I
Im Jahre 1952 erschien Paul Tillichs kleine Schrift The Courage to Be. Sie machte den 1933 aus Deutschland emigrierten Theologen zu einem der meistgelesenen und bekanntesten religiösen Denker in den Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem Rundschreiben aus dem Jahre 1953 klagt der gefragte Redner seinen deutschen Freunden, er komme aufgrund âeine[r] unendliche [n] FĂŒlle von Aufgaben, die an mich herankamen, nachdem ich besonders durch mein letztes Buch âThe Courage to Beâ in America sehr bekannt geworden binâ, nicht zum Beantworten ihrer Briefe. Einladungen zu zahlreichen bedeutenden Vorlesungen wie den Gifford Lectures in Aberdeen u. a. waren die Folge. In den 1950er Jahren befand sich Tillich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs in Nordamerika. Als einer der wenigen Theologen zierte er am 16. MĂ€rz 1959 das Cover des Time Magazin, und 1955 ernannte man ihn zum University Professor an der Harvard University in Cambridge, eine der höchsten akademischen Ehren in den USA. Seine eindringliche Analyse des âage of anxietyâ, sein Vorschlag einer âtheology of despairâ wurde zu einem Bestseller und gehörte zur PflichtlektĂŒre an amerikanischen UniversitĂ€ten. Eine deutsche Ăbersetzung von Gertie Siemsen erschien bereits im Jahre 1953 unter dem Titel Der Mut zum Sein, und schlieĂlich wurde die Schrift in den 1969 erschienenen Band 11 der Gesammelten Werke Paul Tillichs in einer Neubearbeitung der Ăbersetzung durch Ingeborg C. Henel aufgenommen.
Dem erfolgreichen Buch Tillichs liegen seine vier Dwight Harringthon Terry Foundation Lectures on Religion in the Light of Science and Philosophy zugrunde, welche er vom 30. Oktober bis zum 2. November 1950 an der Yale University in New Haven gehalten hat. Die renommierten Terry-Lectures verdanken sich einer 1905 erfolgten Stiftung von Dwight H. Terry, wurden aber erst seit 1923 jĂ€hrlich abgehalten. Ihr Anliegen ist es, religiöse Probleme im Horizont von Science und Philosophie zu thematisieren. Namhafte Intellektuelle, wie Erich Fromm, der 1949 ĂŒber Psychoanalyses and Religion sprach, oder Charles Hartshorn, wurden als Referenten fĂŒr die Vorlesungsreihe eingeladen. Tillich hielt die 27. Terry-Lecture. In einem Rundbrief vom 14. MĂ€rz 1950 berichtet er seinen deutschen Freunden, er sei âim Januar aufgefordert worden, im Herbst eine Foundation-Lectureship zu ĂŒbernehmen, die sogenannten Terry-Lectures in Yale University, eine Aufforderung, die niemand ausschlagen kann. Das schlieĂt ein die druckfertige Vorbereitung eines kleinen Buches, das unter weitester und schĂ€rfster Kritik stehen wird.â Die EntwĂŒrfe zu den vier Vorlesungen der Vortragsreihe vom Herbst 1950 sind im Paul-Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School, aufbewahrt. Sie tragen folgende Ăberschriften: 1. Being and Courage, 2. The Courage to Be a Part, 3. The Courage to Be Oneself und 4. The Courage to Accept Acceptance. Diese VortrĂ€ge hat Tillich in den sechs Kapiteln der Schrift The Courage to Be aufgenommen, die 1952 in dem Verlag Yale University Press in New Haven und London erschien.
Mit dem VerhĂ€ltnis von Gewissheit und Zweifel, dem Glauben als Mut zum Sein sowie der Rede von einem âGott ĂŒber Gottâ greift die zeitdiagnostisch angelegte Schrift Themen und Motive auf, welche sich im gesamten Werk des prominenten Theologen finden. Werkgeschichtlich betrachtet gehört Der Mut zum Sein in die spĂ€te Schaffensphase Tillichs. 1951 erschien der ersten Band der Systematic Theology. Der gedankliche Gehalt der Themen, welche die Schrift von 1952 in der Beschreibung des Glaubens als Mut verdichtet, der die Bedrohung durch das Nichtsein in sich aufnimmt, erschlieĂt sich allererst vor dem Hintergrund der denkerischen Entwicklung des deutsch-amerikanischen Theologen.
