Jewish Roulette
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Jewish Roulette

Vom jĂŒdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen

Shelley KĂ€stner

  1. 180 pages
  2. German
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  4. Disponible sur iOS et Android
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Jewish Roulette

Vom jĂŒdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen

Shelley KĂ€stner

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Sind Sie jĂŒdisch? Sind Sie es nicht? Sind Sie sicher? Die jĂŒdische IdentitĂ€t gibt es nicht. Es gibt unzĂ€hlige Abstufungen davon, wie man jĂŒdisch sein kann. Shelley KĂ€stners Interviewbuch "Jewish Roulette" zeigt die vielseitigen Facetten der ererbten, angenommenen oder verloren gegangenen Zugehörigkeit zum Judentum und spannt den Bogen vom orthodoxen Atheisten bis zum jĂŒdischen Erzbischof.Manche von Shelley KĂ€stners GesprĂ€chspartnerinnen und GesprĂ€chspartnern pflegen ein liberal religiöses, ein traditionelles oder ein sĂ€kular kulturelles Judentum. Einige von ihnen sind in traditionsreichen jĂŒdischen Familien aufgewachsen, andere sind vom Judentum zum Christentum oder vom Christentum zum Judentum konvertiert, wieder andere haben erst spĂ€t erfahren, dass sie ĂŒberhaupt jĂŒdisch sind. Und einige leben schlicht ĂŒberhaupt keinen Glauben. In "Jewish Roulette" wird eine große Bandbreite vielseitiger, spannender, humorvoller und nachdenklicher Lebensgeschichten von 14- bis zu 88-JĂ€hrigen prĂ€sentiert. Was bedeutet es, "jĂŒdisch" zu sein? Was wird unter "jĂŒdisch" verstanden? Welchen Einfluss hat dies allenfalls auf die IdentitĂ€tsbildung? Welche Reaktionen kommen von außen? Welche persönlichen Schicksale stehen hinter dieser Zuordnung? "Jewish Roulette" ist ein ĂŒberzeugendes PlĂ€doyer fĂŒr Offenheit, Vielfalt und IndividualitĂ€t.

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Informations

Éditeur
Salis Verlag
Année
2021
ISBN
9783906195797
Édition
1
Sous-sujet
Jewish Studies

