1 Neurologische Erkrankungen mit assoziierten kognitiven Defiziten
1.1 | SchÀdel-Hirn-Trauma |
1.2 | Schlaganfall |
1.3 | Tumoren des Gehirns und seiner HĂ€ute |
1.4 | EntzĂŒndliche Erkrankungen des Gehirns und seiner HĂ€ute |
1.5 | Multiple Sklerose |
1.6 | Hypoxische HirnschÀdigung |
1.7 | Morbus Parkinson |
Dieses Kapitel beschreibt die Pathophysiologie, hĂ€ufige funktionelle BeeintrĂ€chtigungen und den natĂŒrlichen Verlauf von neurologischen Störungen, die die meisten der Patienten betreffen, die mit kognitiven BeeintrĂ€chtigungen zur neuropsychologischen Diagnostik und Therapie kommen. Es werden SchĂ€del-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Tumoren, entzĂŒndliche Erkrankungen des Gehirns und seiner HĂ€ute, hypoxische SchĂ€digungen des Gehirns, Multiple Sklerose sowie die Parkinsonâsche Krankheit besprochen. Informationen zu anderen relevanten Erkrankungen (Epilepsien, Demenzen) finden sich in den entsprechenden störungsspezifischen Kapiteln.
Bei den meisten der besprochenen Erkrankungen bzw. SchĂ€digungen können zwei Phasen unterschieden werden, die zu der Hirnverletzung beitragen: die unmittelbare SchĂ€digung des Hirngewebes als direkte Folge der auf das Gehirn einwirkenden mechanischen KrĂ€fte oder entzĂŒndlichen Prozesse sowie sekundĂ€re SchĂ€digungen, die infolge metabolischer UnregelmĂ€Ăigkeiten oder aufgrund der ursprĂŒnglichen neuronalen Verletzungen auftreten.
Eine weitere, fĂŒr das VerstĂ€ndnis der kognitiven BeeintrĂ€chtigungen hilfreiche Unterscheidung betrifft die Verteilung des von der Verletzung betroffenen Hirngewebes. Man unterscheidet hier zwischen fokalen, multifokalen und diffusen Verletzungen (LĂ€sionen). Fokale LĂ€sionen sind örtlich begrenzt. Der Effekt einer fokalen LĂ€sion hĂ€ngt ab von der GröĂe, dem LĂ€sionsort und dem pathologischen Prozess, der zu der LĂ€sion gefĂŒhrt hat. So kann ein Tumor hĂ€ufig recht groĂ werden, bevor neurologische AusfĂ€lle zu beobachten sind, wĂ€hrend eine plötzlich auftretende LĂ€sion gleicher GröĂe aufgrund eines Schlaganfalls bereits zu starken und klinisch beobachtbaren AusfĂ€llen fĂŒhrt. Bei einem langsam wachsenden Tumor hat das Gehirn Zeit zur neuronalen Reorganisation und Kompensation. Fokale LĂ€sionen sind hĂ€ufig die Folge von zerebrovaskulĂ€ren Erkrankungen (Schlaganfall), Tumoren, Gehirnabszessen oder Schussverletzungen.
Multifokale LĂ€sionen liegen vor, wenn GewebsschĂ€digungen an mehr als einem umschriebenen Ort im Gehirn vorliegen. Schwere zerebrovaskulĂ€re Erkrankungen, die Multiple Sklerose und vor allem SchĂ€del-Hirn-Traumata sind hier als Ursachen zu nennen. Die funktionale Behinderung ist ĂŒblicherweise bei bilateralen LĂ€sionen gröĂer als bei unilateralen LĂ€sionen.
Memo
Man unterscheidet zwischen fokalen, multifokalen und diffusen Verletzungen des Gehirns. Fokale LĂ€sionen sind örtlich begrenzt. Die Folgen einer fokalen LĂ€sion sind abhĂ€ngig von der GröĂe, dem LĂ€sionsort und dem pathologischen Prozess, der zu der LĂ€sion gefĂŒhrt hat. HĂ€ufige Ursachen fokaler LĂ€sionen sind Tumore und zerebrovaskulĂ€re Erkrankungen (z. B. Schlaganfall).
Multifokale LÀsionen sind GewebsschÀdigungen an mehr als einer umschriebenen Stelle im Gehirn. Schwere zerebrovaskulÀre Erkrankungen und vor allem SchÀdel-Hirn-Traumata sind hier als Ursachen zu nennen.
Diffuse Hirnverletzungen sind durch weit verteilte Verletzungen von Gehirngewebe gekennzeichnet. SchĂ€del-Hirn-Traumata, Hypoxie und entzĂŒndliche bzw. metabolische Erkrankungen des Gehirns sind die hĂ€ufigsten Ursachen.
Diffuse Verletzungen sind durch weit verteilte Verletzungen von Gehirngewebe gekennzeichnet. Ursache sind hier vor allem SchĂ€del-Hirn-Traumata, die durch Akzelerations-Dezelerations-KrĂ€fte verursacht sind, Hypoxie (Sauerstoffmangel, z. B. infolge eines Herzstillstandes) sowie eine Reihe entzĂŒndlicher und metabolischer Erkrankungen des Gehirns. Die kognitiven Folgen bei diffusen Hirnverletzungen sind von der Dichte der Verletzungen und von den betroffenen Strukturen abhĂ€ngig.
