KAPITEL 1
Was ist Agile, und warum spielt das eine Rolle?
Agile als Bewegung verstehen
Vom 11. bis 13. Februar 2001 trafen sich im Skiresort The Lodge at Snowbird in den Wasatch-Bergen von Utah 17 Menschen, um sich zu unterhalten, Ski zu fahren, zu relaxen und zu versuchen, einen gemeinsamen Nenner zu finden â und natĂŒrlich auch zum Essen.
So beginnt die Geschichte (http://bit.ly/2DX9x8v) der agilen Bewegung, wie sie Jim Highsmith, einer ihrer Urheber, erzÀhlt.
Es lohnt sich, einen Moment ĂŒber die Bescheidenheit â und Menschlichkeit â dieser Aussage nachzudenken. Die agile Bewegung wurde nicht aus der Ambition heraus geboren, BĂŒcher zu verkaufen oder Beraterstunden hereinzuholen. Sie ist aus dem tiefen Glauben heraus entstanden, der ihre erfolgreichsten Implementierungen beseelt: Wenn Menschen zusammenkommen, ĂŒber die taktischen Unterschiede in ihren jeweiligen AnsĂ€tzen hinausblicken und nach Gemeinsamkeiten suchen, können erstaunliche Dinge passieren.
Die 17 Menschen, die bei Snowbird zusammengekommen sind, hatten bereits gut zehn Jahre nach Möglichkeiten gesucht, diese Form der Zusammenarbeit auf ihre tĂ€gliche Arbeit als Softwareentwickler zu ĂŒbertragen. Einige von ihnen hatten bereits tĂ€gliche »Stand-ups« eingefĂŒhrt, um mehr Raum fĂŒr regelmĂ€Ăige GesprĂ€che zu schaffen. Andere hatten ihre Kollegen dazu ermutigt, paarweise zu arbeiten und dabei den Wissenstransfer zu maximieren sowie bisher verborgene Lösungen ans Tageslicht zu fördern. Ein paar suchten danach, wie organisatorische Prozesse von sich aus »stretch to fit« werden könnten, um den BedĂŒrfnissen der Individuen in einem bestimmten Team besser gerecht zu werden.
Als der Snowbird-Gipfel stattfand, hatten sich einige dieser Praktiken zu vollstĂ€ndig ausgebildeten Methoden mit Namen wie Scrum, XP (Extreme Programming) und Crystal entwickelt. Aber die, die sich bei Snowbird versammelt hatten, wollten gar nicht darĂŒber debattieren, welche ihrer Methoden die beste wĂ€re. Vielmehr wollten sie sehen, ob 17 »organisatorische Anarchisten« (wie sie sich selbst nannten) die gemeinsamen Themen, Werte und Prinzipien herausarbeiten könnten, die den jeweiligen Praktiken, Frameworks und Methoden zugrunde liegen. Dem Vernehmen nach dachte niemand, dass dies eine leichte Aufgabe sein wĂŒrde.
Zur groĂen Ăberraschung vieler Teilnehmer erwies sich die Entscheidung fĂŒr ein gemeinsames Wertesystem als weniger strittig als die Entscheidung, wo der Gipfel ĂŒberhaupt stattfinden sollte. Am Ende ihrer Zusammenkunft hatte sich diese Gruppe auf ein Wort geeinigt, um die Ideen zu beschreiben, die ihre jeweiligen AnsĂ€tze verbanden und vereinten: »Agile«. Und sie hatten ihre gemeinsamen Werte in einem als Manifesto for Agile Software Development bezeichneten Dokument festgehalten.
Der gesamte Text des Dokuments, das umgangssprachlich als »das Agile Manifest« bekannt ist, lautet wie folgt:
Wir erschlieĂen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese TĂ€tigkeit haben wir diese Werte zu schĂ€tzen gelernt:
Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlungen
Reagieren auf VerÀnderung mehr als das Befolgen eines Plans
Das heiĂt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schĂ€tzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.
Mehr nicht. 78 Wörter (68 im englischen Originaltext). Keines dieser Wörter hat mit konkreten Praktiken, Tools oder Methoden zu tun, wenn man von der Aussage, dass Tools explizit weniger wertvoll sind als Menschen, einmal absieht. Laut Highsmith war das kein Zufall:
Meiner Meinung nach geht es agilen Methodikern wirklich um »schwammige« Kategorien â um die Lieferung guter Produkte an Kunden, indem in einem Umfeld gearbeitet wird, das nicht nur von »Menschen als unserem wichtigsten Aktivposten« spricht, sondern tatsĂ€chlich so »handelt«, als wĂ€ren Menschen das Wichtigste, und das Wort »Aktivposten« beiseite lĂ€sst. Letztlich geht es bei dem rasant zunehmenden Interesse â und manchmal auch der heftigen Kritik â an agilen Methoden um die schwammigen Kategorien von Werten und Kultur.