MAN SOLLTE ALLES HINTERFRAGEN UND NICHT MITLÄUFER SEIN

Eduard Kornfeld ist trotz seiner neunundachtzig Jahre ein Jungspund. Er schaute mir mit seinen klaren blauen Augen direkt ins Herz. Von seiner Lebensgeschichte war ich so betroffen, dass ich MĂŒhe hatte, meine TrĂ€nen zurĂŒckzuhalten. Gleichzeitig erstaunte er mich mit seinem offensichtlich ungebrochenen Lebenswillen. Herr Kornfeld hat zu mir gesagt: »Ich bin erstaunt, wie genau Sie das erfasst haben, was mir damals passiert ist.« Das hat mich sehr berĂŒhrt. Obwohl es in diesem Buch nicht explizit um den Holocaust geht, finde ich es wichtig, dass auch nachfolgende Generationen ĂŒber den Horror des Holocaust Bescheid wissen.
Ich brauche keinen Psychiater. Was kann der mir helfen? War er im KZ? Das Wichtigste im Leben ist, dass man zufrieden ist. Bevor ich mir die ZĂ€hne putze, schaue ich hinaus auf den See. Ich denke: »Ich habe wieder einen Tag vor mir.« Jeder Tag ist ein Geschenk. Ich habe Freude. Nichts spielt eine Rolle. Gott behĂŒte, wenn man todkrank ist, das ist etwas anderes, aber man soll das Leben genießen. Ich bin glĂŒcklich, jeden Tag, und ich freue mich an allem. Und das ist mein Ziel.
Ich sollte eigentlich ein religiöser Jude sein, weil ich tausend Mal dem Tod entronnen bin. Ich werde das Judentum bestimmt nicht verraten, aber ich habe meine Probleme mit der Religion. Ob es Gott gibt oder nicht, weiß ich nicht. Aber in Auschwitz war er nicht, sonst hĂ€tte er nicht zuschauen können, wie tĂ€glich Abertausende Kinder, Frauen, MĂ€nner, junge und alte, bestialisch ermordet wurden: vergast, zu Tode gehungert, erschossen, erschlagen. Wir sind das auserwĂ€hlte Volk? Auf diese AuserwĂ€hltheit kann ich verzichten.
Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr bin ich in eine religiöse, aber moderne Familie hineingewachsen. Ich wurde als Jude erzogen und möchte Jude bleiben. Obwohl ich gelitten habe, oder vielleicht sogar gerade deshalb. Ich habe mich verpflichtet gefĂŒhlt, meinen Kindern das Judentum weiterzugeben, weil ich diesbezĂŒglich ein ZugehörigkeitsgefĂŒhl habe und weil ich nicht wollte, dass sie irgendwelchen Gurus nachlaufen. Am Sabbat42 gehe ich in die Synagoge, weil ich die Gesellschaft schĂ€tze. Dort finde ich meine Freunde. Leider sterben sie langsam aus. FrĂŒher bin ich noch wegen der Kinder an Rosch ha-Schana43 und Jom Kippur44 in die Synagoge gegangen. Man sitzt von morgens bis zwei Uhr nachmittags und hört, wie gnĂ€dig Gott ist. Kann ich das nach dem Holocaust noch? Ich will nicht leiden. FĂŒr mich war das eine Plage. Ich habe nur Auschwitz gesehen, wie einen Film, der ablĂ€uft, nur Auschwitz, Auschwitz, Auschwitz. Ich kann mich an alles ganz genau erinnern. Im Alter wird es schlimmer, weil man im Alltag nicht mehr so viel kĂ€mpfen muss. In Auschwitz gab es kein Rosch ha-Schana, kein Jom Kippur, keinen Sonntag, keinen Montag, keinen Sabbat. Die Gaskammern haben ununterbrochen gearbeitet, egal ob Feiertag war oder nicht.
Seit Jahren gehe ich an Rosch ha-Schana in die Berge, weil ich nicht dasitzen und Gott loben kann. Ich beschĂ€ftige mich nicht damit, ob es ihn gibt oder nicht gibt. Beten hat fĂŒr mich keine Bedeutung. Obwohl ich Jude bin, habe ich auch nicht diese Ängste: »Gott wird strafen 
!« Wenn es Ihn gibt, dann habe ich Forderungen an Ihn. Man hat mir meine Jugend genommen, meine Geschwister, meine Eltern. Wenn ich heute an sie denke, dann bin ich dreizehn, nicht neunundachtzig. Der Holocaust mit all seinen Schrecken hat mein Leben geprĂ€gt. Aber hadern nĂŒtzt nichts. Ich versuchte, das Beste daraus zu machen.
Als ich einmal in Berlin war, habe ich das Denkmal fĂŒr die ermordeten Juden besucht. Die Deutschen sind die Einzigen, die zugegeben haben, was sie getan haben. Die Deutschen waren ja auch die Schlimmsten. Aber andere Nationen haben auch mitgemacht. Nur, die wollen davon nichts wissen, nicht Frankreich, nicht die Slowakei, und Ungarn sowieso nicht. Sie haben alle mitgemacht. In diesem Sinne hat mich das Denkmal in Berlin schon beeindruckt. Es ist großartig, wenn sich Leute engagieren.