II
Paul Tillich, 1886 in Starzeddel bei Guben geboren und 1965 in Chicago gestorben, studierte von 1904 bis 1908 Theologie in Berlin, TĂŒbingen, Halle und nochmals Berlin. Von entscheidender Bedeutung fĂŒr seinen weiteren Bildungsgang war sein viersemestriges Studium an der Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Halle von 1905 bis 1907. Hier wurde er durch den Privatdozenten der Philosophie und Fichte-Forscher Fritz Medicus mit der um die Jahrhundertwende einsetzenden Idealismusrenaissance bekannt gemacht. Sie schlĂ€gt sich in seinen beiden Graduierungsarbeiten zur SpĂ€tphilosophie Schellings ebenso nieder wie in seinen ersten eigenstĂ€ndigen theologischen EntwĂŒrfen, der 1911 verfassten Thesenreihe Die christliche GewiĂheit und der historische Jesus und dem zwei Jahre spĂ€ter geschriebenen Entwurf einer Systematischen Theologie. Die genannten Texte lassen das Interesse des jungen Theologen an BegrĂŒndungsfragen einer modernegemĂ€Ăen Theologie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten ĂŒber die âKrisis des Historismusâ (Ernst Troeltsch) erkennen, welche ihren Ausgangspunkt bei dem Gedanken des Absoluten nimmt. Das Absolute, in der Systematischen Theologie von 1913 als absoluter Wahrheitsgedanke verstanden, ist das Prinzip der Theologie. Im Kontext derartiger Ăberlegungen begegnet in der 1915 an der Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Halle eingereichten Habilitationsschrift Der Begriff des ĂbernatĂŒrlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der IdentitĂ€t â dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher die markante Wendung von einem Gott ĂŒber Gott. âDer Inbegriff aller RealitĂ€t und Vollkommenheitâ, so schreibt er hier mit kritischem Bezug auf die supranaturalistische Theologie der spĂ€ten AufklĂ€rung, âmĂŒĂte sowohl ĂŒber Gott wie ĂŒber den anderen Wesen stehen: Ist das Naturgesetz der Gott unter Gott, so das Absolute der âGott ĂŒber Gottâ. Das Supra fĂŒhrt einerseits zu weit, andererseits nicht weit genug ĂŒber die Welt hinaus.â Gott ist als das Absolute zu denken, aber beide sind nicht identisch. Das Absolute ĂŒberschreitet jeden Gottesbegriff und ist in diesem Sinne der Gott ĂŒber Gott. Die Wendung hat sichtlich die Funktion, eine Fassung des Gottesgedankens auszuarbeiten, welche gegenĂŒber religionskritischen EinwĂ€nden bestehen kann. Das Absolute als Grundlage des menschlichen Selbstbewusstseins geht jeder Fassung des Gottesgedankens als endliche Bestimmung in einem logischen Sinne voran. Deshalb hat das Supra keinen Begriff, sondern eine Dialektik.
Die Habilitationsschrift fĂ€llt in eine Umbruchphase des Denkens des jungen Theologen. WĂ€hrend des Ersten Weltkriegs verĂ€ndert er die Fassung der prinzipientheoretischen Grundlagen seiner Theologie und Religionsphilosophie. In den vor dem Krieg verfassten Schriften fungiert das Absolute gewissermaĂen als gegenĂŒber dem Individuum ĂŒbergeordneter Bezugsrahmen des theologischen Systems. Diese Konstruktion gibt er auf. Das Absolute, so heiĂt es nun, âist ein Götzeâ. Der Gehalt des Absoluten verschwindet indes nicht. Es wird gleichsam in den religiösen Akt verlagert und neu bestimmt. Das Unbedingte, so die dominante Beschreibung ab 1918, sei kein Seiendes, sondern Sinn. Zur methodischen Grundlage der Theologie und Religionsphilosophie avanciert jetzt der Sinnbegriff in einem objektiven Sinne. Er wird im Anschluss an die sinntheoretischen Debatten im Neukantianismus und in der PhĂ€nomenologie als Medium verstanden. Das hat Folgen fĂŒr den Begriff der Religion. Sie sei, wie die vielfach gebrauchte Wendung der 1920er Jahre lautet, Richtung auf das Unbedingte. An dem in der Habilitationsschrift von 1915 ausgefĂŒhrten Gedanken einer Dialektik des Supra, die zu der Bestimmung eines Gottes ĂŒber Gott fĂŒhrt, hat er, wie er in einem Brief an seinen Freund Emanuel Hirsch am 20. Februar 1918 schreibt, allerdings festgehalten. GeĂ€ndert hat sich jedoch die systematische Konstruktion dieses Gedankens.
