1 Die Grundlagen von Personal Kanban
Als Mensch des 21. Jahrhunderts kennen Sie sicher Folgendes:
Ihr Chef möchte, dass Sie den Bericht fertig schreiben.
Ihr Steuerberater möchte, dass Sie die Steuer einreichen.
Ihre Freunde wollen Sie in Ihrer Freizeit sehen.
Ihr Garten verlangt nach Pflege.
Ihre Tochter möchte, dass Sie bei Ihrer AuffĂŒhrung dabei sind.
Ihr Vater möchte, dass Sie Ihre Mutter anrufen.
Schon seit zwei Wochen.
Ihr Badezimmer benötigt neue Dichtungen fĂŒr die Badewanne.
Ihr Ehepartner möchte, dass Sie Zeit mit ihm verbringen.
Sie werden von endlosen Verpflichtungen ĂŒberrannt. Aufgrund der vielen AnsprĂŒche, die an Sie gestellt werden, können Sie sich nicht mehr erinnern, ob Sie gefrĂŒhstĂŒckt haben. Und manchmal wissen Sie nicht, wie Sie die Energie aufbringen sollen, um die kommenden zwei Stunden zu ĂŒberleben.
Geht das nicht besser?
Im Moment sind all Ihre Verpflichtungen noch PlÀne. Es ist schwer, sie zu priorisieren und einzuschÀtzen. Sie benötigen einen Weg, um zu erkennen, welche Aufgaben konkret von Ihnen erwartet werden, damit Sie das Richtige zur richtigen Zeit tun und damit Klarheit in das Chaos gebracht wird. Personal Kanban stellt die Arbeit visuell dar und macht damit Ideen greifbar. Es zeigt, was noch getan werden muss, was bereits fertig ist, was spÀt dran ist und was gerade jetzt passiert.
Es gibt ein Prinzip aus dem Kampfsport, das unter dem Namen Shu Ha Ri bekannt ist. Es stellt den Lernzyklus dar, der mit dem Erlernen der Grundlagen beginnt. Danach hinterfragt man das Gelernte und findet schlussendlich seinen eigenen Weg. Es ist nicht unĂŒblich, dass jemand ein Buch wie dieses liest und daraus die Erkenntnis erwartet, was er machen soll und wie, ohne jemals zu verstehen, warum ĂŒberhaupt. Viele wollen einfach mit schnellen Schritten zu einem leichten Leben. Aber das Leben ist anders. Es ist verĂ€nderlich. Egal, ob wir damit rechnen oder nicht, es Ă€ndert sich stĂ€ndig. Unsere Methoden mĂŒssen flexibel sein, um sich diesen Ănderungen anzupassen. Daher beschreiben wir in diesem Buch nicht nur die Grundlagen von Personal Kanban, sondern auch die Prinzipien dahinter. Wir möchten, dass Sie das Warum verstehen, und nicht nur das Wie. Danach können Sie herausfinden, wie die Personal-Kanban-Praktiken in Ihr Leben passen.
1.1 Auf dem Weg zu einem individuellen Kanban
Ich habe vor mehr als zehn Jahren damit begonnen, mir darĂŒber Gedanken zu machen, wie man anstehende Arbeit veranschaulichen kann, um mich und mein Team zu verbessern. Zwischen 2000 und 2008 fĂŒhrte ich zusammen mit meinem Partner William Rowden eine Softwareentwicklungsfirma namens Gray Hill Solutions. Gray Hill produzierte Software fĂŒr Regierungsstellen, bei der Zusammenarbeit im Vordergrund stand, vor allem im Bereich intelligenter Transport-systeme. Damals experimentierte ich zum ersten Mal mit verschiedenen Mitteln zur Darstellung von Arbeit: To-do-Listen, Mindmaps und Concept-Maps. Alle halfen unserem Team zu einem gewissen Grad, die Arbeit zu verdeutlichen, aber alle hatten auch Nachteile. Sie wurden schnell unĂŒbersichtlich, zeigten nicht, was dringlich war, und waren verwirrend, wenn zwei Teams ad hoc an einer Sache arbeiten wollten.
Von allem, was wir bei Gray Hill ausprobierten, schienen To-do-Listen auf raumhohen Whiteboards am schlechtesten zu funktionieren. Sie erdrĂŒckten und entmutigten uns, anstatt uns zu motivieren. Im Grunde zeigten sie uns nur, wie viel Arbeit wir noch vor uns hatten. Zuerst dachten wir, dass nur das Medium eine schlechte Wahl war, und probierten Datenbanken, Managementsysteme und sogar Microsoft Outlook aus. Aber die Ergebnisse waren immer die gleichen: Die Listen zeigten uns keinen Kontext, lieĂen sich nicht vernĂŒnftig umgestalten oder umpriorisieren und versteckten vorrangige Arbeit zwischen vielen Aufgaben, die nur geringen Nutzen brachten.
Was wir brauchten, war ein dynamisches System, das uns beim Priorisieren half und uns zeigte, woran wir gerade arbeiteten. Also probierten wir eine gemeinsame Mindmap fĂŒr mehrere groĂe Projekte aus, die wir gleichzeitig betreuten. WĂ€hrend unserer tĂ€glichen 15-minĂŒtigen Standups1 gelang es uns, jeweils die anstehenden Aufgaben aller Projekte zu verwalten, daraus Aufgaben zur Bearbeitung zu ziehen und nicht alles gleichzeitig anzufangen.