Im Mittelpunkt der agilen Bewegung, und zwar sowohl der Sache als auch ihrer Geschichte nach, steht der Glaube, dass harte Methoden und »schwammige« Werte nicht voneinander getrennt werden können und sollten. Methoden mĂŒssen von Kultur und Werten bestimmt sein, und Kultur und Werte mĂŒssen mithilfe konkreter Praktiken umgesetzt werden.
Genau aus diesem Grund strĂ€ube ich mich etwas dagegen, Agile einfach als eine »Methode« zu bezeichnen. Ja, es gibt eine Reihe von Methoden â darunter die oben erwĂ€hnten Scrum, Extreme Programming und Crystal sowie kĂŒrzlich entwickelte Methoden wie SAFe und LeSS â, die einen Entwurf liefern, wie sich agile Werte in der Praxis umsetzen lassen. Aber Sie mĂŒssen sich die einzelnen Worte des Agilen Manifests gar nicht so genau ansehen, um zu verstehen, warum das Framing von Agile als Prozess oder Tool leicht das Ziel verfehlen kann.
Ich habe auch gehört, dass Agile als »Denkweise« charakterisiert wird. Zwar stimme ich zu, dass Agile ein erhebliches Umdenken verlangt, doch mit einer Beschreibung als »Denkweise« ziehen wir uns zu leicht aus der AffĂ€re. Es genĂŒgt nicht, nur agil zu denken, denn es lĂ€sst uns zu viel Spielraum fĂŒr eine ĂuĂerung wie diese: »Ich verstehe zwar diese ganze agile Sache, doch die Leute, mit denen ich arbeite, haben diese neue Denkweise einfach nicht angenommen, sodass wir da gar nichts machen können!« Tabelle 1-1 vergleicht die verschiedenen AnsĂ€tze fĂŒr Agile und zeigt, wie die Einordnung von Agile als Bewegung es uns ermöglicht, sowohl unsere Methode als auch unsere Denkweise zu Ă€ndern und dabei diese beiden Dimensionen synchron zu halten.
Tabelle 1-1: Agile als Methode, Denkweise und Bewegung
Agile als Methode | Agile als Denkweise | Agile als Bewegung |
Praktiken zÀhlen mehr als Denkweise. | Denkweise zÀhlt mehr als Praktiken. | Denkweise und Praktiken sind unweigerlich miteinander verbunden. |
Die Praktiken und Methoden von Agile wurden bereits von anderen bestimmt. | Die Prinzipien und Werte von Agile wurden bereits von anderen bestimmt. | Ich habe eine aktive Rolle zu spielen, wenn es darum geht, wie agile Prinzipien und Praktiken in meinem Team oder meiner Organisation formuliert und angewandt werden. |
Individuen innerhalb von Teams mĂŒssen in vorgeschriebener und vordefinierter Art und Weise zusammenarbeiten und interagieren. | Individuen innerhalb von Teams mĂŒssen eine agile »Denkweise« unabhĂ€ngig voneinander entwickeln. | Individuen innerhalb von Teams mĂŒssen auf einen gemeinsamen Satz von Zielen und Werten hin zusammenarbeiten. |
Aus all diesen GrĂŒnden bin ich geneigt, Highsmith selbst zuzustimmen, wenn er Agile als eine Bewegung beschreibt. Indem wir Agile als Bewegung akzeptieren, können wir unsere eigene Verantwortung besser verstehen, ihre Praktiken und Prinzipien auf verschiedene Art und Weise in unsere eigene Arbeit einzubringen:
Agile ist eine einzelne Bewegung, die aus paralleler Erneuerung entstanden ist.
Ăhnlich wie andere wichtige Bewegungen im Arbeitsleben, in der Kultur und in der Kunst ist die agile Bewegung entstanden, als mehrere Praktiker unabhĂ€ngig voneinander, aber parallel Erneuerungen als Reaktion auf VerĂ€nderungen in der sie umgebenden Welt entwickelt haben. Zum Beispiel entstand die Bewegung der impressionistischen Malerei, als eine Reihe von Malern parallel auf die strikten akademischen Regeln der Zeit und die Popularisierung der Fotografie reagierte. Ebenso hat sich die agile Bewegung herausgebildet, als eine Reihe von Softwareentwicklern parallel auf die strengen Bedingungen der Arbeitspraxis in Unternehmen und das beschleunigte Tempo des technologischen Wandels regierte, wie Abbildung 1-1 zeigt. Betrachtet man Agile aus dem Blickwinkel paralleler Erneuerung, ist leicht einzusehen, wie unsere eigenen BeitrĂ€ge die Bewegung weiter vorantreiben können.
