1Vom Objekt zum System
1.1Descartesâ Spaltung der Welt â Ein kurzer wissenschaftsgeschichtlicher RĂŒckblick
Seit dem klassischen Altertum beschĂ€ftigen sich Philosophen mit der Frage, in welchem VerhĂ€ltnis das Sein der Welt zur Erkenntnis der Welt steht. Als einer der wichtigsten Vordenker unseres zeitgenössischen Weltbildes kann Descartes betrachtet werden. Sein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung des westlichen Denkens bestand in einer klaren Abgrenzung zwischen der geistigen und der materiellen Welt. Diese Spaltung bestimmt nicht nur den Unterschied zwischen den beiden âKulturenâ der Natur- und der Geisteswissenschaften, sondern auch unsere Alltagsvorstellungen ĂŒber die Beziehung der Wirklichkeit zu unserer Erkenntnis von ihr.
Descartes konstruierte eine Welt, in der es zwei unterschiedliche Bereiche gab: geistige und materielle Dinge (Res cogitans/Res extensa). Als Merkmal des Geistes sah er das Denken bzw. seine Modi des FĂŒhlens, Wollens, Begehrens, Vorstellens, Urteilens (des Bejahens und Verneinens); als Merkmale der Körper sah er die Ausdehnung bzw. ihre Erscheinungsweisen wie etwa die Lage, die Gestalt, die Bewegung, die GröĂe.
Grundlage von Descartesâ Modell ist die Annahme âeingeborener Begriffeâ (Jaspers 1937). Mit ihrer Hilfe lĂ€sst sich die Wirklichkeit beschreiben und erklĂ€ren. Da sie eingeboren sind, brauchen und können sie nicht hinterfragt werden. Solche Begriffe sind nach Descartes die logischen Grundprinzipien, die Ursache, die Ausdehnung, die Zahl, die Substanz (das Ding, die Sache, das Objekt), vor allem aber Gott.
Descartes geht also von einem vorgegebenen Ist-Zustand aus. Da Gott von ihm als Schöpfer als gegeben betrachtet wird, ist auch die Welt in ihrem Sein gegeben. In dieser Tradition steht alle Forschung, die sich mit der Frage beschĂ€ftigt, wie etwas wirklich âistâ, d. h. mit ontologischen Fragestellungen. Die Frage nach dem Werden, d. h. der Ontogenese, stellt sich nicht, wenn man einen Schöpfer der Dinge voraussetzt.
Als wahr akzeptiert Descartes nur das, was klar und deutlich als Wesen eines Gegenstandes einsichtig ist. Sein Zweifel gilt der sinnlichen Wahrnehmung. Was sie suggeriert, darf nicht als wirklich hingenommen werden. Lediglich an sich selbst kann das zweifelnde Subjekt nicht zweifeln, denn, um zweifeln zu können, muss es âseinâ. Die SelbstbezĂŒglichkeit seines Denkens gibt dem Menschen die Gewissheit zu sein: âCogito ergo sumâ â ich denke, also bin ich.
In dieser Konzeptualisierung des Denkens und des Erkennens bzw. ihrer Beziehung zur materiellen Welt sind vielerlei stillschweigende Vorannahmen ĂŒber die Welt enthalten. An erster Stelle ist hier die Annahme einer statischen Wirklichkeit zu nennen, einer Welt der Dinge. So, wie sie von einem auĂen stehenden, d. h. von ihnen unterscheidbaren, Schöpfer kreiert worden sind, kann nun der Mensch als auĂen stehender Beobachter versuchen, sie in ihrem âWesenâ zu erkennen. Dieses ist durch ihre wesentlichen (!) Eigenschaften charakterisiert.
Will man das cartesianische Erkenntnismodell zusammenfassen, so lĂ€sst sich zunĂ€chst feststellen, dass es von einer Welt ausgeht, die so ist, wie sie ist. Sie ist als Ganzes von Gott geschaffen, wie eine Maschine von einem Ingenieur konstruiert und aus Einzelteilen zusammengebaut. Ihre Elemente sind einzelne Dinge, zusammengesetzt aus kleinsten Körpern, die in ihren Eigenschaften nicht aufeinander zurĂŒckzufĂŒhren sind. Diese Maschine bewegt sich zwar, ihre Mechanismen sind jedoch statisch und unverĂ€nderlich. Die Wechselbeziehungen dieser in ihrem Wesen unabhĂ€ngig voneinander existierenden Objekte sind durch mechanische Gesetze bestimmt. Ursache und Wirkung sind geradlinig miteinander verknĂŒpft, sodass die Ursache die Wirkung determiniert.
