ERSTES BUCH
Von Wolfgang Effenberger
EinfĂŒhrung
In den gewitterschwĂŒlen Juli- und Augusttagen des Jahres 1914 ging die Friedensordnung in Europa unter, im Kriegsverlauf zerbrachen die Strukturen der bĂŒrgerlichen Vorkriegsgesellschaft, und zwar sowohl bei den Verlierern als auch den Gewinnern. Auslöser war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo â der Hauptstadt des zu Ăsterreich-Ungarn gehörenden Kronlandes Bosnien-Herzegowina.
Wer stand wirklich hinter dem Attentat? Was sollte es bewirken, und wer wollte davon profitieren? Laut dem jugoslawischen Historiker Vladimir Dedijer4 wurden damals nicht weniger als sieben Staaten und vier politische Gruppen der Urheberschaft beschuldigt, darunter die Regierungen bzw. Geheimdienste von Serbien, Russland, Ungarn, Ăsterreich, Deutschland, Frankreich und England sowie Juden, Freimaurer und Anarchisten. Mit Resignation muss man feststellen, dass nach einem Jahrhundert die HintergrĂŒnde noch immer nicht offengelegt wurden. Das Interesse an den Ursachen hĂ€lt sich indes â aus welchen GrĂŒnden auch immer â trotz des JubilĂ€umswirbels in Grenzen.
In den deutschen Medien steht immer wieder die Person Wilhelms II. im Zentrum des öffentlichen Interesses, dem von vielerlei Seiten die Schuld am Ausbruch des Krieges zugeschoben wird, und es gibt wenig Widerspruch. Wie konnte sich diese Sicht derartig zementieren? Bereits ein Jahr nach Kriegsausbruch kam in London das Buch »Jâaccuse« des im Schweizer Exil lebenden Deutschen Richard Grelling heraus. Er spricht vom »Hohenzollernschen Eroberungskrieg« und klagt den Kaiser an. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer (1908â1999) fĂŒhrt mit seinem 1961 erschienenen Werk »Griff nach der Weltmacht« die These von der deutschen Alleinschuld bis an sein Lebensende konsequent fort, gefolgt von SchĂŒlern, die seinen Ansichten folgen. Daneben gibt es auch Geschichtsforscher, welche auf andere Kriegsbeteiligte als nicht weniger Schuldige verweisen. Mit der bei vielen deutschen Historikern typischen Verbissenheit wird so in der Nachbetrachtung des Ersten Weltkriegs um Kriegsschuld versus Kriegsunschuld gefochten.
Im Vorwort hĂ€lt Fischer fest, dass sein Buch weder Anklage noch Verteidigung sei. »Beides ist nicht Aufgabe des Historikers.«5 Dieser habe Tatsachen festzustellen, sie in den Zusammenhang von Ursachen und Folgen einzuordnen und die Vorstellungen, Zielsetzungen und EntschlĂŒsse einzelner Personen als Faktoren der politischen Willensbildung zu »verstehen«, ohne zu zensieren oder zu entschuldigen. Auch sollte der Historiker vermeiden, vereinfachend und damit entstellend fĂŒr eine spĂ€ter als verhĂ€ngnisvoll erkannte Entwicklung einen »SĂŒndenbock« an den Pranger zu stellen.