In der Slowakei, in Ungarn, in Polen war man sehr antisemitisch. Ich lebte als Kind in Bratislava, sechzig Kilometer von Wien entfernt. Es gab dort sehr viele DeutschstĂ€mmige. 1929 bin ich geboren worden, und 1933 hat alles angefangen. Damals ist die Hitler jugend schon marschiert. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich den Judenstern tragen mĂŒssen. Dann haben die Ă€lteren SchĂŒler und Studenten angefangen, mir Steine nachzuwerfen und mich zu ohrfeigen und zu schlagen. Bevor Hitler an die Macht gekommen ist, war es nicht so schlimm, aber man hat es schon gespĂŒrt. Vielleicht hat man mal das Wort »Saujude« gehört. Warum sind wir nicht frĂŒher gegangen? Man wusste ja nicht, wie schlimm es werden wĂŒrde. Und wohin hĂ€tten meine Eltern mit ihren sechs Kindern auch gehen sollen? Kein Mensch wusste, wohin man hĂ€tte flĂŒchten können, und man hat ja auch fĂŒr nirgendwo ein Visum bekommen. Meine Eltern haben von uns sechs Kindern nur meinen Ă€lteren Bruder und mich nach Ungarn vorausgeschickt. Da war ich dreizehn Jahre alt und mein Bruder war fĂŒnfzehn. Wir haben uns ein Jahr lang gemeinsam in Budapest versteckt. SpĂ€ter hat ein Onkel, der in Ungarn lebte, fĂŒr mich die Verantwortung ĂŒbernommen. Er konnte das, weil ich noch nicht fĂŒnfzehn war. Die Ungarn haben uns Juden grausam behandelt. Genau so hatte es bereits vorher in Bratislava begonnen: Die Juden mussten ihre Radios abgeben. Die Juden mussten ihr Gold abgeben. Ich durfte nicht mehr zur Schule gehen und musste mich jede Woche bei der Polizei melden. 1944 wurde ich dann mit einem ungarischen Transport mit meinem Onkel und seiner Familie nach Auschwitz deportiert.
Mein Bruder blieb weiterhin versteckt. In Budapest gab es HĂ€user, die vom Schweizer Botschafter Carl Lutz unter Schutz gestellt worden waren. So hat er einige tausend Menschen gerettet. Als mein Bruder sich fĂŒr einen Transport ins KZ hĂ€tte bereit machen sollen, hat er ein Paket genommen und gesagt: »Ich bin AuslĂ€ufer. Ich muss dieses Paket jemandem, der in diesem Haus dort wohnt, persönlich ĂŒbergeben.« Und dann ist er die letzten vier Monate des Krieges in einem Haus von Botschafter Lutz geblieben. Nach der Befreiung wollte mein Bruder nach PalĂ€stina. Er ging auf ein Schiff. Die EnglĂ€nder haben ihn aber nicht ins Land gelassen, sondern das ganze Schiff, wie sie es mit der Exodus45 auch gemacht haben, nach Zypern umgeleitet. Dann wurde er, nach allem, was er bereits durchgemacht hatte, noch eineinhalb Jahre von den EnglĂ€ndern in Zypern interniert. Als der Staat Israel gegrĂŒndet wurde, durfte mein Bruder schließlich nach Israel einwandern. Vor fĂŒnf Jahren ist er dort gestorben.
Eine meiner Cousinen ist auch ohne ihre Eltern zu meinem Onkel nach Ungarn gekommen. Sie war zwölf Jahre alt. Ich habe sie sehr gerne gehabt. Als es in Ungarn anfing, wie damals in der Slowakei, wusste ich: »Es kommt schlecht.« Da habe ich zu dem MĂ€dchen gesagt: »Lass uns abhauen.« Wir hatten natĂŒrlich keine Vorstellung von dem, was uns noch bevorstand. Aber ich hatte schon mitbekommen, dass meine Eltern und Geschwister deportiert worden waren. Aber meine Cousine hatte Skrupel und sagte zu mir: »Der Onkel hat doch fĂŒr uns garantiert.« Also, sie wollte nicht weg. Und da bin ich auch geblieben. 1944 wurden wir alle in einen Viehwaggon verfrachtet, Kinder, Alte, Junge. Man konnte kaum sitzen. Nach dieser Tortur kamen wir in Auschwitz an, und nebbich46, meine Cousine wurde sofort vergast. Wir hatten zuerst keine Ahnung, wo wir waren. Und da hör ich am frĂŒhen Morgen einen Krawall. Ich schau heraus vom Viehwaggon. Ich seh einen Zug vis-Ă -vis, der vor uns angekommen war. Und da ist eine Mutter mit drei Kindern. Ein SS-Mann reißt ihr das Baby aus den Armen und schmeißt es auf einen Lastwagen. Das ist doch unvorstellbar! Da war auch ein Ă€lterer Mann. Der war langsam. Alles musste schnell gehen. Da nimmt ihn einer von der SS am Kragen, der andere SS-Mann nimmt ihn am Fuß, und auch er wurde auf den Lastwagen geworfen.
Mein Onkel fragt: »Was ist?«, der war mit seinen zehn Kindern da.
Ich sag zu meinem Onkel: »Wir werden erschossen.« In der Wochenschau, die ich in Budapest gesehen hatte, kamen auch Soldaten mit Gewehren vor. Und fĂŒr mich war klar, im Krieg werden die Leute erschossen.
»Was redest du denn da fĂŒr einen Blödsinn?!«, sagte mein Onkel.
Ich sagte: »Schau raus!«
Das war Auschwitz. Wir wussten noch nichts vom Massenmord in den Gaskammern. Aber wenn man so etwas sieht, so etwas Schreckliches, wie man ein kleines Kind so behandelt 
 Dann ist mein Onkel in Ohnmacht gefallen. Er hatte ja auch kleine Kinder. Das ist nur eine Szene, wie ich das erlebt habe. Das ist unvorstellbar. Auch heute noch denke ich: »Das ist fast nicht zu glauben.« Diese Szenen sind so tief in mir drin!
Am ersten Tag in Auschwitz hab ich die Kamine rauchen gesehen und gefragt: »Was ist das?« Da hat mir einer geantwortet: »Das ist eine BĂ€ckerei.« Ich hatte Hunger. Ich dachte: »Wenn ich nur dort arbeiten könnte 