Der Geist, der nach Erkenntnis strebt, steht dieser Maschine gegenĂŒber. Seine Beobachtungen haben â so das Modell â im Prinzip keinen Einfluss auf die beobachteten materiellen Prozesse. Den Regeln der Mechanik drauĂen in der Welt entsprechen die Regeln der Vernunft drinnen im Geist des erkennenden Subjekts. Die Wahrheit kann nur durch das Befolgen dieser Regeln gefunden werden. Erkenntnis ist â wenn sie gelingt â ein Abbild der Wirklichkeit. Das Erkenntnisideal ist âObjektivitĂ€tâ, d. h., unterschiedliche Beobachter, die dasselbe Objekt untersuchen, sollten zu denselben Ergebnissen kommen, weil ihre Aussagen von den Eigenschaften des Objekts und nicht von der Prozedur der Beobachtung oder den Eigenarten des Beobachters bestimmt werden. Angestrebt werden Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit der nach den GesetzmĂ€Ăigkeiten eines Uhrwerks funktionierenden Welt.
Um MissverstĂ€ndnissen vorzubeugen: Dieser â auch âReduktionismusâ genannte â Wissenschaftsansatz lieferte die Grundlage fĂŒr den seit der AufklĂ€rung unaufhaltbar scheinenden Siegeszug der westlichen Wissenschaften. Er war (und ist immer noch) in vielen Bereichen sehr erfolgreich. Aber er beruht auf Vorannahmen, die der KomplexitĂ€t der Welt, vor allem lebender, psychischer und sozialer Systeme, nicht gerecht werden.
Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist der gröĂte Vorzug des Reduktionismus auch sein gröĂter Nachteil. Mit seiner Trennung von Res cogitans und Res extensa hat Descartes Beobachter und beobachtetes Objekt voneinander getrennt. Durch diesen Schachzug hat er verhindert, dass irgendwann einmal die Res cogitans selbst zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht werden könnte. Wenn die Begriffe eingeboren sind und Gott dafĂŒr sorgt, dass die Beziehung zwischen ihnen und ihrer Bedeutung angemessen ist, so braucht man sich mit der Frage nach deren VerhĂ€ltnis nicht mehr zu beschĂ€ftigen. Das Problem der SelbstbezĂŒglichkeit der Erkenntnis, d. h. der Erkenntnis, die sich selbst zu erkennen sucht, taucht nicht auf. Und damit sind auch die Folgen, die mit derartigen SelbstbezĂŒglichkeiten verbunden sein können, vermieden.
Descartes bzw. sein Denken sind hier an den Beginn gestellt worden, weil er wohl der prominenteste unter den Denkern ist, die unser westliches Weltbild geprĂ€gt haben. Sie alle stehen aber in der Tradition alteuropĂ€ischen Denkens, das seine Grundlagen der platonischen Philosophie, vor allem aber der aristotelischen Logik verdankt. Als rational wird dabei allein ein Argumentieren und SchlieĂen akzeptiert, das den Regeln der zweiwertigen Logik folgt. Demnach sind Aussagen immer entweder wahr oder falsch, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht (tertium non datur). Mit dieser dritten Möglichkeit wird man jedoch konfrontiert, wenn die SelbstbezĂŒglichkeit von Aussagen erlaubt wird (z. B. wenn der Kreter Epimenides sagt: âAlle Kreter lĂŒgen!â). Aussagen können paradox sein. Durch Paradoxien wird die zweiwertige Logik an ihre Grenzen gefĂŒhrt, denn paradoxe Aussagen sind immer gerade dann wahr, wenn sie falsch sind, und dann falsch, wenn sie wahr sind. Um sie zu vermeiden, ist die Trennung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis ein gangbarer Weg. Will man diese Spaltung jedoch ĂŒberwinden und fragt man nach dem Zusammenhang zwischen Beobachter und beobachtetem Objekt, so wird man nach alternativen Erkenntnismodellen suchen mĂŒssen.
