1 Geschichtliche Aspekte der Sterbehilfe-Debatte
1.1 Der âgute Todâ von der Antike bis in die Neuzeit
âWir wissen, wozu das gefĂŒhrt hatâ ist eine oft gehörte Aussage im deutschen Euthanasie-Diskurs. Dass dies als Argument verwendet gefĂ€hrlich und falsch ist, muss dabei immer wieder entgegnet werden. Falsch ist es, weil sich die heutige Auseinandersetzung um die Selbstbestimmung von Patienten nicht mit den Massenmorden wĂ€hrend einer Diktatur vergleichen lĂ€sst â gefĂ€hrlich ist es, weil es Verbrechen verharmlost und reflektierte Autonomieforderungen diskreditiert. Gerade die aktuelle deutsche Debatte sollte sich von dieser geschichtlich verengten Sichtweise befreien, indem sie die begangenen Verbrechen als stete Mahnung in Erinnerung behĂ€lt. Sie sollte aber zugleich auf den Unterschied insistieren, dass es in der aktuellen Sterbehilfe-Diskussion nicht um den Mord an Behinderten, sondern um die Frage der Reichweite der Selbstbestimmung schwer Leidender geht.
Hilfreich dabei ist der Blick in die Begriffsgeschichte der Sterbehilfe-Debatte, die sich bis in die Antike zurĂŒckverfolgt lĂ€sst. Die Frage nach dem Umgang mit alten und kranken Menschen stellt eine Grundkonstante menschlichen Lebens in sozialer Gemeinschaft dar, die kulturspezifisch unterschiedlich beantwortet wurde.1
Der Begriff âeuthanasiaâ2 gelangte als Fremdwort aus dem Griechischen in die lateinische Sprache. Die Bezeichnung âguter Todâ, âeu-thanatosâ, wurde jedoch zuerst weder fĂŒr die Sterbehilfe durch einen Arzt noch fĂŒr die teilweise praktizierte Aussetzung oder Tötung behinderter oder schwacher Neugeborener verwendet. Bis in die Gegenwart hinein bezieht sich die Sterbehilfe-Debatte als Quelle ethischen SelbstverstĂ€ndnisses der Medizin auf den im 5. / 4. Jh. v. Chr. verfassten âHippokratischen Eidâ. Er schlieĂt fĂŒr Ărzte aktive Sterbehilfe oder beratende Begleitung beim Suizid kategorisch aus.3 Die ersten Belege fĂŒr den Begriff âEuthanasieâ finden sich im 5. Jh. v. Chr. bei dem griechischen Dichter Kratinos (500â420 v. Chr.). Sie grenzen den âguten Todâ, einen Tod ohne vorhergehende lange Krankheit, von einem schweren Sterben ab. Von Menandros (ca. 342â293 v. Chr.) stammt in Verbindung mit der Vorstellung von einem guten Tod das geflĂŒgelte Wort: âWen die Götter lieben, der stirbt jung.â Platon (ca. 427â347 v. Chr.) propagierte in seiner Politeia sowohl die aktive als auch die passive Sterbehilfe,4 und fĂŒr die Stoa konnten physische und psychische Leiden das vernunftgemĂ€Ăe Bewusstsein und das naturgemĂ€Ăe sittliche Handeln bedrohen und damit dem Menschen die entscheidenden Handlungsmöglichkeiten rauben. FĂŒr diesen inakzeptablen Fall galt der herbeigefĂŒhrte âgute Todâ als Mittel der Wahl.5 So wie in griechischer und römischer Zeit Infantizid, Suizid und Euthanasie weitgehend akzeptiert waren, trat ĂŒber die jĂŒdische und christliche Anthropologie immer stĂ€rker die Heiligkeit des Lebens in den Mittelpunkt.6
Kirchliche Stellungnahmen gegen eine Ausweitung der Sterbehilfeformen repristinieren die am Ăbergang von der Antike zum Mittelalter entwickelten Ansichten: Ihnen zufolge hat Gott allein alle VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber das menschliche Leben. Das gilt auch fĂŒr die Selbsttötung, die Augustin und Thomas von Aquin verurteilten. Suizid erschien ihnen als die schlimmste aller SĂŒnden, da durch den Tod die Möglichkeit der BuĂe entfalle.7 Das Gebot der NĂ€chstenliebe fordert die aufopfernde Hinwendung zu Kranken und BedĂŒrftigen und nicht deren Tötung. Einer der ersten, der bereits im zweiten Jahrhundert einen Bezug zwischen der Ablehnung von Infantizid und Suizid und der Konzeption der Gottebenbildlichkeit herstellte, war der griechische Kirchenvater Clemens von Alexandria (ca. 150â215). Trotz der auf der âimago-deiâ-Idee basierenden neuen WertschĂ€tzung des Menschen als Abbild und Geschöpf Gottes und der damit verbundenen Ablehnung von Suizid und Mord blieb das Töten von Kampfgegnern weiterhin erlaubt. Auch eine Mutter, die ihr frĂŒhgeborenes Kind binnen 30 Tagen zu Tode brachte, konnte nicht als Mörderin angeklagt werden.8
