Briefwechsel von und mit Richard Dedekind wurden schon veröffentlicht, aber keiner dieser Briefwechsel ist so besonders wie der hier vorliegende. Der Briefwechsel zwischen Richard Dedekind und Heinrich Weber legt, obwohl nur ein kleiner Teil des rund 40 Jahre andauernden Austausches erhalten ist, ein beredtes Zeugnis von einer Verbindung zwischen diesen beiden MĂ€nnern, die besonders genannt werden kann, ab. Beide fanden zu einer tiefen Vertrautheit und einem freundschaftlichen Umgang miteinander, obwohl sie mehr trennte als verband: Dedekind, kinderlos und unverheiratet, scheu und fast penibel; Weber dagegen mit Frau und Kindern, immer ein bisschen ungestĂŒm und energisch.
Aber nicht nur die Entwicklung dieser prĂ€genden Freundschaft lĂ€sst sich in den Briefen dieses Briefwechsels nachvollziehen, es wird auch ein tiefer Einblick in die wissenschaftliche Entwicklung und Arbeitsweise der beiden groĂen Gelehrten gewĂ€hrt. Im Literaturverzeichnis zu den Briefen (Anhang D) findet sich eine Ăbersicht der wissenschaftlichen Schriften, die in den Briefen von Richard Dedekind und Heinrich Weber angesprochen werden. Seien es Schriften von ihnen selbst, die sie einander zur Beurteilung vorlegten oder deren Entstehung sie begleiteten; seien es Schriften anderer, die sie zur Hilfe heranzogen oder die sie kritisch besprachen. Alle diese Schriften wurden soweit möglich identifiziert und diesem Verzeichnis hinzugefĂŒgt. Dieses eigene Literaturverzeichnis ermöglicht einen ersten durchaus tiefen Eindruck vom Umfang und den Themenbereichen der wissenschaftlichen Diskussionen und des Austauschs zwischen Richard Dedekind und Heinrich Weber. Obwohl nicht alle im Verzeichnis enthalten Schriften von Dedekind und Weber wirklich zur GĂ€nze diskutiert wurden - manche fanden nur am Rande ErwĂ€hnung - sind doch die Anzahl der Schriften und die breite Palette der Themen erstaunlich. Ăber 150 Schriften zu vielen Bereichen der Mathematik finden sich in den nur rund 160 erhaltenen Briefen aus 18 Jahren.
1.1 Historisches
Das 19. Jahrhundert war nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich ein Jahrhundert der Erneuerung und des Wandels. Die Mathematik erlebte im 18. Jahrhundert einen enormen Aufschwung und setzte ihren Siegeszug im 19. Jahrhundert fort. Wie Dieudonné schrieb:
âIm achtzehnten Jahrhundert war es die Analysis, welche die beherrschende Stellung einnahm; sie faĂte die spektakulĂ€ren Ergebnisse zusammen, die sie in ihren Anwendungen auf Geometrie, Mechanik, Astronomie und Wahrscheinlichkeitsrechnung erzielt hatte. Nach einer Pause, die etwa von 1780 bis 1810 dauerte, nahm sie auf allen Gebieten ihren Siegeszug wieder auf, mit der wunderbaren Entwicklung der Theorie der analytischen Funktionen einer komplexen VerĂ€nderlichen sowie mit der Entdeckung und der Untersuchung der elliptischen Funktionen, der Abelschen Funktionen, der Modulfunktionen und der automorphen Funktionen, sicherlich dem erstaunlichsten Kapitel ihrer Geschichte; man kann ohne Ăbertreibung sagen, diese Theorie bildete geradezu das KernstĂŒck der Mathematik des neunzehnten Jahrhunderts. Durch ihre mannigfachen Verzweigungen hĂ€ngt die Theorie der elliptischen Funktionen und der Modulfunktionen tatsĂ€chlich sowohl mit dem damaligen Wiederaufleben der Algebra, insbesondere der Entwicklung der Gruppentheorie nach allen Richtungen, als auch mit dem groĂartigen AufblĂŒhen der Theorie der algebraischen Zahlen, das mit GauĂ beginnt, zusammen, von der sie sich nicht mehr trennen lĂ€Ăt und der sie die tiefliegendsten Probleme lieferte. DemgegenĂŒber sind es die Probleme der Abelschen Funktionen, die, mit Riemann, zur Entstehung der modernen algebraischen Geometrie und der zeitgenössischen Topologie fĂŒhrten.â
Diese stĂŒrmischen Entwicklungen in der Mathematik hatten auch Auswirkungen auf den mathematischen Unterricht an den deutschen UniversitĂ€ten. Die philosophischen FakultĂ€ten, denen die Mathematik angegliedert war, sahen sich steigenden AnsprĂŒchen bei der Ausbildung mathematischer LehrkrĂ€fte gegenĂŒber. Die mathematischen Studien dienten nicht mehr nur der Vorbereitung auf ein âhöheresâ Studium an den FakultĂ€ten der Theologie, des Rechts oder der Medizin, sie wurden mehr und mehr zum Selbstzweck betrieben.
