1. IdentitÀt oder Rolle?
Vielleicht stehen Sie gerade am FuĂe eines Bergs. Vielleicht fĂŒhlen Sie sich sogar in einem besonders tiefen Tal gefangen. Wahrscheinlich fragen Sie sich dann, warum Sie gerade jetzt in dieser Situation stecken und keinen Ausweg finden. Warum Sie das GefĂŒhl haben, immer und immer wieder âgebeuteltâ zu werden, und Ihrer wahren IdentitĂ€t keinen Raum geben können. Und wie lang das gut gehen soll, bevor Sie nervlich und körperlich am Ende sind. Das ist genau das Thema, welches mich in meinem Leben stĂ€ndig begleitet und nicht in Ruhe lĂ€sst.
Mal hat man kurz das GefĂŒhl: Super, so langsam kehrt Ruhe ein. Doch bevor man sich zurĂŒcklehnen und wirklich man selbst sein kann, kommt ein neuer Schlag ins Gesicht â ohne VorankĂŒndigung. Und vorbei ist die Ruhe, nach der man sich so sehr sehnt. Was, zum Teufel âŠ? Warum schon wieder? Warum schon wieder mir? Wann darf ich meiner Persönlichkeit endlich den Raum geben, den sie braucht? Wann darf ich endlich authentisch leben, anstatt nur meine Rollen zu erfĂŒllen?
1.1 Der Ursprung unserer IdentitÀt
Wann beginnt sich unsere IdentitĂ€t zu entwickeln? Das geschieht genau in dem Moment, wenn wir zum ersten Mal bewusst âNeinâ sagen können. Wenn wir bewusst entscheiden können, ob wir etwas wollen oder eben nicht. Von da an formen wir unsere IdentitĂ€t, formen uns immer weiter zu der Persönlichkeit, die wir sein wollen.
Eltern ist es besonders wichtig, ihre Kinder zu starken Persönlichkeiten zu erziehen, die es âeinmal besser haben sollenâ als sie selbst. Alle möglichen Erziehungsmethoden werden dabei angewandt. Man tauscht sich aus, ĂŒberlegt, ob man dem Kind mehr oder weniger Entscheidungsfreiheiten lassen oder doch lieber die ârichtigeâ Richtung vorgeben soll.
Sich anpassen oder nicht?
Aber was ist denn, bitte schön, ârichtigâ? Sich in die Gesellschaft zu integrieren, nur nicht aufzufallen und dabei die eigene Persönlichkeit hintanzustellen? Zum âEinheitsbreiâ zu gehören? Oder doch besser den eigenen Standpunkt durchzuboxen â koste es, was es wolle? Zwei Extreme, klar, die aber ĂŒberall in den verschiedensten Formen vertreten sind. Wobei immer wieder eins zu beobachten ist, und das entspricht der am weitesten verbreiteten Einstellung und Handlung:
Sich anzupassen kostet weniger Energie und ist schlichtweg bequemer, als gemÀà der eigenen Persönlichkeit zu leben.
Aber sind wir dann auch zufrieden? Ist es wirklich das, was wir uns fĂŒr unser Leben wĂŒnschen? Wie geht es dem Mitarbeiter, der sich nur unterordnet, weil er so seiner Meinung nach am besten fĂ€hrt? Der jeden Tag seinen Aufgaben gleichgĂŒltig nachgeht und mit einem Auge die Uhr beobachtet? Wie sieht es bei diesem Mitarbeiter mit der Zufriedenheit aus? Oder wie geht es der Hausfrau, die aus Liebe zu ihrem Mann und den Kindern â oder schlichtweg, weil es von ihr erwartet wird â ihren Job an den Nagel gehĂ€ngt hat, um voll und ganz fĂŒr die Familie da sein zu können? Wie geht es dem Topmanager, der sich mit all seiner Kraft dem Businessalltag widmet und dabei sieht, wie seine Familie darunter leidet? Oder dem Arbeitssuchenden, der nach zig Bewerbungen keine Hoffnung mehr hat, jemals eine Anstellung in seinem Leben zu bekommen? Dem Verlassenen, der nach einer gescheiterten Beziehung ohne Hoffnung dasteht und sich in seinen vier WĂ€nden verschanzt? Ich könnte diese Liste endlos fortfĂŒhren und jeder von Ihnen wĂŒrde sich in der einen oder anderen Geschichte wiedererkennen.