!« Dann hat jemand zu mir gesagt: »Bist du verrĂŒckt? Das ist das Krematorium.« Nach drei Tagen kommt ein Offizier und sagt: »Wer fĂŒhlt sich mĂŒde und schwach? Wer will gehen in eine Wurstwarenfabrik?« Sie haben 35 DepothĂ€ftlinge gesucht. Ich begann, mich vorzudrĂ€ngen. Alle haben sich vorgedrĂ€ngt. Jemand hinter mir zupfte an meiner Jacke und sagte: »Dreh dich nicht um! Verschwinde! Die gehen ins Gas!« Ich habe seinen Rat befolgt, habe mich nicht umgedreht und bin da weg. Dann habe ich erfahren, die SS wollte 15 000 vergasen, es haben aber 35 gefehlt. Dann haben sie stattdessen diese 35 DepothĂ€ftlinge genommen. Sie wollten keine Probleme. Zwei Tage spĂ€ter kam wieder ein Offizier, und ich habe gehört, wie er sagte: »Wir brauchen 44 Jugendliche, die in eine Schokoladenfabrik gehen wollen.« Ich hab gedacht: »Ich möchte auch jemanden retten. Es nĂŒtzt zwar nicht viel. Werden sie heute nicht vergast, werden sie morgen vergast.« Trotzdem wollte ich jemanden retten. Dann hab ich mir ĂŒberlegt, die sind unerfahren, wenn einer sich umdreht und sagt: »Was? Was?! Vergast?!«, und die SS hört’s 
 Und da hab ich nichts gesagt. Noch heute plagt mich das. Solche Sachen sind passiert, jeden Tag. Von den 3300 Jugendlichen aus den drei Jugendblöcken sind am Leben geblieben 250.
Es gab stĂ€ndig Selektionen. Ich konnte nicht sagen: »Der neben mir ist morgen noch da.« Elie Wiesel47, der auch in Auschwitz gewesen ist, hat gesagt: »Man hat nie gedacht an morgen.« So ist es. Man hat nur gedacht, ob man die nĂ€chste Stunde ĂŒberlebt.
Es gab 32 Baracken. In jeder Baracke waren rund 1100 HĂ€ftlinge untergebracht. Fast alles waren Juden. Ich war einer der jĂŒngsten dort. Wenn ein Gong ertönte, gab es eine Selektion. Da wusste man: »Jetzt kommt der Tod.« Wenn das dort in der Baracke vis-Ă vis stattgefunden hat, hat man gedacht: »Gott sei Dank, jetzt sind wir nicht dran.« So furchtbar das klingt. Das waren ja auch Juden. Eines Tages gab es in meinem Block eine Selektion. Die TĂŒr wurde aufgerissen. Alle mussten augenblicklich die Baracke verlassen und sich in mehreren Reihen aufstellen. 550 standen auf der einen Seite des Vorplatzes, 550 auf der anderen. Dann lief der Mengele48 an uns vorbei. Er trug eine Offiziersuniform und hatte einen Stock in der Hand. Wenn er mit dem Stock auf einen gezeigt hat, durfte man in die Baracke zurĂŒck. Alle anderen, es waren tĂ€glich Tausende, wurden noch am selben Tag in den Gaskammern umgebracht. Es war ein furchtbares GefĂŒhl. Man ist vierzehn und weiß: »Jetzt geht es in die Gaskammer.« Man dachte: »Was mache ich jetzt? Wie kann ich davonkommen?« Ich habe gesehen, dass einige beteten. Da habe ich gedacht: »Wenn das nĂŒtzt, dann bete ich auch.« Aber egal ob man gebetet hat oder nicht, genĂŒtzt hat einem alles nichts. Das kann man sich nicht vorstellen, was fĂŒr ein GefĂŒhl das ist.
Von hundert Personen hat er herausgenommen sechs, sieben, vielleicht acht. Neben mir stand ein jĂŒdischer Junge, der flĂŒsterte mir zu: »Wenn ich diese Selektion ĂŒberlebe, werde ich Christ.« Da sag ich: »Bist du verrĂŒckt geworden?« So eine Idee hatte ich vorher noch nie gehört. Auch dieser Junge wurde an diesem Tag in der Gaskammer ermordet. Ich kann das nicht vergessen.
Ich habe meine ganze Kraft gebĂŒndelt und hatte nur noch einen einzigen Gedanken: »Ich will nicht sterben!« Mengele war schon fast an mir vorbeigegangen. Da blieb er plötzlich stehen, wandte sich zu mir um und zeigte auf mich: »Wegtreten.« Ich nahm meine Jacke, die ich vorher hatte ausziehen mĂŒssen, und ging zurĂŒck in die Baracke. Danach war ich fĂŒr unbestimmte Zeit bewusstlos. Alle anderen, die er nicht ausgewĂ€hlt hatte, mussten auf die Nebenstraße, bewacht von der SS, und wurden noch am selben Tag vergast. Das ist Alltag gewesen im KZ. Mit den ungarischen Transporten sind 437 000 Juden in Auschwitz angekommen, 75 Prozent kamen sofort ins Gas.
Als ich zurĂŒckkam aus dem KZ, hab ich noch 27 Kilo gewogen, hatte eine beidseitige Lungentuberkulose und wĂ€re fast gestorben. Ich wollte einfach nur nach Hause. Dort hoffte ich, jemanden aus meiner Familie anzutreffen. Aber andere Leute lebten jetzt in unserer Wohnung. Mein Vater, meine Mutter und meine vier Geschwister waren ermordet worden. Nur mein Bruder und ich haben ĂŒberlebt. Auch meinen Onkel und meine Tante haben die Nazis vergast. Von ihren zehn Kindern war nach dem Krieg nur noch eine Cousine am Leben.
Viele der Überlebenden haben nach dem Krieg Selbstmord begangen. Sie konnten das nicht verarbeiten. Meine Tuberkulose wurde sieben Jahre lang in verschiedenen Sanatorien behandelt, drei Jah...