Der von den anderen GroĂmĂ€chten Europas als so bedrohlich empfundene »Griff nach der Weltmacht« Deutschlands war vornehmlich eine Geschichte des Scheiterns. Dem Kaiserreich war es nicht gelungen, die ZusammenschlĂŒsse der EntentemĂ€chte 1904 und 1907 zu verhindern. Bei allen kolonialen und internationalen Streitigkeiten, ob in Samoa, Marokko, Westafrika, SĂŒdamerika oder am Persischen Golf, gingen die Diplomaten Wilhelms II. als Verlierer vom Platze. Nur in der bosnischen Annexionskrise konnte sich Berlin erfolgreich fĂŒr die Interessen Wiens einsetzen â was sich indes als Pyrrhus-Sieg herausstellen sollte. Inzwischen gilt Fischers These, Deutschland habe im Juli 1914 den Weltkrieg entfesselt, weil es nach »Weltherrschaft« strebte, als wissenschaftlich abgetan. Fischers Verdienst bleibt jedoch, die Diskussion ĂŒber den Ursprung des Krieges grundsĂ€tzlich angeregt zu haben. Ohne diese Debatte wĂ€re auch das vorliegende Buch vermutlich nicht geschrieben worden. Es soll helfen, Fischers einseitigen Blick auf das Kaiserreich mittels eines Rundblicks auf die anderen Akteure zu ergĂ€nzen. Der Krieg war das Ergebnis eines irrsinnigen imperialen Zeitalters, in dem vor allem um neue MĂ€rkte gerungen wurde. Und hinter der Entscheidung standen keineswegs die Völker der beteiligten LĂ€nder â nein, es waren jeweils nur eine Handvoll MĂ€nner: Hasardeure, die aus Gier und Machtbesessenheit an der Stellschraube zum Krieg gedreht hatten. Nicht anders als heute auch.
Das vorliegende Werk beleuchtet die Parallelen von 1914 zu 2014 und zeigt, wie auf den Anschlag von Sarajevo und den von New York (9/11), der mit seiner Symbolkraft durchaus vergleichbar ist, reagiert wurde und noch heute reagiert wird. 1914 bestand das politische Ziel der AttentĂ€ter in der Destabilisierung Ăsterreich-Ungarns und der Eroberung von dessen sĂŒdöstlichen Provinzen â ein Ziel, das bekanntlich 1918 verwirklicht wurde und zur GrĂŒndung des mittlerweile blutig zerbrochenen Jugoslawiens fĂŒhrte. Und 2014? Welche Motive verfolgen kriegstreiberische Eliten heute? Auch darauf versucht das Buch, Antworten zu geben.
In allen Parlamenten und Ministerien gab es Personen, die noch in letzter Minute den Frieden retten wollten, aber eben auch Vertreter, die im Krieg die einzige Lösung sahen, und wieder andere, denen es nur um ihre ganz eigenen Interessen ging. Eine kurzsichtige Kriegsschulddiskussion verhindert den Blick auf die tiefer liegenden GrĂŒnde sowie die komplexe Entwicklungsgeschichte. Hier reicht es nicht aus, die diplomatische Geschichte Europas von 1870 an zu bewerten. Marksteine in der Entwicklung auf den August 1914 hin dĂŒrften ebenso in der Französischen Revolution samt den Eroberungskriegen Napoleons wie auch in den verheerenden VerwĂŒstungen des DreiĂigjĂ€hrigen Krieges liegen â geschichtliche Traumata, abgespeichert im kollektiven GedĂ€chtnis. Vielleicht gehen manche Grundprobleme sogar auf die Zeit Karls des GroĂen zurĂŒck. Als exemplarisch ist auch die Geschichte des Kosovo anzusehen, die untrennbar verbunden ist mit der historischen Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389. Derartige nationale, transgenerationale Geschichtstraumata können beweint oder politisch ausgebeutet werden. Im letzteren Fall werden sie zum explosiven Gemisch, wenn sie nationalistisch unterfĂŒttert und von der Presse instrumentalisiert werden. Dazu kommen die Probleme des industriellen Wandels und der VerstĂ€dterung. Ferner sind zu berĂŒcksichtigen: die Ăbervölkerung, die Versorgung, der Welthandel, die Rohstoffe, die Kolonien, das internationale Kapital und letztlich die alles ĂŒberlagernden geopolitischen Interessen.
Heute wird peinlich darauf geachtet, den in Versailles zweifellos diktierten Vertrag als Friedensvertrag zu bezeichnen. Obwohl die deutsche Delegation zu den langwierigen mĂŒndlichen Verhandlungen ĂŒber den Vertragsinhalt nicht zugelassen war, musste sie am 28. Juni 1919 â exakt fĂŒnf Jahre nach dem Terroranschlag in Sarajevo â nach ultimativer Aufforderung den vorgelegten Vertrag unterzeichnen. Nachdem im Weigerungsfall mit dem Einmarsch von Truppen gedroht wurde, unterzeichneten die Deutschen unter Protest. Auch nach damaligem RechtsverstĂ€ndnis war ein Vertrag, der durch Drohung zustande gekommen war, nichtig.