Systemtheorie und Konstruktivismus, die beiden theoretischen Modelle, die gemeinsam die Grundlagen fĂŒr das liefern, was als âsystemisches Denkenâ bezeichnet wird, können hier Antworten geben. Die Systemtheorie beschĂ€ftigt sich gewissermaĂen mit der âWelt der Objeketâ; aber sie isoliert sie nicht aus ihren realen ZusammenhĂ€ngen, sondern setzt sie in Beziehung zueinander. Und der Konstruktivismus beschĂ€ftigt sich mit dem menschlichen Erkennen, Denken, Urteilen. Nur sieht er diese VorgĂ€nge nicht getrennt von der zu erkennenden Welt, sondern als Teil von ihr, d. h., er versucht den Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen beidem, Erkenntnis und Erkanntem, zu richten.
1.2Systemisches Denken = systemtheoretisches ErklÀren
In nahezu allen traditionellen Wissenschaftsbereichen hat in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ein neuartiges Paradigma (im Sinne der von Thomas Kuhn 1962 analysierten âwissenschaftlichen Revolutionenâ) seinen Siegeszug angetreten. Die Namen, mit denen die jeweiligen TheoriegebĂ€ude belegt wurden, unterscheiden sich von Fachdisziplin zu Fachdisziplin (Kybernetik, Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Chaostheorie, KomplexitĂ€tstheorie u. v. m.), aber allen gemeinsam ist ein Wandel der Perspektive, der es verdient, als revolutionĂ€r bezeichnet zu werden: Es wird eine radikal andere Art von ErklĂ€rungen fĂŒr die beobachteten PhĂ€nomene konstruiert, d. h., KausalitĂ€t wird neu konzeptualisiert.
Wenn man nach einer Definition sucht, wodurch sich das âsystemische Denkenâ von anderen Formen des Denkens (z. B. unserem westlichen Alltagsdenken oder dem Denken der newtonschen Physik) unterscheidet, so kann man sagen: Systemisches Denken verwendet ErklĂ€rungen, die sich aus der Systemtheorie ableiten lassen, und das heiĂt konkret: An die Stelle geradlinig-kausaler treten zirkulĂ€re ErklĂ€rungen, und statt isolierter Objekte werden die Relationen zwischen ihnen betrachtet.
Wenn aus diesen anders strukturierten ErklĂ€rungen alternative und manchmal auch ĂŒberraschende Handlungskonsequenzen gezogen werden, so wird dies meist als âsystemisches Handelnâ bezeichnet (wie dies beispielsweise in den Begriffen âsystemisches Managementâ, âsystemische Therapieâ oder âsystemische Beratungâ der Fall ist). Allerdings, das sei hier angemerkt, ist die in dieser Begrifflichkeit enthaltene Art der Zuschreibung der Eigenschaft âsystemischâ zu Handlungen problematisch. Denn Handlungen âan sichâ können zwar bestimmte Wirkungen haben oder auf Motive zurĂŒckzufĂŒhren sein, die der Beobachter dann auch bewerten kann, aber sie âsindâ genauso wenig systemisch, wie sie katholisch oder grĂŒn âsindâ. Aufgrund welcher Merkmale der Unterscheidung wollte man einer Handlung derartige Eigenschaften denn auch zuschreiben? Ganz anders sieht es bei der BegrĂŒndung oder ErklĂ€rung von Handlungen aus. Sie können in dem Sinne systemisch sein, dass sie aus systemtheoretischen Ăberlegungen abgeleitet werden.
Um dies zu verdeutlichen, hilft ein Blick zurĂŒck auf die Entwicklung des systemtheoretischen Modells. Die aus ihm erwachsenen Fachgebiete zeigen einen âtransdisziplinĂ€renâ Charakter. Durch ihre neue Sichtweise ĂŒberschreiten sie die Grenzen der herkömmlichen Einzeldisziplinen (ohne sie zu missachten) und entwickeln Fragestellungen, die gewissermaĂen quer zu diesen Fachgrenzen verlaufen.
Wenn dieses Paradigma auch als âkybernetischâ bzw. als âKybernetikâ bezeichnet wird, so geschieht dies deswegen, weil damit ein Name gewĂ€hlt ist, der (neben âSystemtheorieâ) wahrscheinlich am besten das Erkenntnisinteresse dieses Ansatzes benennt. Es geht um die Steuerung von Verhalten, unabhĂ€ngig von der MaterialitĂ€t des jeweils untersuchten Gegenstandes (griech. kybernetes = Steuermann). Der Begriff stammt von Norbert Wiener und wurde in den Wissenschaften in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts populĂ€r, nachdem in den Jahren 1946 bis 1953 mehrere von der Macy Foundation gesponserte, multidisziplinĂ€re âKonferenzen zur Kybernetikâ stattgefunden hatten (vgl. Heims 1991).
