TEIL 1
WAS IST SPIRITUALITĂT? UND WAS IST RATIO?
In diesem Buch geht es nicht um Religion und ihre hypnotisierenden Kulte und Riten, sondern um die Erfahrung und das Empfinden von SpiritualitĂ€t, also um ein â wie Einstein es nannte â tiefgreifendes GefĂŒhl, welches das menschliche Handeln richtungsweisend mitbestimmt und sinnstiftend ist, denn ein Leben ohne SpiritualitĂ€t kann sich nur auf Materialismus und RationalitĂ€t stĂŒtzen. Das Problem ist aber (wie in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden), dass sich diese beiden so gepriesenen Grundelemente des heutigen Lebens von einem hypnotischen Glauben nĂ€hren â und zwar von dem Glauben, dass wir mit unserer Vernunft bessere Entscheidungen treffen und das Materialistische dieser Welt leichter in den Griff bekommen können. Dem ist aber, wie ich ausfĂŒhren werde, mitnichten so, denn sonst brĂ€uchten so viele von uns nicht auf legale wie illegale Drogen zurĂŒckzugreifen, um ihre zermĂŒrbende innere Orientierungslosigkeit zu ĂŒberdecken.
Es geht in diesem Buch also hauptsĂ€chlich um die Bedeutung von SpiritualitĂ€t fĂŒr unser Leben, und zwar von wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus gesehen. Um dies besser zu verstehen und entsprechend zu verinnerlichen, muss eine erweiterte Definition von Vernunft und Ratio in Betracht gezogen werden, denn wir mĂŒssen uns fragen, ob es tatsĂ€chlich nur eine solche gibt oder ob wir nicht besser von unterschiedlichen Formen der Vernunft sprechen sollten â zum Beispiel von praktischer und theoretischer Vernunft und von niederer (Vorratio),1 höherer und spiritueller Ratio (Vernunft). Nur eine höhere bzw. eine spirituelle Ratio kann uns den Weg zeigen, Gut von der »BanalitĂ€t des Bösen« und Richtig von Falsch zu unterscheiden.
Weiterhin ist zu erörtern, ob der gewollte Gegensatz zwischen SpiritualitÀt (oft mit IrrationalitÀt gleichgesetzt) und Wissenschaft (de facto gleichbedeutend mit RationalitÀt) tatsÀchlich so flÀchendeckend existiert, wie uns das hypnotisch vorgegaukelt wird.
Der Unterschied zwischen Religion und SpiritualitÀt
WĂ€hrend Religion von Menschen fĂŒr Menschen erdacht und verkĂŒndet wird und sich dank Riten und Liturgien zum »Opium des Volkes« â also in ein hypnotisierendes Dogma â verwandeln kann, ist SpiritualitĂ€t etwas ganz anderes. GrundsĂ€tzlich entspringt sie einer natĂŒrlichen GefĂŒhlserfahrung des Menschen. Albert Einstein beschrieb dies in sehr anschaulicher Weise: »Meine Religion besteht in demĂŒtiger Anbetung eines unendlichen geistigen Wesens höherer Natur, das sich selbst in den kleinen Einzelheiten kundgibt, die wir mit unseren schwachen und unzulĂ€nglichen Sinnen wahrnehmen können. Diese tiefe gefĂŒhlsmĂ€Ăige Ăberzeugung von der Existenz einer höheren Denkkraft, die sich im unerforschlichen Weltall manifestiert, bildet den Inhalt meiner Gottesvorstellung.«2 (Hervorhebung durch die Autorin)
Diese Art spiritueller Empfindung bedarf keiner Lehrer, keiner Lehren und keiner Meister. SpiritualitĂ€t bedeutet die gefĂŒhlte Erfahrung der Existenz einer höheren Lebensdimension, deren Vorstufen oft auch in einem natĂŒrlichen Gerechtigkeitsempfinden, in Empathie und ethischen Vorstellungen ihren Ausdruck finden können. Denn wir »empfinden« Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, wir »verspĂŒren« Empathie, wir »fĂŒhlen« Ethik (nicht umsonst sagen wir oft, dass sich etwas richtig oder falsch »anfĂŒhlt«). Dieses »moralische« Empfinden ist genetisch und somit biologisch bedingt, da es auf Erfahrungen der Evolution beruht, und ist auch bei Wölfen, Hunden und natĂŒrlich bei den Primaten zu finden.3 (Hierzu kann ich wĂ€rmstens ein Video des bekannten Primatologen Frans de Waal ĂŒber den Gerechtigkeitssinn von Kapuzineraffen empfehlen.4)
Selbst bei unseren nahen Verwandten ist dieses Empfinden von »gerecht« oder »ungerecht« nicht nur auf das eigene Ego beschrĂ€nkt, das heiĂt, das GefĂŒhl von »Ungerechtigkeit« (oder »Moral«) wird nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern auch in Bezug auf andere Individuen der eigenen Gruppe empfunden: Wenn Bonobos beispielsweise wĂ€hrend eines Experiments bemerken, dass ihre Artgenossen kein Futter abbekommen haben, geben sie ihnen etwas von ihrem ab.5
Wir Menschen empfinden zwar Liebe und MitgefĂŒhl, aber auch Hass und Missgunst. Dabei handelt es sich um GefĂŒhle, genau wie bei der echten SpiritualitĂ€t. (Es gibt nĂ€mlich auch eine unechte, die darin besteht, nur so zu tun, als ob man »spirituell« sei â etwa, um sich einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fĂŒhlen.)