Im Vergleich zu Versailles war der 1648 in MĂŒnster und OsnabrĂŒck geschlossene »WestfĂ€lische Frieden« geradezu nobel. Hier haben die ehemaligen Kriegsgegner nĂ€mlich gemeinsam die Bedingungen fĂŒr den Frieden ausgehandelt. An dieser Stelle muss auch auf die Friedensverhandlungen von 1814 und 1815 hingewiesen werden, bei denen dem Vertreter des völlig besiegten Frankreichs ein Mitspracherecht auf Augenhöhe eingerĂ€umt wurde. Die Friedensbedingungen waren dann auch fĂŒr Frankreich sehr milde. Die SiegermĂ€chte hatten das zukĂŒnftige machtpolitische Gleichgewicht als Verhandlungsziel vor Augen und nicht, wie ca. 100 Jahre spĂ€ter, die DemĂŒtigung, Verleumdung, Ausbeutung, Verelendung, Ausgrenzung und völlige Niederwerfung des besiegten Volkes. Die Strategie der Sieger von 1918 war dumm und gefĂ€hrlich. Sie bĂŒrdete der jungen deutschen Demokratie eine lebensgefĂ€hrliche Hypothek auf und dĂŒngte den Acker, auf dem der Ungeist heranwuchs, der zum Zweiten Weltkrieg fĂŒhren sollte.
Nun ist zu hoffen, dass sich nach hundert Jahren auch in Deutschland eine komplexere Sicht auf diese katastrophale Zeitenwende einstellt. Es geht nicht darum, Kriegsschuld oder -unschuld zu beweisen. Vielmehr kommt es darauf an, gemeinsam zu untersuchen, wie es zu diesem verheerenden Krieg kommen konnte. Nur dann wird man Àhnliche Entwicklungen in unserer Zeit besser erkennen und hoffentlich verhindern können.
ZurĂŒck zu Kaiser Wilhelm II. und der Schwierigkeit, sich von seiner Person ein objektives Bild zu machen. Sein Hang zu groĂem Pomp und militĂ€rischem Prunk sowie sein forsches und schillerndes Auftreten brachten dem Monarchen von seinen besorgten wie auch konsternierten Zeitgenossen zu Recht Kritik ein, die hĂ€ufig bis zur Verleumdung gesteigert wurde. Doch schon vor 50 Jahren forderte der englische Bismarck-Biograf Ian F. D. Morrow6, Wilhelm II. so darzustellen, wie »er sich dem heutigen, verstĂ€ndnisvolleren, besser informierten Historiker offenbart«.7 Dieser Appell wird bis heute weitgehend ĂŒberhört. Es ist zu hoffen, dass er jetzt endlich ernst genommen wird. Auch dazu möchte das Buch beitragen. Es wagt den Versuch, die Epoche Wilhelms II. aus der damaligen Zeit heraus verstehend zu schildern.
Zweifelsohne gehörte Wilhelm II. schon vor 1914 zu den Schicksalsfiguren der deutschen Geschichte. Aber spiegelte seine Persönlichkeit nicht die Chancen und die Hoffnungen des englischen und des deutschen Volkes wider? HĂ€tte nicht der Lieblingsenkel der britischen Queen Victoria zum GlĂŒcksfall fĂŒr die EnglĂ€nder und fĂŒr die Deutschen werden können? So war er als Kind und Jugendlicher hĂ€ufig gern gesehener Gast nicht nur im Windsorpalast, sondern auch im schottischen Schloss der Queen.
Queen Victoria lieĂ sich von ihrer Tochter Victoria Adelaide ĂŒber die Erziehung ihres ersten Enkels immer auf dem Laufenden halten. Die Zuneigung des Kaisers zu seiner GroĂmutter und das eher schwierige VerhĂ€ltnis zu seiner Mutter, der »EnglĂ€nderin«, der am Berliner Hof mit groĂem Misstrauen begegnet wurde, und dem ebenfalls ungeliebten Onkel Edward, dem spĂ€teren englischen König, lieĂen wohl in Wilhelm II. jene oft beschriebene Hassliebe entstehen, die seine Beziehung zu England nach dem Tode Victorias prĂ€gen sollte. Trotz aller familiĂ€ren Querelen fĂŒhlte sich der Hohenzoller mit englischen Vorfahren als Freund der Briten.