Sicher ist jedoch eine Sache, die alle diese Menschen â und vielleicht auch Sie â gemeinsam haben. Sie alle fragen sich an irgendeiner Stelle in ihrem Leben: âKann das alles gewesen sein?â Die Antwort lautet: Nein!
Obwohl es viele Menschen da drauĂen gibt, die schon seit Jahren auf eingefahrenen Gleisen unterwegs sind. Die vielleicht auch fĂŒr sich nicht die Notwendigkeit sehen, irgendetwas zu Ă€ndern. Sie kennen es nicht anders und haben sich damit abgefunden. Fahren vielleicht ganz gut damit und sind halbwegs zufrieden. Diesen Menschen kann niemand die Augen öffnen. Sie mĂŒssen selbst erkennen, dass sie etwas Ă€ndern wollen, und dieses dann tun. Anders funktioniert es nicht.
Sich anzupassen kostet weniger Energie und ist bequemer, als gemÀà der eigenen Persönlichkeit zu leben. Viele Menschen sind so zumindest halbwegs zufrieden. Wenn Sie an den Punkt kommen, sich zu fragen: âKann das alles gewesen sein?â, ist es höchste Zeit, dass Sie ĂŒber Ihre IdentitĂ€t nachdenken und ĂŒber das, was Sie wirklich wollen.
1.2 Unsere Rollen im System
Zweifellos haben wir alle in unserem Leben unterschiedliche Rollen inne â einige wandeln sich im Laufe der Zeit, andere fĂŒllen wir sogar gleichzeitig aus: die Rolle des SchĂŒlers, des Auszubildenden, des Studenten, des Angestellten, des Chefs, der Mutter, des Vaters, der Tochter, des Sohns, des Partners, des Freundes etc. In diesen Rollen haben wir klare Aufgaben, wie zum Beispiel lernen, um einen guten Abschluss zu bekommen, sich in das Unternehmen einzubringen und weiterzuentwickeln, Mitarbeiter zu fĂŒhren oder Kinder zu erziehen.
Die Kunst fĂŒr den Einzelnen besteht darin, unter diesen verschiedenen Rollen nicht seine eigene IdentitĂ€t zu begraben.
Zum Beispiel mĂŒssen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Heranwachsens ĂŒber BĂŒchern brĂŒten, wenn unsere körperliche Entwicklung eher dazu drĂ€ngt, nĂ€chtelang zu feiern. Wir mĂŒssen uns in die Angestelltenrolle einfinden und unseren Platz im Team suchen, obwohl Kollegen uns als Eindringlinge und neue Konkurrenz sehen. Wir mĂŒssen die BedĂŒrfnisse unserer Kinder ĂŒber unsere eigenen stellen, weil wir die Verantwortung fĂŒr deren Gesundheit und Entwicklung tragen â zumindest solange sie dazu noch nicht selbst in der Lage sind. Oder wenn es um die Pflege von Angehörigen geht, bedeutet das fĂŒr uns als Betroffene ebenfalls, auf lieb gewonnene Dinge vorerst verzichten zu mĂŒssen.
Was ist mit Ihnen?
Angesichts all unserer Rollen, denen wir tĂ€glich gerecht werden mĂŒssen, dĂŒrfen wir unsere IdentitĂ€t nicht aus den Augen verlieren. Frei nach dem Motto: Solange ich meine Rolle gut spiele, lĂ€uft alles reibungslos und alle sind gut drauf. Und was ist mit mir?