Echt empfundene SpiritualitĂ€t ist in den meisten FĂ€llen eine lebenstragende Kraft. Sie ist sinnstiftend und eine Art Kompass, denn sie zeigt mit fast zweifelsfreier PrĂ€zision, wohin der Lebensweg gehen sollte, und entfernt sich automatisch von den »animalisch-primitiven« und oft negativen GefĂŒhlen, die uns nach wie vor genetisch belasten â wie zum Beispiel Habgier, Neid und Machtstreben (Stichwort Alphatier). Diese machen es Menschen, die uns aus Eigeninteresse in dieser niederen Dimension halten wollen, ziemlich leicht, uns entsprechend zu manipulieren und die Gesellschaft so zu gestalten, dass sie ihren egoistischen Zielen entgegenkommt.
Wenn lange genug behauptet wird, dass das Spirituelle irrational ist und dass es stattdessen rational, also »richtig« sei, Macht anzustreben oder auf Kosten anderer zu sehr viel Geld zu kommen, können Menschen nichts anderes tun, als diese eigentlich negativen Eigenschaften als Grundpfeiler unseres Lebens zu betrachten; sie werden sie somit verinnerlichen und entsprechend handeln. Es heiĂt ja oft »Der Ehrliche ist der Dumme« â aber letztlich ist er der innerlich GlĂŒckliche(re). Wir wĂ€hnen uns intelligent, wenn wir nur der Ratio folgen und das Spirituelle gĂ€nzlich auĂen vor lassen â aber ist dem wirklich so?
Unsere hypnotisierte Zivilgesellschaft (in meinem Buch Die hypnotisierte Gesellschaft detailreich dargelegt) muss sich die Frage stellen, ob Gott tatsĂ€chlich tot ist â und mit Gott ist hier nicht eine anthropomorphe Gestalt gemeint, sondern eine höhere, universelle Denkkraft, das schöpferische Prinzip, wie Einstein es einst beschrieb. Vermutlich ist das uns vorgegaukelte glĂŒckliche Leben voller materieller Dinge in vielen FĂ€llen unterschwellig ein zutiefst frustrierendes und unglĂŒckliches, weil es von jeglichem religiösen Glauben und von den meisten spirituellen Ankern losgelöst ist. Wenn uns all das so glĂŒcklich machen wĂŒrde, warum mĂŒssen sich so viele in Antidepressiva flĂŒchten oder unter psychosomatischen Krankheiten leiden?
Hypnotisiert von einer seit Jahrzehnten propagierten PseudorationalitĂ€t, verspĂŒren inzwischen viele von uns, dass uns eine wertvolle Möglichkeit genommen wurde, unser Leben in eine höhere Dimension einzubetten und es nicht nur auf die simple, rein materielle Sinnhaftigkeit des Survival of the Fittest (Villa und Rolex) oder auf die biologisch diktierte Reproduktion (Familie grĂŒnden und Kinder bekommen) zu reduzieren (so sehr Letzteres der Erhaltung der Spezies dient).