Die ersten Hinweise auf die angesprochenen VerĂ€nderungen in der systematischen Grundlegung seiner Theologie finden sich in einem Brief an Hirsch vom 12. November 1917. Gleich zu Beginn des Schreibens heiĂt es: âMeine Fassung des Rechtfertigungsgedankens hat mich bis zu der Paradoxie desâ Glaubens ohne Gottâ getrieben. Denn wenn das Denken ein Tun, ein Werk ist (vergl. den Begriff des sacrificium intellectus) und wenn Gott als irgendwie seiend gedacht eben die Setzung eines gegenstĂ€ndlichen Denkens ist, so kann er gewissermaĂen das Werk dieses Gedankens nicht von jemand verlangen, den er rechtfertigen will.â Und Tillich fĂ€hrt fort, auchâ derâ Atheistâ kann in seinem Atheismus sich âgerechtfertigtâ glauben von einer Ordnung oder RealitĂ€t oder Tiefe, die noch ĂŒber dem steht, was er als âSein Gottesâ verneint. Jene âOrdnungâ ist natĂŒrlich nicht als ein Sein zu denken, was ein Circulus wĂ€re, sondern als â Tiefeâ oder âSinnâ etc.â Ganz Ă€hnlich formulierte er kurze Zeit spĂ€ter in einem Brief an Maria Klein vom 5. Dezember 1917. Er schreibt hier: âIch bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des âGlaubens ohne Gottâ gekommen, dessen nĂ€here Bestimmung und Entfaltung den Inhalt meines gegenwĂ€rtigen religionsphilosophischen Denkens bildet.â Auch hier geht es noch um die Dialektik des Supra. Die Objektivationen der religiösen Gewissheit in Form von inhaltlichen GegenstĂ€nden sind Produkte des religiösen Bewusstseins. Sie sind der Religionskritik ebenso ausgesetzt wie dem Zweifel an der religiösen Gewissheit. Um den Gottesgedanken vor dem religionskritischen Einwand zu bewahren, er sei eine bloĂe Setzung des Bewusstseins, ist dieser als Grundlagenfunktion des Bewusstseins zu fassen. Er reprĂ€sentiert die Voraussetzung aller inhaltlichen Setzungen des Bewusstseins. Die konkreten Begriffe von Gott, die stets vom Menschen geschaffen sind, haben den epistemischen Status von Deutungen der religiösen Gewissheit. Sie sind deren Ausdruck, aber nicht mit dem Unbedingten identisch. Letzteres transzendiert jede seiner (endlichen) Bestimmungen, und zugleich kann es nur durch solche reprĂ€sentiert werden. Freilich ist das Unbedingte nicht im Sinne einer bewusstseinstranszendenten Substanz oder Ă€hnlichem zu verstehen, da eine solche der Dialektik des Supra nicht entgehen wĂŒrde. Es ist die Einheits- und Grundlagenfunktion des menschlichen Bewusstseins. Der Transzendenzbegriff muss folglich im Horizont eines, wie es Tillich nennt, âMonismus des Sinnesâ reformuliert werden.
Das Problem der Objektivationen des religiösen Bewusstseins, an dem sich unter den Bedingungen der Moderne das SpannungsverhĂ€ltnis von Zweifel und Gewissheit entzĂŒndet und das zu der Dialektik des Supra treibt, wie sie in der Formel von einem Gott ĂŒber Gott aufgenommen ist, hat Tillich in seinen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg durch die Ausarbeitung einer sinntheorischen Religionstheorie auf einer geistphilosophischen Grundlage weiter bearbeitet. Die erste, noch schwankende systematische AusfĂŒhrung der neuen Konzeption liegt in dem 1919 entstandenen Entwurf Rechtfertigung und Zweifel vor, von dem im Nachlass zwei Versionen ĂŒberliefert sind. Das Anliegen der Ausarbeitung, die anlĂ€sslich seiner 1919 erfolgten Umhabilitierung an die Theologische FakultĂ€t der Berliner UniversitĂ€t entstanden ist, ist die BegrĂŒndung eines theologischen Prinzips, durch das der Gegensatz von Religion und moderner, autonomer Kultur ĂŒberwunden werden soll. Dieser Gegensatz findet seine Auflösung in dem Glaubensakt, der als Bejahung des absoluten Paradoxes verstanden wird. Als methodische Grundlage des Glaubensbegriffs fungiert eine unter Aufnahme von Motiven Edmund Husserls ausgearbeitete intentionalitĂ€tstheoretische Fassung des religiösen Bewusstseins. Im religiösen Akt, so heiĂt es in dem Entwurf, werde das Unbedingte âdurch bedingte Vorstellungen hindurchâ gemeint. Religion wird hier als ein Reflexionsgeschehen im kulturschaffenden Bewusstsein verstanden. Das Bewusstsein richtet sich im religiösen Akt auf das Unbedingte, aber es kann dies nur unter Aufnahme der bedingten kulturellen Formen. Das Unbedingte wird durch die kulturellen Formen hindurch gemeint. Im Glaubensakt wird sich das menschliche Bewusstsein einerseits in seiner reflexiven Tiefenstruktur verstĂ€ndlich, und andererseits fungieren die bedingten Vorstellungsformen als Darstellungen der religiösen Gewissheit und nicht als Beschreibung einer transzendenten religiösen GegenwartssphĂ€re. Die NegativitĂ€t der SubjektivitĂ€t und die Gewissheit des Glaubens sind hier miteinander verbunden. In der NegativitĂ€t des Zweifels aktualisiert sich die SubjektivitĂ€t, und zugleich ist sie darin in ihr...