An der MittelmeerkĂŒste Nordafrikas rivalisierte England mit Frankreich. Bismarck konnte sich auf eine kontinentale Politik beschrĂ€nken und kam somit England nicht in die Quere. Zudem war England auch wirtschaftlich ein Koloss, das soeben gegrĂŒndete zweite Deutsche Reich hingegen ein Zwerg. Doch Deutschlands Volkswirtschaft wuchs rasant und begann um die Jahrhundertwende die britische zu ĂŒberflĂŒgeln. Das Deutsche Reich wurde nun zum Konkurrenten, der dem British Empire im Welthandel stĂ€ndig wachsende Marktanteile abnahm, und als solcher als Bedrohung fĂŒr den eigenen Wohlstand empfunden. Die britischen Imperialisten reagierten darauf in altbewĂ€hrter Manier, nĂ€mlich durch Bildung einer Allianz mit dem Ziel, den Rivalen bei passender Gelegenheit zu erledigen.
Wilhelm II. als VierjÀhriger mit seinem Vater Friedrich Wilhelm auf Schloss Balmoral, Schottland (1863). Rechts: Wilhelm II. als 24-JÀhriger in schottischer Tracht. Das Foto signierte er mit »I bide my time« (Ich warte, bis meine Zeit kommt) (© Abb. 1)
Soweit einige Schlaglichter auf die machtpolitische Konstellation vor dem Krieg, die zeigen sollen, wie hochkomplex die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen miteinander verwoben waren. Ziel dieses Buches soll sein, die verwickelte Situation gegenseitiger KonkurrenzverhĂ€ltnisse und Interessenlagen transparent zu machen. In diesem Zusammenhang muss die These eines »zweiten DreiĂigjĂ€hrigen Kriegs« (Charles de Gaulle 19418 und Winston Churchill 1944 und 19489) neu diskutiert und der Frage nachgegangen werden, ob Wilhelm II. eine Kollision hĂ€tte verhindern können.
Den Beginn des Buches bildet eine kurze Rekapitulation der europĂ€ischen MachtkĂ€mpfe seit der Reformation, die zu den verhĂ€ngnisvollen Konstellationen Ende des 19. Jahrhunderts fĂŒhrten, woraufhin sich die RivalitĂ€ten zuspitzten. Zum VerstĂ€ndnis der historischen Wurzeln ist diese RĂŒckblende unverzichtbar. Der DreiĂigjĂ€hrige Krieg und die koloniale Eroberung Nordamerikas sind dabei besonders wichtig. AnschlieĂend nĂ€hert sich die Betrachtung dem Brennpunkt Balkan, der zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde. Der Grund aber lag nicht in Serbien, sondern im Spiel der Macht- und Profitinteressen, von einigen wenigen Hasardeuren hinter den Kulissen skrupellos gespielt â oft ohne Wissen der offiziellen Machthaber. So kam es trotz des allgemeinen Friedenswillens zum Countdown in die Katastrophe. Exemplarisch sowohl fĂŒr die Hybris der Strategen als auch fĂŒr das Leiden des einzelnen Soldaten steht die folgende Schilderung des »Handstreichs gegen LĂŒttich« Anfang August 1914. Nach einer Bewertung der Motive und Folgen des »GroĂen Kriegs« folgt schlieĂlich die Analyse der Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika. Deren Aufstieg zur einzigen Weltmacht ist untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden und nimmt daher in dem Buch gröĂeren Raum ein. Amerikas Eintritt hat den Sieg der Entente erst ermöglicht und damit auch das Ergebnis von Versailles.
Die Ungerechtigkeiten des Vertrags von Versailles waren eine der wesentlichen Ursachen fĂŒr den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Danach konnten die USA ihren BrĂŒckenkopf Europa mit dem Zentrum in der neu geschaffenen Bundesrepublik Deutschland weiter ausbauen. So zieht sich die Linie der erfolgreichen Strategie der USA ĂŒber den Kalten Krieg und den ...