass es verschiedene Berührungspunkte gibt. Beispielsweise gibt es eine gut gestaltete mobile App, die Telematik-Technologie nutzt, um Fahrern Informationen über den Zustand des Fahrzeugs, dessen Standort und das Fahrverhalten zu geben. Und als neugierige UX-lerin habe ich ab und zu mit der App herumgespielt. Generell müssen sich Kunden in den USA, wenn sie mit ihren Versicherern interagieren wollen, durch ein komplexes bürokratisches System navigieren, das nicht benutzerfreundlich ist. Wie würde Metromile mich und mein verunfalltes Auto behandeln? Vielleicht waren die Einsparungen zwar groß, aber könnte sich das Produkt insgesamt nun in ein großes Ärgernis verwandeln?
In der Regel ist das Erste, was ein Autofahrer in den USA nach einem Unfall tut, die Kundendienstrufnummer seiner Versicherungsgesellschaft anzurufen. Ein Mitarbeiter nimmt Details über den Unfall und den beteiligten Fahrer auf, um in Ihrem Kundenkonto einen Versicherungsfall zu eröffnen. Damit beginnt der Prozess, in dem die Versicherung den Schadensfall untersucht und dann für Sie eventuelle Kosten bezahlt oder an Sie erstattet.
Metromile stellt diesen Prozess in ihrer App zur Verfügung und ich konnte es nun selbst ausprobieren (siehe Abbildung 1.1). Während ich also neben der anderen Fahrerin stand, folgte ich in der App einem intuitiven Flow, der mich durch den Schadensmeldungs-Trichter leitetet. Der Flow verwendete sogar Geolokalisierung, um den genauen Ort des Unfalls zu ermitteln, sodass ich keine Straßenschilder beachten musste. Außerdem war ich, wie jeder andere nach einem Unfall, ein wenig durcheinander. Jedoch kümmerte sich die Checkliste der App um alles. Die Liste stellte sicher, dass ich den Namen und die Adresse der anderen Fahrerin eingab, ein Foto von ihrem Führerschein und der Kfz-Versicherung machte, alle Zeugendaten sammelte und Fotos von meinem Auto und ihrem Auto machte, um den Schaden zu dokumentieren. Die klare Führung sorgte dafür, dass ich ruhig blieb und die Dinge, die zu tun waren, aufmerksam und konzentriert erledigen konnte. Alles in allem dauerte dies weniger als zehn Minuten.
Abbildung 1.1: Mehrere Screenshots des Metromile-Flows, mit dem ein Schaden gemeldet wird
Die andere Fahrerin und ich verabschiedeten uns und wir gingen getrennte Wege. Als ich zu Hause eintraf, hatte ich von Metromile eine E-Mail mit einer Liste von nahe gelegenen Werkstätten erhalten. Außerdem wurde ich aufgefordert, einen Mietwagenanbieter zu wählen, damit dieser mich genau zu dem Zeitpunkt treffen konnte, zu dem ich mein Auto in der Werkstatt abgeben wollte. Während mein Auto in der Werkstatt war, fuhr ich in einem coolen schwarzen Jeep durch Los Angeles, während Metromile Verhandlungen mit dem Versicherer der anderen Fahrerin führte, um mir zu helfen, meine Selbstbeteiligung in Höhe von 500 Dollar zu vermeiden. Im Prinzip hat es dieses Start-up irgendwie geschafft, eine in der Regel für sehr viele Amerikaner sehr anstrengende Kundenerfahrung in etwas zu verwandeln, was reibungslos abläuft. Und ihr Erfolg ist nicht nur im UX-Design begründet.2 Es ging eigentlich mehr um ihre UX-Strategie.
Die Entwicklung des Begriffs »UX-Strategie«
Der Begriff UX-Strategie begegnete mir zum ersten Mal in gedruckter Form im Jahr 2008 und zwar im Buch Mental Models von Indi Young,3 die damals versuchte, das UX-Design auf eine strategischere Ebene zu heben. Dort bot sie ihren Lesern ein Mini-Manifest zusammen mit einer von Jesse James Garrett geschriebenen Gleichung für Experience-Strategie an, die Sie im Original in Abbildung 1.2 sehen können.
Abbildung 1.2: Kasten aus dem Buch »Mental Models«, © 2008 Rosenfeld Media, LLC
Experience-Strategie war eine neue Disziplin, die von Young und Garrett, Mitgründer von Adaptive Path in San Francisco, geprägt wurde. Sie kombinierten Methoden aus verschiedenen Disziplinen, einschließlich der Unternehmensstrategie und der Nutzerforschung. Ich wollte wirklich verstehen, was UX-Strategie bedeutete und warum man Experience-Strategie erhält, wenn man UX-Strategie um Geschäftsstrategie ergänzt.
Im Laufe meiner beruflichen Laufbahn hatte ich mit Agenturen, Start-ups und Unternehmen gearbeitet und dabei viele Definitionen des Begriffs UX-Strategie gesehen und gehört. Das Problem mit der sich entwickelnden Technologieterminologie besteht darin, dass sie Verwirrung bei Kunden, Stakeholdern, Personalvermittlern, Personalabteilungen, Universitäten und vor allem neuen Designern verursacht. Die gleichen Arten von semantischen Debatten kenne ich auch aus den frühen 2000er-Jahren, in denen es um widersprüchliche Interpretationen von User Experience Design und Interaktionsdesign ging, und aus den frühen 1990er-Jahren um die Begriffe Neue Medien und Multimedia.