ZunĂ€chst schien die Fragestellung nach der Steuerung von Verhalten nicht sonderlich revolutionĂ€r, und ihre Bearbeitung entwickelte sich ganz in der Tradition des cartesianischen Weltbildes. Allerdings konnte die Untersuchung nicht mehr allein auf irgendein Objekt begrenzt werden, da Verhalten meist in einem interaktionellen Kontext stattfindet. Untersucht werden mussten also âzusammengesetzte Einheitenâ oder, anders formuliert: Systeme (griech. syn = zusammen, histanai = stellen, setzen, legen), die durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von Elementen gebildet wurden. Vorausgesetzt wurde, dass der Beobachter das untersuchte Objekt (das System) aus der AuĂenperspektive wahrnimmt (Subjekt-Objekt-Spaltung der Erkenntnis). Man untersuchte nun eben keine isolierten, einzelnen Objekte oder GegenstĂ€nde, sondern Systeme. Es waren aus mehreren Teilen zusammengesetzte Einheiten (âGanzheitenâ), deren Eigenschaften âemergentâ, d. h. nicht durch die schlichte Addition der Eigenschaften ihrer Teile herstellbar, waren; und ihr Funktionieren war nicht durch die analytische AufklĂ€rung einer zeitlichen Abfolge von Ereignissen zu erklĂ€ren. Hier gelangte man an die Grenzen geradliniger (linealer) kausaler ErklĂ€rungen.
Das Modell der geradlinigen KausalitĂ€t lĂ€sst sich grafisch folgendermaĂen illustrieren:
Abb. 1
Allgemeine Gesetze in Verbindung mit Ereignissen (E1, âŠ, Em+1) in der Vergangenheit bilden die Ursache fĂŒr ein Ereignis E.
Die Regelung von Verhalten, sei es von Automaten, Organismen oder Gruppen menschlicher Individuen, ist aber erst dann erklĂ€rbar, wenn man RĂŒckkopplungsprozesse beobachtet. Verhalten wirkt auf den weiteren Verlauf des Verhaltens ein und korrigiert sich (gewissermaĂen) selbst, indem Störungen und Abweichungen von irgendeinem Sollwert ausgeglichen oder verstĂ€rkt werden.
Ganz allgemein formuliert: Die VerknĂŒpfung zwischen einem bestimmten Typus von Zustand oder Ereignis E und anderen Ereignissen oder ZustĂ€nden (E1, âŠ, Em+1) muss so sein, dass sich eine Kreisstruktur bildet. Diese anderen Ereignisse (E1, âŠ, E m+1) sind dann nicht nur die hinreichenden (eventuell auch notwendigen) Bedingungen fĂŒr E, sondern E ist umgekehrt auch eine Bedingung fĂŒr E1, âŠ, Em+1. Es bildet sich ein Zirkel, ein Regelkreis, dessen Elemente gegenseitig die Bedingungen ihres Verhaltens bestimmen. Die stattfindenden Ereignisse oder ZustĂ€nde lassen sich durch ein Gesetz beschreiben, durch das ursĂ€chliche und bewirkte Ereignisse rekursiv, d. h. im Kreise zurĂŒcklaufend, miteinander verknĂŒpft sind. Ihre Interaktion ist so organisiert, dass beide sich gegenseitig stabilisieren oder destabilisieren.
Diese âzirkulĂ€reâ Form der KausalitĂ€t lĂ€sst sich folgendermaĂen illustrieren:
Abb. 2
Meist ist solch ein Kreis natĂŒrlich erheblich weiter gezogen; es sind eine ganze Menge solcher Ursachen und Wirkungen beteiligt, sodass schlieĂlich der Ăberblick verloren geht, weil die Strukturen und das Netzwerk der Wechselbeziehungen einen zu hohen KomplexitĂ€tsgrad erreichen. Dennoch kann auch bei solch sehr viel komplexeren dynamischen Systemen eine zirkulĂ€re Organisationsform der Prozesse beschrieben werden, in der die Ereignisse und ZustĂ€nde, die das System bilden, eine sel...