Abbildung 1-1: Eine unvollstĂ€ndige Zeitleiste entlang der Jahre, in denen agile Frameworks und Methoden weitgehend als formalisiert gelten. Beachten Sie, wie sich neue Frameworks und Methoden auch nach der GrĂŒndung der agilen Bewegung weiterhin herausbilden und entwickeln.
Agile erfordert sowohl Denken als auch Handeln.
Wenn wir Agile als Bewegung betrachten, legen wir damit die Messlatte sowohl fĂŒr das Denken als auch fĂŒr das Handeln hoch. Bewegungen verlangen eine neue Denkweise und eine neue Arbeitsweise. Und sie verlangen, dass wir diese beiden Elemente stĂ€ndig miteinander synchronisieren. Wenn wir gedankenlos arbeiten, erreichen wir bestenfalls kleinere betriebliche Optimierungen. Und wenn wir unsere Gedanken nicht durch Taten unterstĂŒtzen, schaffen wir eine tiefe und gefĂ€hrliche Kluft zwischen dem, was wir sagen, und dem, was wir tun.
Agile zwingt uns, gemeinsam auf ein Gemeinwohl hinzuarbeiten.
Das Framing von Agile als Bewegung verdeutlicht, dass wir etwas gemeinsam tun mĂŒssen. Agile verlangt von uns, offen, kooperativ und reflektierend zu sein. Es fordert uns auf, hinter die »korrekte« Implementierung von Prozessen und Tools zu sehen, unsere Einzigartigkeit und KomplexitĂ€t als Individuen zu akzeptieren und Wege zu finden, auf denen wir auf ein Gemeinwohl hin zusammenarbeiten können â genau wie es die Unterzeichner des Agilen Manifests bei ihrer Zusammenkunft in Utah gehandhabt haben.
In vielerlei Hinsicht enthĂ€lt die Geschichte der agilen Bewegung selbst die Vorlage fĂŒr eine erfolgreiche Implementierung von Agile: die Tatsache akzeptieren, dass verschiedene Teams von verschiedenen taktischen AnsĂ€tzen profitieren, einen gemeinsamen Nenner bei gemeinsamen Werten suchen und sich weiterentwickeln.
Die AttraktivitÀt von Agile freilegen
Die Agile Alliance, eine Organisation, die sich aus den 17 Unterzeichnern des Agilen Manifests gebildet hat, definiert Agile (https://www.agilealliance.org/agile101/) als »die FÀhigkeit, VerÀnderungen zu schaffen und darauf zu reagieren, um in einer unsicheren und turbulenten Umgebung erfolgreich zu sein.«
Es ist nicht sonderlich schwer, zu sehen, warum dies fĂŒr moderne Organisationen so ĂŒberzeugend ist. Die Vorstellung, dass unsere Welt schneller, vernetzter und kundenorientierter ist als je zuvor, ist die Basis jeder zeitgemĂ€Ăen Diskussion ĂŒber Design und Kultur von Unternehmen. Moderne Organisationen â insbesondere groĂe, langsam agierende Unternehmen â leben in stĂ€ndiger Angst, von kleineren und anpassungsfĂ€higeren Mitspielern »zerrĂŒttet« zu werden. Das GefĂŒhl der Dringlichkeit, schneller, flexibler und kundenorientierter zu werden, ist real. Und Agile gibt eine konkrete Antwort auf die Frage: »Wie können wir mehr wie die Spitzentechnologie- und Start-up-Unternehmen sein, die uns aus dem GeschĂ€ft drĂ€ngen könnten?«
Allerdings ist die Idee, dass Agile eine Art magisches Geheimnis ist, das Hightechunternehmen einen immanenten Wettbewerbsvorteil verschafft, jedoch eine grobe und irrefĂŒhrende Ăbervereinfachung. Viele Menschen, mit denen ich in groĂen traditionellen Firmen gearbeitet habe, sind ernsthaft schockiert zu hören, dass die Technologiefirmen, die sie sowohl fĂŒrchten als auch vergöttern, nicht die egalitĂ€ren Bienenstöcke sind, die durch kostenlose Snacks gespeist werden, von denen man in rosaroten PR-Statements oder schmeichelhaften Presseprofilen liest. Wohl oder ĂŒbel stehen diese Unternehmen oftmals vor den gleichen grundlegenden Herausforderungen, mit denen es traditionellere Firmen zu tun haben: vor der Tendenz, eher management- als kundenorientiert zu sein, vor organisatorischen Silos, die die Zusammenarbeit ersticken, und vor Widerstand gegen Ănderungen, nachdem ein Projekt in Gang gesetzt wurde.
Auch sind viele Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe, ĂŒberrascht und entmutigt, wenn sie hören, dass »Arbeiten wie ein kleines Start-up« keineswegs eine erfolgreiche Umsetzung agiler Werte garantiert. Start-up-GrĂŒnder, und vor allem solche, die...