1.1 SchÀdel-Hirn-Trauma
Epidemiologie
SchĂ€tzungen zufolge erleiden jĂ€hrlich ca. 200 000 bis 300 000 Menschen in Deutschland ein SchĂ€del-Hirn-Trauma (SHT). Möllmann (2006) berichtet in einer multizentrischen Studie in Norddeutschland von einer Inzidenz von 332 pro 100 000 Einwohner, wobei 90,9 % leichte, 3,9 % mittlere und 5,2 % schwere SHT aufwiesen. MĂ€nner waren in dieser Studie etwas hĂ€ufiger betroffen als Frauen (58,4 % vs. 41,6 %) und der Anteil von Personen unter 16 Jahren war mit 28 % ungewöhnlich hoch. Ăhnliche Daten werden von Tagliaferri et al. (2006) in einer Zusammenschau epidemiologischer Studien europĂ€ischer LĂ€nder aus den Jahren 1980 bis 2003 berichtet: Inzidenz 235/100 000, MortalitĂ€t 15/100 000, Schweregrad bei hospitalisierten Patienten 22:1,5:1 (leicht:mittel:schwer). Die hĂ€ufigsten Ursachen fĂŒr SHT sind VerkehrsunfĂ€lle, HaushaltsunfĂ€lle, StĂŒrze und Sportverletzungen. VerkehrsunfĂ€lle kommen dabei besonders hĂ€ufig in der Altersgruppe der 18-bis 30-JĂ€hrigen vor, wĂ€hrend bei Ă€lteren Patienten und Kindern StĂŒrze die vorherrschende Ursache darstellen.
Man unterscheidet zwischen einem penetrierenden (offenen) und einem gedeckten (geschlossenen) SHT. Beim offenen SHT ist die Dura mater zerrissen.
Hirnverletzungen nach SHT
Nach einem SHT können folgende Hirnverletzungen auftreten: SchĂ€delfraktur, intrakranielle HĂ€matome, Kontusionen (GehirnerschĂŒtterung, Gehirnprellung, Gehirnquetschung), andere fokale SchĂ€digungen, diffuses axonales Trauma.
SchĂ€delfrakturen werden nach ihrer Lokalisation, dem Typ (Biegungsfraktur, Berstungsfraktur) und der Form klassifiziert. Weiterhin wird zwischen offener und geschlossener Fraktur unterschieden. Generell entsteht beim Auftreten von SchĂ€delfrakturen ein erhöhtes Risiko fĂŒr intrakranielle Blutungen, das mit abnehmendem Glasgow Coma Scale Score ansteigt (GCS; s. u.).
Intrakranielle HĂ€matome. Man unterscheidet EpiduralhĂ€matome (zwischen SchĂ€delknochen und Dura gelegen), SubduralhĂ€matome (zwischen Dura und Arachnoidea/Spinnwebhaut gelegen) und Subarachnoidalblutungen (SAB; unter der Spinnwebhaut, d. h. im Liquorraum gelegen). EpiduralhĂ€matome treten bei 5 % bis 15 % der mittelschweren bis schweren SHT auf. Sie sind zumeist temporal lokalisiert und resultieren oft aus Blutungen aus der Arteria meningea media, die bei Frakturen der SchĂ€delkalotte einreiĂt. In bis zu 50 % der FĂ€lle nehmen EpiduralhĂ€matome wĂ€hrend des Krankheitsverlaufes an GröĂe zu.
SubduralhĂ€matome werden in der Regel durch das ZerreiĂen der BrĂŒckenvenen verursacht. Sie kommen bei 5 % bis 22 % der mittelschweren bis schweren SHT vor. Traumatische SAB treten bei bis zu 50 % der von einem schweren SHT betroffenen Patienten auf. Mittels Computertomographie (CT) werden vier Schweregrade unterschieden, wobei der schwerste Grad Einblutungen ins Ventrikelsystem umfasst. Bei ca. 30 % der Patienten mit traumatischer SAB kommt es zwischen dem 4. und 14. Tag nach dem SHT zum Auftreten eines Vasospasmus (plötzliche, krampfartige Verengung eines blutfĂŒhrenden GefĂ€Ăes). Ein Drittel dieser Patienten entwickelt dann auch eine zerebrale IschĂ€mie (s. u.).
Kontusionen. Prellungen des Gehirns und daraus resultierende Schwellungen finden sich bei 60 % bis 100 % der SHT-Patienten. Zumeist sind Kontusionsherde frontotemporal lokalisiert. Man unterscheidet zwischen coup und contre-coup, d. h. zwischen der LĂ€sion des Hirngewebes unmittelbar unter dem Aufprallort (coup) und der GewebeschĂ€digung an der dem Aufprallort gegenĂŒberliegenden Seite (contre-coup), die aus der Rebound-Bewegung des Gehirns im...