Was UX-Strategie in der ersten Ausgabe dieses Buches bedeutete
In der ersten Ausgabe dieses Buches, die 2015 erschien, habe ich geschrieben, dass die UX-Strategie der Prozess ist, der als Erstes begonnen werden sollte, also bevor das Design oder die Entwicklung eines digitalen Produkts beginnt. Es ist die Vision einer Lösung, die mit echten potenziellen Kunden validiert werden muss, um zu beweisen, dass es im Markt einen Bedarf für diese Lösung gibt. Obwohl das UX-Design unzählige Details wie visuelles Design, Content Messaging und die einfache Ausführung einer Aufgabe für einen Benutzer umfasst, ist die UX-Strategie das »große Ganze«. Sie ist der übergeordnete Plan, um ein oder mehrere Geschäftsziele unter ungewissen Bedingungen zu erreichen.
Die erste Ausgabe beinhaltete auch ein Interview mit einem anderen Gründer von Adaptive Path, Peter Merholz. Darin sagte er:
In einer idealen Welt bräuchten Sie keine UX-Strategie, denn sie wäre lediglich eine Komponente Ihrer Produkt- oder Geschäftsstrategie. Ich denke, dass wir uns hin zu dieser idealen Welt bewegen. Wir sehen immer häufiger, dass UX als Teil einer breiteren Strategie betrachtet wird. Ich denke aber, dass das separate und eigenständige Konzept der UX-Strategie für uns notwendig war – zumindest, damit wir uns darauf konzentrieren konnten, es genauer zu beleuchten und ein Toolkit zu entwickeln, das dann in die Produktstrategie einfließt.4
Jetzt, sechs Jahre später, sehen wir, dass Merholz weitestgehend recht hatte. Die Praxis der UX-Strategie, die ich in meiner ersten Ausgabe beschrieben habe, ist jetzt ein Synonym für Produktstrategie. Inzwischen wird der Begriff UX-Strategie am häufigsten dafür verwendet, die strategische Umsetzung von UX in einer bestimmten Organisation oder Business Unit zu bezeichnen: wie die UX-Abteilung geführt werden sollte, wie Sie die Fähigkeiten Ihres Teams bewerten und ausbauen, wie Sie die Reichweite und den Einfluss Ihres UX-Teams erweitern und wie Sie UX-Projekte priorisieren, die den größten Return on Investment (ROI) erzielen können.5 Es ist eher prozessorientiert.
Was ist also Produktstrategie?
Die traditionelle Produktstrategie beschreibt, wer Ihre Kunden sind, wie Ihr Produkt in den aktuellen Markt passt und wie es Geschäftsziele erreicht. Es beginnt mit der Produktvision und endet mit einer Roadmap, die beschreibt, wie man taktisch dorthin kommt. In einer Unternehmensumgebung ist eine klare Produktstrategie für die Abstimmung mit den Stakeholdern entscheidend. Sie wird in der Regel von einem Director of Product, einem Produkt Owner oder Produktmanager geleitet. Der Strategieprozess umfasst die Markteinführung eines Produkts, führt es zu Wachstum und Reife und schließlich durch die Degenerationsphase.
Aber auch die Disziplin der Produktstrategie hat sich weiterentwickelt. Sie legt nun einen stärkeren Schwerpunkt auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Kunden durch Nutzerforschung und Design-Praktiken. Parallel dazu entwickeln sich auch die Berufsbezeichnungen weiter. UX-Designer nennen sich heute Produktdesigner. Außerdem habe ich beobachtet, dass sich viele ehemalige UX-Strategen heute in Produktstrategen umbenannt haben. Vielleicht werde ich dies auch tun.
Warum die Strategie für digitale Produkte entscheidend ist
Der Zweck jeder Strategie ist es, einen Spielplan zu erstellen, der Ihre aktuelle Position betrachtet und Ihnen dann hilft, dorthin zu gelangen, wo Sie tatsächlich sein möchten. Ihre Strategie sollte Ihre Stärken ausspielen und auf Ihre Schwächen achten. Sie sollte sich auf empirische, leichtgewichtige Taktiken verlassen, die Sie und Ihr Team – denn seien wir ehrlich, Sie tun dies wahrscheinlich nicht allein – schnell in Richtung Ihres gewünschten Ziels bewegen. Strategie geht über den abstrakten Charakter des Designs hinaus und betritt das Land des kritischen Denkens. Kritisches Denken ist diszipliniertes Denken, das klar, rational, aufgeschlossen und durch beweisbare Fakten untermauert ist.6 Eine fundierte Strategie macht den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg aus. In der digitalen Produktwelt verschärft sich das Chaos – Zeitverzögerungen, erhöhte Kosten und schlechte Benutzererfahrungen –, wenn es unter den Teammitgliedern keine gemeinsame Produktvision gibt.
Veraltete mentale Modelle werden verworfen. Das Leben wird gestört, damit es sich bessert!
Eine gemeinsame Produktvision bedeutet, dass Ihr Team und Ihre Stakeholder das gleiche mentale Modell für Ihr zukünftiges Produkt haben. Ein mentales Modell repräsentiert jemandes Denkprozess darüber, wie ein Ding in der realen Welt funktioniert. Als ich beispielsweise zehn Jahre alt war, glaubte ich, dass die Art und Weise, wie meine Mutter Bargeld bekam, darin bestand, zu einer Bank zu gehen, einen Zettel zu unterschreiben und dann das Geld vom Kassierer zu erhalten. Als ich 20 war, glaubte ich, dass ich eine Ban...