Die innere Leere, die diese niedere Vernunft und das Negieren einer höheren Dimension in uns Menschen erzeugt haben, wird auch in unseren alltĂ€glichen Handlungen spĂŒrbar â anders lieĂen sich so manche fragwĂŒrdigen Verhaltensweisen der Menschen nicht erklĂ€ren: Da kauft sich jemand Sneakers fĂŒr 1,5 Millionen Euro6 (trotz der Tatsache, dass tagtĂ€glich Kinder an Armut sterben); junge MĂ€dchen prostituieren sich, um ihren Schulkameradinnen eine neue Original Gucci-Tasche vorzeigen zu können,7 und immer mehr schieben sich Kokain in die Nase, um besseren Sex oder einfach nur SpaĂ zu haben.8 (Nebenbei: FrĂŒher nahmen die Menschen Drogen, um mystische, also spirituelle oder bewusstseinserweiternde Erfahrungen zu machen.9)
Diese Verhaltensweisen entspringen einer Strategie, die uns stĂ€ndig glauben macht, ethische Prinzipien seien »relativ« und nicht allgemeingĂŒltig: Auf diese Weise verwirrt, verlieren die Menschen ihr GespĂŒr fĂŒr echte, Lebenssinn stiftende Werte.
Die AbgrĂŒnde solcherart verkĂŒmmerter Seelen werden uns tagtĂ€glich vor Augen gefĂŒhrt: Das geht vom steigenden Konsum extremer Pornoszenen (gerade bei MinderjĂ€hrigen)10 bis zur allgegenwĂ€rtigen Ausbreitung der PĂ€dophilie (von diversen Parteien und VerbĂ€nden in Europa bis vor wenigen Jahren als »schutzwĂŒrdige Expression der sexuellen Freiheit« gerechtfertigt11).
Als weitere Beispiele seien hier auch die sichtbar gewordene Korruption der Politiker12 und die Machtbesessenheit der Ultrareichen erwĂ€hnt. Letztere verfolgen unter dem Vorwand, den Planeten retten zu wollen, so manche Agenda zu ihren Gunsten13 und tun zuweilen sogar genau das Gegenteil dessen, was sie verkĂŒnden: Amazon, Microsoft und Apple haben Gruppen unterstĂŒtzt, die den von den US-Demokraten vorgestellten Gesetzentwurf zum Klimaschutz bekĂ€mpften.14
Wir alle wissen unterschwellig, dass uns spirituelle GefĂŒhle â oder zumindest ein weitgehend kollektives Empfinden von Ethik und Gerechtigkeit â dazu befĂ€higen wĂŒrden, eine bessere Gesellschaft zu gestalten als die heutige. Leider aber haben die meisten von uns im Namen der Ratio (die eigentlich eine Pseudo- oder Vorratio15 bzw. eine niedere ökonomische Ratio ist) der SpiritualitĂ€t den RĂŒcken gekehrt.
Ich werde versuchen aufzuzeigen, dass und wie uns der Begriff der »RationalitĂ€t« bzw. der Begriff der Vernunft seit Langem hypnotisch in seinem Bann hĂ€lt und dass wir unbedingt aus dieser Hypnose erwachen mĂŒssen, wenn es uns ernst damit ist, ein aufrichtigeres Miteinander und eine bessere Gesellschaft zu gestalten.
Ein Leben ohne Glauben?
Vor 40 Jahren schrieb Marion GrĂ€fin Dönhoff, eine der angesehensten deutschen Journalistinnen und Mitherausgeberin der Zeit: »Ohne das Wissen um eine höhere Macht ist der Mensch seiner eigenen Arroganz und MaĂlosigkeit ausgeliefert. [âŠ] Erst die Negierung alles Metaphysischen hat die totalitĂ€re Macht des Menschen ĂŒber den Menschen möglich gemacht und den absoluten Terror zur RealitĂ€t werden lassen. [âŠ] Ohne jene ĂŒbergeordnete AutoritĂ€t fehlen ihm die Orientierungsmarken, hĂ€lt er sich selbst fĂŒr allmĂ€chtig, bis er â dieser Omnipotenz schlieĂlich ĂŒberdrĂŒssig â nicht einmal mehr an sich selber glaubt.«16 (Hervorhebung durch die Autorin)
Einem solchen Menschen bleibt nichts anderes ĂŒbrig, als die Stimme des eigenen frustrierten und unglĂŒcklichen Egos durch unkontrolliertes Kaufverhalten, obsessiven Sex oder berauschende Modedrogen zum Schweigen zu bringen. »Wenn es keinen transzendenten Bezug gibt«, so Dönhoff weiter, »dann wird in dieser immer komplexer, immer verwirrender werdenden Welt die Hilflosigkeit, die ein Charakteristikum der heutigen Generation zu sein scheint, am Ende zur Verzweiflung in Permanenz. [âŠ] Die Furcht vor dem Nichts (und die ausschlieĂliche Diesseitigkeit, also der totale Positivismu...