Als 1831 die erste preuĂische PrĂŒfungsordnung in Kraft trat, waren die deutschen UniversitĂ€ten noch nicht auf die BedĂŒrfnisse fĂŒr ein Studium der Mathematik oder des höheren mathematischen Lehramtes ausgelegt. Es fehlte an geeigneten Dozenten und Regularien. Das Angebot an und der Inhalt in den Vorlesungen waren vor allem geprĂ€gt von den Vorlieben und Vorstellungen des Dozenten. Ein festgelegter Lehrplan von den Elementen zur Höheren Mathematik oder gar eine didaktische Ausbildung waren meist nicht vorhanden. Die Studenten waren auf Privatissima, fĂŒr die den meisten Studenten aber oft das Geld fehlte, oder auf autodidaktische Studien angewiesen. Dies Ă€nderte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
An vielen deutschen UniversitĂ€ten, so zum Beispiel in Berlin, Heidelberg und Königsberg, fanden sich Professoren, die fĂŒr eine Neuorganisation des Lehrbetriebes eintraten. So versuchte schon zu Beginn der 1830er Jahre Crelle, der zusammen mit Dirichlet einer Kommission zur Beratung eines mathematischen Lehrplans in Berlin angehörte, die GrĂŒndung eines mathematischen Seminars nach Vorbild der französischen Ăcole normale zu erreichen. Crelles Vorhaben scheiterte. Ein weiterer Versuch zur GrĂŒndung solch eines Seminars einige Jahre spĂ€ter, diesmal initiiert von Schellbach , ging in den Wirren des Jahres 1848 unter.
Erfolgreicher waren diesbezĂŒgliche Anstrengungen an der UniversitĂ€t Königsberg. Nachdem Jacobi 1827 gegen einigen Widerstand seitens der dortigen FakultĂ€t nach Königsberg berufen worden war, etablierte sich in Königsberg nach und nach ein neuer Vorlesungsstil.
Jacobi fĂŒhrte die Studenten in die neuesten mathematischen Forschungen ein und las ĂŒber aktuelle Themen. Er grĂŒndete gemeinsam mit seinem Kollegen Franz Neumann das Königsberger Mathematisch-Physikalische Seminar. Mit der Hilfe und UnterstĂŒtzung von Neumann, seinem ersten SchĂŒler Richelot und seinem Mitarbeiter Otto Hesse schuf Jacobi in den folgenden Jahren einen modernen, neuhumanistisch geprĂ€gten Lehrbetrieb, die sogenannte Königsberger Schule.
Die Ideen dieser Schule fanden in den folgenden Jahren durch die SchĂŒler Jacobis und Neumanns ihren Weg auch an andere deutsche UniversitĂ€ten. So wirkten in Gestalt von Kirchhoff, Schwiegersohn Richelots und SchĂŒler von Franz Neumann, und Hesse zwei glĂŒhende AnhĂ€nger der Ideen Jacobis in Heidelberg, als Heinrich Weber sich dort immatrikulierte. Ein systematisches Studium der Mathematik oder ein mathematisches Seminar im Sinne Jacobis gab es allerdings zu Webers Studienzeiten in Heidelberg noch nicht. Die Wahl der Vorlesungen und Studienschwerpunkte war eher geprĂ€gt durch persönliche Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch zu sehen, dass Heinrich Weber nach erfolgter Promotion fĂŒr weitere Studien nach Königsberg wechselte, wo, wie er selbst sagte, auĂer Richelot und Neumann niemand fĂŒr ihn von besonderem Interesse sei. Dementsprechend besuchte er Vorlesungen bei Neumann und bei Richelot, der seinen Studenten die Ideen Riemanns nahe zu bringen versuchte.
Ganz anders war die Situation in Göttingen, wo Stern, Ulrich, Listing und Wilhelm Weber wirkten. Schon 1850 war dort auf Antrag Sterns ein mathematischphysikalisches Seminar gegrĂŒndet worden, dessen Zielsetzung die Verbesserung der Ausbildung der Lehrer fĂŒr höhere Schulen war. Als einer der ersten SchĂŒler des neugegrĂŒndeten Seminars fand sich der nach zweijĂ€hrigem Studium am Braunschweigischen Collegium Carolinum soeben nach Göttingen gewechselte Richard Dedekind. Zwei Semester spĂ€ter trat auch Riemann dem Seminar bei.
Dedekind hörte in Göttingen Vorlesungen von Stern, Wilhelm Weber, GauĂ und Dirichlet, der als Nachfolger von GauĂ berufen worden war. Nach erfolgter Promotion nahm er an einzelnen Vorlesungen seines spĂ€teren engen Freundes und Nachfolgers von Dirichlet, Bernhard Riemann, teil. Er besuchte Riemanns Vorlesungen ĂŒber abelsche, sowie ĂŒber elliptische Funktionen...