Nach der Konstantinischen Wende wurde das Verbot der Euthanasie in römisches Gesetz eingetragen und 695 n. Chr. abschlieĂend festgelegt, dass ein versuchter Suizid die Exkommunikation nach sich ziehe. Letztere Bestimmung wurde erst im 19. Jahrhundert wieder geĂ€ndert. Trotz der Gesetzeslage und der ablehnenden ĂuĂerung der KirchenvĂ€ter waren Suizid und Infantizid im Mittelalter nicht ungewöhnlich. Die GrĂŒnde hierfĂŒr sind in den ökonomischen und sozialen Problemen infolge von Kriegen und Plagen zu sehen. Auch die Reformation brachte in der Haltung zu Euthanasie keine entscheidend neue EinschĂ€tzung. Luther und Calvin zeigten sich jedoch in Fragen der Tötung behinderter Kinder nachsichtig.9
Prinzipiell blieb das Tötungsverbot gegenĂŒber kranken und sterbenden Menschen aber bis zu einer der berĂŒhmtesten Utopien der Renaissance unangetastet. Erst Thomas More10 (1478â1535) charakterisierte in âUtopiaâ11 assistierten Suizid und aktive Sterbehilfe als vernĂŒnftige Handlungen am Lebensende, wenn trotz optimaler Pflege und medizinischer Versorgung eine Genesung nicht mehr zu erreichen sei. Eine Tötung gegen den Willen des Patienten schloss Morus aus.12 Freilich blieb strittig, ob âUtopiaâ fĂŒr Morus eine Satire auf das damalige Europa war, oder ob es sich um die Vorstellung eines idealen Staates handelte.13
Francis Bacon (1561â1626) weitete durch die WiedereinfĂŒhrung des Begriffs im Sinne einer âeuthanasia exteriorâ den Bedeutungshorizont auf Ă€rztliche Handlungen am Lebensende aus und zĂ€hlte es zu den Pflichten eines Arztes, dem Sterbenden, auch aktiv, einen leichteren Gang aus dem Leben zu ermöglichen.14 Dementgegen beinhaltete im 19. und frĂŒhen 20. Jahrhundert die âeuthanasia medicaâ zunĂ€chst weitgehend die aufopfernde Ă€rztliche Sterbebegleitung, die es strikt ausschloss, das Leben vorzeitig zu verkĂŒrzen.
1.2 Eugenik und Rassenhygiene im 19. und 20. Jahrhundert
In diesem Sinne beschrieb das Brockhaus-Konversationslexikon 1902 Euthanasie noch als Todeslinderung und âdasjenige Verfahren, durch welches der Arzt den als unvermeidlich erkannten Tod fĂŒr den Sterbenden möglichst leicht und schmerzlos zu machenâ15 suche, indem er fĂŒr eine zweckmĂ€Ăige Lagerung, Linderung der Schmerzen oder Zufuhr von Frischluft sorge.
Ein grundlegender MentalitĂ€tswandel in Fragen der Euthanasie bahnte sich durch eine ZusammenfĂŒhrung von Ideen aus der aufkommenden Modedisziplin der Rassenhygiene16, des Sozialdarwinismus, der Medizin und der Naturwissenschaften an. Diese Verbindung kann als ideologisches Fundament fĂŒr die verwaltete Ermordung von Menschen mit âschlechter Erbmasseâ zum Schutze der âWertvollenâ angesehen werden. Alarmiert vom explosiven Wachstum des Proletariats im Zuge der industriellen Revolution, suchte die soziale wie intellektuelle Oberschicht nach Möglichkeiten, der empfundenen massenhaften Einbringung von minderwertigem Genmaterial in den Volkskörper gegen steuern zu können. Verband man diese Gedanken mit Charles Darwins zunĂ€chst fĂŒr die Fauna entwickelten Prinzip von âSelektion und Evolutionâ, konnte man zu dem Ergebnis kommen, dass auch unter den Menschen der Kampf der Gene, Schichten und Rassen stattfinde, in dem sich der StĂ€rkere auf Kosten des SchwĂ€cheren durchzusetzen habe.
