Dieses Buch, das sich binnen kurzem als wichtige psychoonkologische BasislektĂŒre etabliert hat, liegt nun in aktualisierter und erweiterter 3. Auflage vor. Aktuelle Trends und Perspektiven der Psychoonkologie sowie der Onkologie, Palliativmedizin und Neurobiologie werden unter einem explizit ressourcenorientiertem Blickwinkel praxisnah vorgestellt. FĂŒhrende Expertinnen und Experten der jeweiligen Fachgebiete geben innovative und kreative Impulse fĂŒr die tĂ€gliche Praxis und die eigene Psychohygiene."[...] das Buch bietet allen Berufsgruppen, die mit onkologischen Patienten arbeiten, wertvolle Anregungen fĂŒr die Therapie und fĂŒr die Auseinandersetzung mit der eigenen Grundhaltung." (Ingrid Barley, Deutsches Ărzteblatt 5/2010)
20 Psychoonkologische Beratung und Begleitung von PatientInnen mit tumorbedingter Fatigue
Susanne Ditz
20.1 Was bedeutet Fatigue?
Der Begriff »Fatigue« wurde aus dem französischen und englischen Sprachgebrauch ins Deutsche ĂŒbernommen. Eine Definition aus den USA von David F. Cella lautet: »Die Tumorerschöpfung, auch Fatigue genannt, bedeutet eine auĂerordentliche MĂŒdigkeit, mangelnde Energiereserven oder ein massiv erhöhtes RuhebedĂŒrfnis, das absolut unverhĂ€ltnismĂ€Ăig zu vorangegangenen AktivitĂ€tsĂ€nderungen ist« (Cella 1998).
Die Tumor-assoziierten Fatigue (Cancer-related fatigue (CrF)) ist nicht selten eine alles ĂŒberschattende, subjektive Erfahrung, die den gesamten Tagesablauf beeintrĂ€chtigen kann. Viele PatientInnen scheinen darunter mehr zu leiden als unter Schmerzen oder psychischen Begleiterscheinungen. Ihr chronischer Verlauf reduziert die LebensqualitĂ€t der Betroffenen erheblich, kann zu verminderter Therapietreue und zum Abbruch der Behandlung fĂŒhren.
Es werden drei Dimensionen der Tumor-assoziierten Fatigue (CrF) unterschieden: die physische, die emotionale und die kognitive MĂŒdigkeit. Dieser multisymptomatische Zustand der Erschöpfung tritt bei KrebspatientInnen hĂ€ufig in Zusammenhang mit oder nach systemischen Therapien auf sowie wĂ€hrend oder nach Bestrahlungen, kann aber auch im Krankheitsverlauf ohne diese entstehen. Die AusprĂ€gung der Tumor-assoziierten Fatigue (CrF) ist ebenso individuell wie ihre Dauer und abhĂ€ngig von der Ausgangssituation (körperlicher/mentaler Status), der psychischen Grundhaltung und der individuellen subjektiven Wahrnehmung.
20.2 PrÀvalenz
Die PrĂ€valenz von Fatigue wird in der Literatur sehr divergierend beschrieben und ist abhĂ€ngig vom Fatigue-Diagnoseinstrument, dem Erkrankungszeitpunkt und der TumorentitĂ€t (Alexander et al. 2009; Minton & Stone 2008; Whitehead 2009). Bei der Interpretation epidemiologischer Zahlen zur Tumor-assoziierten Fatigue (CrF) ist zu bedenken, dass CrF zwar durch eine charakteristische Gruppe von Symptomen gekennzeichnet ist, aber keine nosologische Einheit darstellt. In epidemiologischen Studien wird daher die HĂ€ufigkeit der CrF mit Hilfe von SelbsteinschĂ€tzungsfragebögen untersucht. Da allerdings sehr unterschiedliche Fragebögen eingesetzt werden und die Feststellung, ab welcher AusprĂ€gung die angegebenen Beschwerden als CrF betrachtet werden, nicht einheitlich sind, schwanken die Ergebnisse zur PrĂ€valenz zum Teil erheblich. In einer LĂ€ngsschnittuntersuchung einer reprĂ€sentativen Stichprobe in Deutschland zur CrF wiesen 32 % der KrebspatientInnen bereits bei stationĂ€rer Aufnahme, 40 % bei Entlassung und 36 % ein halbes Jahr darauf deutlich stĂ€rkere MĂŒdigkeits-und Erschöpfungssymptome auf als eine gesunde Vergleichsgruppe (gemessen mit MFI, Subskala »generelle Fatigue«) (Singer et al. 2011)
20.3 ErklÀrungsmodell
Es gibt kein einheitliches ErklĂ€rungsmodell ĂŒber die genauen Ursachen Tumor-assoziierter Fatigue. Alle ErklĂ€rungsmodelle zur Ursache und Entstehung von MĂŒdigkeits-und Erschöpfungssyndromen gehen von einem multifaktoriellen und multikausalen Geschehen aus (Piper et al. 1987). Bei der CrF können diese durch den Tumor bedingt oder Folge der Therapie sein, aber auch Ausdruck einer genetischen Disposition, begleitender somatischer oder psychischer Erkrankungen, wie auch verhaltens-oder umweltbedingter Faktoren. Damit ergibt sich eine breite Palette möglicher Ursachen und Einflussfaktoren somatischer, affektiver, kognitiver und psychosozialer Art, die zu der gemeinsamen Endstrecke Fatigue fĂŒhren.