Die Mindmap beeinflusste die Mitarbeiter von Gray Hill positiv. Zum ersten Mal hatte unser geografisch verteiltes Team einen stĂ€ndigen und ziemlich umfassenden Ăberblick der Geschehnisse. Zwar stellte die Mindmap eine starke Verbesserung gegenĂŒber den To-do-Listen dar, sie war jedoch noch nicht perfekt geeignet. Sie half uns nicht beim AbschlieĂen der Aufgaben oder zur Unterscheidung von Aufgaben, die von verschiedenen Leuten bearbeitet wurden. Das gröĂte Manko der Mindmap bestand aber darin, dass die ĂŒbermittelte Information nicht klar ersichtlich war. Mit SchriftgröĂe 8 auf winzigen Zweigen war die aktuelle Situation nicht auf einen Blick zu erfassen. Zum Verwalten des Projekts war die Mindmap nicht schlecht, sie war aber noch nicht der Informationsverteiler, den wir suchten.
Springen wir ins Jahr 2008. Corey Ladas, David Anderson und ich haben Modus Cooperandi gegrĂŒndet. In der Firma dreht sich alles um kollaboratives Management. Zu dieser Zeit haben wir alle bereits Kanban-basierte Managementsysteme fĂŒr die Softwareentwicklung genutzt: David und Corey sowohl bei Microsoft als auch bei Corbis und ich bei Gray Hill2. Wir schrieben die aktuellen Arbeiten unseres Entwicklungsteams auf Haftnotizen, die einen Wertstrom entlang wanderten â eine grafische Darstellung der Schritte im Softwareentwicklungsprozess. Das System war sowohl einfach als auch effektiv.
Mit Kanban konnten wir unsere Softwareentwicklung viel besser organisieren als mit allem, was wir vorher genutzt hatten. Der Fokus auf Teamarbeit erhöhte die ProduktivitĂ€t und EffektivitĂ€t enorm. Aber wir ĂŒbersahen ein wichtiges Element â die einzelnen Teammitglieder. Wir verstanden immer noch nicht, wie die Prozesse unsere Arbeit beeinflussten.
Bei Modus steckten Corey und ich unsere Köpfe zusammen und erstellten ein Personal Kanban, um die Arbeit des Teams darzustellen und zu verwalten. Unser Board war speziell als Informationsverteiler entworfen: Wir wollten den Fluss unserer Arbeit zeigen (sogar aus der Ferne), nicht zu viel gleichzeitig machen und alle Aufgaben erfassen, nicht nur diejenigen, die direkt mit der Softwareentwicklung zusammenhingen.
Wir achteten sehr auf die einzelnen Bestandteile des Boards. In unseren wöchent-lichen Retrospektiven diskutierten wir, was funktionierte und was nicht wie erwartet lief. Wir experimentierten mit verschiedenen Aufbauten, um herauszufinden, wie dieses neue Werkzeug am meisten fĂŒr den Einzelnen brachte und wann es die besten Ergebnisse fĂŒr das Team lieferte.
Eins war sicher: Vor unserem Board erlebten wir die stĂ€rkste Fokussierung, Enthusiasmus und die beste Zusammenarbeit. Zum ersten Mal konnten wir unsere Arbeit darstellen und sie beeinflussen â da wir die ZusammenhĂ€nge und Kontexte erkennen konnten. Neben der PrĂŒfung unserer ProduktivitĂ€t unterstĂŒtzte unser Board umfassende, enthusiastische und aufschlussreiche Diskussionen. Es brachte uns viel weiter als unsere tĂ€glichen Ziele und zeigte uns neue Möglichkeiten auf.
Einige grundlegende Annahmen der Lean-Manufactoring-Modelle bildeten unsere Basis3. Wir stellten Arbeit bildlich dar, begrenzten unseren Work in Progress (WIP, dt.: angefangene Arbeit), verschoben Entscheidungen auf den letzten verantwortbaren Termin und kĂŒmmerten uns stĂ€ndig um Verbesserungen. Wir erfuhren, dass der SchlĂŒssel zur Kontrolle unserer Arbeit das VerstĂ€ndnis ĂŒber sie ist.
In einem Fertigungsbetrieb stellt Kanban fĂŒr Organisationen dar, auf welche Weise Wert geschaffen wird. Normalerweise geschieht das, um Verschwendung zu vermeiden und eine Standardisierung zu erreichen. FĂŒr Unternehmen, in denen Wissensarbeit vorherrscht, ist es schwierig, an dieser Regel festzuhalten. Wissensarbeit kĂ€mpft verbittert gegen Standardisierung4.
Es bedurfte einer weiteren VerĂ€nderung und verschiedener Einsichten, um diese HĂŒrden zu ĂŒberwinden.
Mitte 2009 nahm sich Corey ein Sabbatjahr. Etwa zur gleichen Zeit wurde mir eine langfristige BeschĂ€ftigung in Washington D.C. angeboten. David hatte Modus schon 2008 verlassen, um seine eigene Firma zu grĂŒnden. Es schien also sinnvoll zu sein, das BĂŒro aufzulösen, das nach zehn Jahren und zwei Firmen mit Akten, Möbeln und Arbeitsprodukten vollgestopft war.
Plötzlich war ich dazu gezwungen, mich um den Verkauf zu kĂŒmmern, mich mit Versicherungen, Telefon- und Internetanbietern auseinanderzusetzen und BĂŒromöbel zu verkaufen sowie eine Bleibe in Washington zu finden. Das Zeitfenster fĂŒr diese Logistik betrug nur wenige Wochen und es gab immer noch einige KundenwĂŒnsche zu erfĂŒllen. Mein Privatleben machte ebenfalls keine Pause. Ich zog von einem Ende des Landes zum anderen und war immer noch fĂŒr zwei Immobilien im Bundesstaat Washington verantwortlich.
Sogar mit der Hilfe einiger guter Freunde sah ich mich mehr Verpflichtungen gegenĂŒber, als ich erfĂŒllen konnte. Die AnsprĂŒche der verschiedenen Firmen, Kunden, Projekte ...