In Deutschland zog Ernst Haeckel (1834â1919) daraus die Konsequenz, dass der Wert der höher entwickelten Menschen aus dem Vorhandensein bestimmter Eigenschaften abzuleiten sei, die ihn vom Tier abheben wĂŒrden. Ein menschliches Individuum, dem diese Eigenschaften fehlten, unterscheide damit auch nichts mehr vom Tier, und es könne als ein ebensolches behandelt werden. Auch in der Geschichte der Menschheit, so Haeckel, könne man den Prozess der Variation und Selektion nachweisen und als unumgehbar ansehen. Durch die neu entwickelten medizinischen Möglichkeiten werde aber in den natĂŒrlichen Selektionsprozess eingegriffen, und so könne sich auch, zum Schaden des Menschengeschlechts, schlechtes Erbgut weiterverbreiten. Als Vorbild beschrieb Haeckel die antiken Formen der Kindereuthanasie in Sparta, bei der alle schwĂ€chlichen und behinderten Kinder getötet wurden, damit nur gesunde und krĂ€ftige Spartaner ihr Erbgut weitergeben konnten.17 Auch Francis Galton (1822â1911) vertrat mit seiner Eugenik, die nicht nur in Europa auf reges Interesse stieĂ, die Auffassung, dass unzulĂ€ngliches biologisches Erbgut mittels konsequenter Eingriffe durch besseres ersetzt werden sollte. So könnten die angeborenen guten Eigenschaften einer Rasse vervollkommnet und die Verbreitung schlechteren Erbguts verhindert werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen diese Ideen eine unheilvolle Wirkung auf politische Eliten in Europa, speziell in Deutschland, zu entfalten.18 Als deutsches Pendant zur englischen Eugenik galten dabei die âGrundlinien einer Rassen-Hygieneâ von Alfred Ploetz (1860â1940).19 Ziel der Rassenhygiene, die sich in der Zwischenzeit zu einer eigenen Wissenschaft entwickelt hatte, war es, den Schutz der Schwachen einzuschrĂ€nken und damit den angeblich fortschreitenden genetischen Verfall der Menschheit aufzuhalten, um die Vervollkommnung einzelner Rassen zu erreichen. In der von Ploetz entworfenen Gesellschaftsutopie sollte die Zeugungsberechtigung nur herausragenden jungen Paaren (nicht vor dem 24. Lebensjahr) zugesprochen werden. Missgestalteten Kindern, Zwillingen oder Kindern zu alter Eltern sprach Ploetz das Recht auf Leben ab. Humane âGefĂŒhlsduseleien wie Pflege der Kranken, der Blinden, Taubstummen, ĂŒberhaupt aller Schwachen, hindern oder verzögern nur die Wirksamkeit der natĂŒrlichen Zuchtwahl. [...] Der Kampf umâs Dasein muss in seiner vollen SchĂ€rfe erhalten bleiben, wenn wir uns rasch vervollkommnen sollen, das bleibt sein [des Rassenhygienikers] Dictum.â20
Eine gĂ€ngige genetische Geschichtsdeutung anerkannter Wissenschaftler war dabei die Auffassung, dass einen dieser negativen EinflĂŒsse auf die Weiterentwicklung der Rasse die Katastrophe des Ersten Weltkrieges dargestellt habe. Wie in jedem Krieg seien die hochwertigen Erbanlagen im Kampf vernichtet und minderwertiges Erbgut in der Heimat verbreitet worden. Die Besten des Volkes seien auf den Schlachtfeldern gestorben, wĂ€hrend die wertlosen Schwachen und Kranken ĂŒberlebt hĂ€tten. Das Fortleben dieser nicht arbeits- und leistungsfĂ€higen âBallastexistenzenâ21, so die Darstellung, verhindere die Gesundung des Volksganzen und vergeude die Ressourcen der Gesellschaft.
Die Aufgabe der Rassenhygiene bestand nach Auskunft der Protagonisten nun darin, der âEntartungâ22 und âVerpöbelung der Rasseâ23 entschieden entgegenzuwirken, um Schlimmeres zu verhindern. Dabei wurde die Tötung behinderter Kinder damit begrĂŒndet, dass ihnen so eine leidvolle Existenz erspart bleibe. Ihr Erbgut werde nicht weiterverbreitet, und Angehörige und Gesellschaft wĂŒrden weder durch Mitleid noch durch wirtschaftliche Aufwendungen belastet. Zudem hĂ€tten Eltern die Möglichkeit, statt einem behinderten ein âbesser geratenesâ Kind aufzuziehen.24
Der ĂŒber die Grenzen Deutschlands hinaus bekannte ehemalige ReichsgerichtsprĂ€sident und Professor fĂŒr Strafrecht, Strafprozessrecht und Staatsrecht Karl Lorenz Binding (1841â1920) und Alfred Erich Hoche (1865â1943), Ordinarius fĂŒr Psychiatrie und Neurologie, markierten 1920 mit ihrem gemeinsamen Buch âDie Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebensâ einen traurigen Höhepunkt in der Vernichtungsideologie.25 Die Pflege der âleeren MenschenhĂŒlsenâ26 als eine Versorgung ânicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzenâ27 stehe im Widerspruch zur âOpferung des teuersten Gutes der Menschheitâ28, der Volksjugend auf dem ...