Als zugrunde liegende pathophysiologische Faktoren werden diskutiert:
⹠Störungen der zirkadianen Melatoninsekretion und des Schlaf-Wach-Rhythmus
âą Dysregulation inflammatorischer Zytokine
⹠VerÀnderungen im serotoninergen System des ZNS
⹠Störung hypothalamischer Regelkreise
âą Genpolymorphismen fĂŒr Regulationsproteine der oxidativen Phosphorylierung der Signaltransduktion in B-Zellen, der Expression proinflammatorischer Zytokine und des Katecholaminstoffwechsels (Horneber et al. 2012).
20.4 Symptome und Erfassung
Fatigue kann als Sammelbegriff verstanden werden, der eine Vielfalt von MĂŒdigkeitsmanifestationen umfasst, welche sich in ĂŒberwiegend physische, aber auch in affektive und kognitive Sensationen klassifizieren lassen (
Tab. 20.1). Entsprechend der Leitlinie des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) sollte im Rahmen der onkologischen Betreuung Symptome der Erschöpfung oder MĂŒdigkeit bei allen Tumorpatientinnen gezielt exploriert werden. Dabei sollte beachtet werden, dass die subjektiv geĂ€uĂerten Beschwerden hĂ€ufig nicht objektivierbar sind; wenn doch, erreichen sie selten den von PatientInnen geĂ€uĂerten subjektiven Schweregrad. ErgĂ€nzend zur Objektivierung kann das FĂŒhren eines Symptomtagebuchs empfohlen werden. Als Screeninginstrumente lassen sich eine lineare Analogskala (LASA-Skala Bereich 0â10) oder dafĂŒr geeignete diagnostische Fragebögen einsetzen (Minton & Stone 2009). Die zentrale Rolle in der diagnostischen Vorgehensweise nimmt das anamnestische GesprĂ€ch ein. In diesem sollte genau die Art, AusprĂ€gung und der zeitliche Verlauf der Beschwerden erfragt werden und auf mögliche ZusammenhĂ€nge mit vegetativen Funktionen geachtet werden wie:
Tab. 20.1: Drei Dimensionen der Tumor-assoziierten Fatigue: Anzeichen und typische Symptome
20.4.1 Kriterien klinischer Diagnostik von Fatigue
Fatigue bei KrebspatientInnen wird oft nicht erkannt oder zu wenig beachtet. Von der American Fatigue Coalition wurde ein Symptomkatalog veröffentlicht mit dem Ziel, die Erfassung von Fatigue zu vereinheitlichen. Zur Feststellung einer Tumor-assoziierten Fatigue kann dieser Kriterienkatalog wie folgt herangezogen werden: Sechs (oder mehr) der 11 in Kasten 1 aufgefĂŒhrten Symptome bestanden tĂ€glich bzw. fast tĂ€glich wĂ€hrend einer Zwei-Wochen-Periode im vergangenen Monat, und mindestens eines der Symptome ist deutliche MĂŒdigkeit (A1). Wenn sechs der aufgefĂŒhrten Symptome vorliegen, gilt ein Fatigue-Syndrom als gesichert. Dabei mĂŒssen die Kriterien B, C und D vom behandelnden Arzt beurteilt werden.
Kasten 1: Diagnosekriterien Fatigue (Fatigue Coalition USA)
A1. Deutliche MĂŒdigkeit, Energieverlust oder verstĂ€rktes RuhebedĂŒrfnis, welches in keinem VerhĂ€ltnis zu aktuellen VerĂ€nderungen des AktivitĂ€tsniveaus steht.
A2. Beschwerden allgemeiner SchwÀche oder schwere Glieder.
A3. Verminderte FĂ€higkeit zu Konzentration und Aufmerksamkeit.
A4. Verringerte(s) Motivation oder Interesse an AlltagsaktivitÀten.
A5. Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf.
A6. Schlaf wird nicht als erholsam und regenerierend erlebt.
A7. Notwendigkeit starker Anstrengung, um InaktivitĂ€t zu ĂŒberwinden.
A8. Deutliche emotionale Reaktionen auf Fatigue-Problematik (z. B. Traurigkeit, Frustration oder Reizbarkeit).