Table des matiĂšres

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. INHALTSVERZEICHNIS
  6. VORWORT
  7. VORWORT
  8. ES GIBT KEINE ANDEREN
  9. ZWISCHEN STÜHLEN
  10. DIE GRANDE DAME DES ISRAELISCHEN THEATERS
  11. DER FRUSTRIERENDE KONFLIKT
  12. ZURÜCK ZUR FAMILIENTRADITION
  13. HANS-RUEDI IST JETZT SCHLOMOH
  14. EINE GANZ NORMALE BAUERNFAMILIE
  15. MAN SOLLTE ALLES HINTERFRAGEN UND NICHT MITLÄUFER SEIN
  16. MEIN VATER IST EIN HOLOCAUSTÜBERLEBENDER
  17. ICH HABE MEINEN SOHN NICHT BESCHNEIDEN LASSEN
  18. GENERATION X
  19. MEIN LEBEN IST MIT EINER GROSSEN VERWIRRUNG GEPFLASTERT
  20. SAG NIEMANDEM, DASS DU JÜDISCH BIST
  21. AUCH DU?
  22. KANNST DU JÜDISCH SEIN, WENN DU DICH IN DIESER RELIGION NICHT AUSKENNST?
  23. LINKER ANTISEMITISMUS MACHT MICH KRANK
  24. MAN KANN AUCH EIN GUTER JUDE SEIN, WENN MAN DIE RELIGIÖSEN GEBOTE NICHT SO STRENG EINHÄLT
  25. DER ATHEISTISCHE ORTHODOXE
  26. SEIN ODER NICHTSEIN
  27. FÜR MICH IST DIE WAHRHEIT ENTSCHEIDEND
  28. WIR SIND ALLE GEMISCHT
  29. Dank
  30. Zur Autorin
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APA 6 Citation

KĂ€stner, S. (2021). Jewish Roulette (1st ed.). Salis Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/3478052/jewish-roulette-vom-jdischen-erzbischof-bis-zum-atheistischen-orthodoxen-pdf (Original work published 2021)

Chicago Citation

KĂ€stner, Shelley. (2021) 2021. Jewish Roulette. 1st ed. Salis Verlag. https://www.perlego.com/book/3478052/jewish-roulette-vom-jdischen-erzbischof-bis-zum-atheistischen-orthodoxen-pdf.

Harvard Citation

KĂ€stner, S. (2021) Jewish Roulette. 1st edn. Salis Verlag. Available at: https://www.perlego.com/book/3478052/jewish-roulette-vom-jdischen-erzbischof-bis-zum-atheistischen-orthodoxen-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

KĂ€stner, Shelley. Jewish Roulette. 1st ed. Salis Verlag, 2021. Web. 15 Oct. 2022.