A9. Durch MĂŒdigkeit bedingte Schwierigkeiten, alltĂ€gliche Aufgaben zu erledigen.
A10. Probleme mit dem KurzzeitgedÀchtnis.
A11. Mehrere Stunden anhaltendes Unwohlsein nach Anstrengung.
B. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder BeeintrÀchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
C. Aus Anamnese, körperlichen Untersuchungen oder Laborbefunden geht eindeutig hervor, dass die Symptome Konsequenzen einer Tumorerkrankung oder ihrer Behandlungen sind.
D. Die Symptome sind nicht primÀr Konsequenzen einer komorbiden psychischen Störung, wie Major Depression, somatoforme Störung oder Delir.
20.4.2 Ursachen und differentialdiagnostische AbklÀrung
GrundsĂ€tzlich mĂŒssen sich ĂrztIn und PatientIn darĂŒber im Klaren sein, dass es nicht immer gelingt, der MĂŒdigkeit eine greifbare Ursache zuzuordnen. Bei der differentialdiagnostischen AbklĂ€rung mĂŒssen somatische Erkrankungen von Leber, Niere, Endokrinum und Knochenmark ebenso ausgeschlossen werden wie mit der Krebserkrankung zusammenhĂ€ngende Ursachen (Schmerz, MangelernĂ€hrung, Elektrolytstörungen etc.;
Kasten 2). Die Erfahrung im Umgang mit CrF-Patienten zeigt, dass bei vielen keine eindeutige psychosoziale oder somatische Ursache identifiziert werden kann. Dies darf aber nicht dazu fĂŒhren, dass die Beschwerden von Ărzten und Therapeuten als nicht »legitim« abgetan werden. Vielmehr ist es gerade in diesen Situationen wichtig, die Symptome und Belastungen ernst zu nehmen und GesprĂ€chs-und Handlungsbereitschaft zu signalisieren.
⹠Mangel an körperlichem Training (Muskelabbau)
âą Immobilisation (z. B. schmerzbedingt)
20.4.3 Fatigue und/oder Depression erkennen
Neben Angst stellt Depression die hĂ€ufigste seelische Begleiterkrankung bei malignen Tumorleiden dar. Aus therapeutischer Sicht erscheint es notwendig, bei Patienten mit einer MĂŒdigkeitssymptomatik zu unterscheiden, welcher Anteil daran auf eine primĂ€re Tumorfatigue zurĂŒckgeht, inwieweit sich eine depressive Entwicklung dahinter verbirgt oder ob beide Aspekte zusammenwirken. Die differentialdiagnostische Abgrenzung von der Depression und/oder der depressiven Krankheitsverarbeitung fĂ€llt hĂ€ufig schwer. Der Ăbergang ist eher flieĂend, da nahezu jedes Merkmal des chronischen Fatigue-Syndroms auch bei der Depression wiederzufinden ist. Die TumorentitĂ€t und die Art der Behandlung können Anhaltspunkte geben. Es wurde festgestellt, dass Fatigue bei Patienten mit depressiver Stimmungslage hĂ€ufiger und mit groĂer IntensitĂ€t auftritt, aber auch, dass Fatigue eine Depression induzieren und verstĂ€rken kann. Eine klare Unterscheidung zwischen Depression und Fatigue wird somit nicht immer vollstĂ€ndig gelingen. Hinweise geben die Vorgeschichte des Patienten, inwieweit es bereits frĂŒher Episoden einer depressiven Verstimmung gegeben hat oder ob das MĂŒdigkeitsgeschehen erstmalig im Kontext der Tumorerkrankung aufgetreten ist und einer depressiven Verstimmung vorausging. Dann sprĂ€che fĂŒr ein depressives Geschehen, wenn die Antriebsminderung stark ausgeprĂ€gt ist und andererseits auffĂ€llige Tendenz zur Selbstentwertung mit Suizidgedanken vorliegt. Ăberwiegend körperlich empfundene Erschöpfung und SchwĂ€che trotz ausreichenden Schlafes sind eher charakteristisch fĂŒr das Fatigue-Syndrom. Das Vorliegen von Depressionen in der Anamnese, betonte Antriebsminderung, fehlende Motivation, Schlaflosigkei...
Table des matiĂšres
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhalt
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
I EinfĂŒhrung
II Trends, Konzepte und Perspektiven in der Onkologie
III Ressourcenorientierte Konzepte fĂŒr die Psychoonkologie
IV Psyche ermutigen
V Körper ermutigen
Stichwortverzeichnis
Normes de citation pour Ressourcenorientierte Psychoonkologie
APA 6 Citation
[author missing]. (2016). Ressourcenorientierte Psychoonkologie (3rd ed.). Kohlhammer. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1075261/ressourcenorientierte-psychoonkologie-psyche-und-krper-ermutigen-pdf (Original work published 2016)