Viele Menschen â das erlebe ich in meinem Job immer wieder â beginnen erst dann, ihr Leben zu ĂŒberdenken, wenn irgendein Ereignis sie âwachgerĂŒtteltâ hat. Das kann beispielsweise ein Unfall sein, ein Herzinfarkt oder eine niederschmetternde Diagnose, der Verlust des Arbeitsplatzes, eines geliebten Menschen oder die Trennung vom Partner. All das sind einschneidende Erlebnisse, die einen darauf stoĂen, wie wertvoll das Leben ist und wie viel Zeit wir damit verbringen, in der Gesellschaft oder in einer Partnerschaft zu funktionieren. SchlieĂlich fĂŒhlen wir uns wohl, wenn wir nicht allein sind. Wir brauchen den Partner, die Familie, Freunde, die Clique, Vereine etc. wie die Luft zum Atmen.
Andererseits richten diese wiederum Erwartungen an uns, die ihrerseits Einfluss auf unsere IdentitÀt nehmen.
Die lieben Gewohnheiten
Viele Menschen wissen zwar, in was fĂŒr einer festgefahrenen Situation sie stecken. Und sie wissen auch, dass sie etwas unternehmen mĂŒssen, um fĂŒr sich einen besseren Weg einzuschlagen, jedoch kommen ihnen hĂ€ufig ihre Gewohnheiten in die Quere. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie es nur dann leicht haben, wenn sie konform âfunktionierenâ. Sobald sie nicht mehr in der gewohnten Weise funktionieren, hat das unausweichlich Einfluss nicht nur auf sie selbst, sondern auch auf alle anderen, die sich in demselben System befinden.
Ein System ist ein Gebilde, das aus einzelnen Elementen besteht, die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Und zwar so, dass sie eine sinn- oder zweckgebundene Einheit bilden. Man kann sich das wie ein Mobile vorstellen. Sie wissen, was passiert, wenn nur ein kleines Teil seine Position verÀndert: Das ganze Ding gerÀt sofort aus dem Gleichgewicht. Genau das passiert, wenn ein Mensch in seinem System auch nur eine kleine Sache verÀndert: Das System reagiert. Zu diesem System zÀhlt alles, was uns umgibt: die Familie, Freunde, Vereine, der Job, die Nachbarschaft.
Das System bekommt Risse
Sobald sich jemand aus dem System entgegen seinen gewohnten AktivitĂ€ten verhĂ€lt, bekommt dieses vertraute System Risse â das kann zum Beispiel sein, das GesprĂ€ch mit dem Partner zu suchen, weil man sich in der Partnerschaft nicht mehr wohlfĂŒhlt, dem Vorgesetzten zu sagen, dass man eine andere Sicht auf die Dinge hat, oder der Familie kundzutun, dass man mit Mitte 30 endlich seinen Lebenstraum verwirklichen und noch mal studieren möchte. Das System wird durch den âAusreiĂerâ gewissermaĂen gesprengt â sprich: Es funktioniert nicht mehr so wie gewohnt, funktioniert vielleicht gar nicht mehr und zieht im Ergebnis noch einen riesigen Rattenschwanz hinter sich her: Im ersten Beispiel existiert die Partnerschaft von einer Sekunde auf die nĂ€chste nicht mehr, die Finanzen mĂŒssen geregelt werden, Bank- und/oder Rechtsanwalttermine stehen an, die Kinder leiden unter der Trennung und brauchen ebenso zusĂ€tzliche UnterstĂŒtzung. Ein Umzug muss in die Wege geleitet werden, Schulwechsel, neue Freunde finden etc.
Fakt ist: Wenn das System nicht mehr so funktioniert wie zuvor, hat das oft beinahe unĂŒberschaubare Konsequenzen. Dessen sind sich die Betroffenen durchaus bewusst. Und das ist auch der Grund, warum ihnen der Mut fehlt, den riskanten Schritt zu machen. Also belassen sie alles beim Alten. Sie harren in der Komfortzone aus, obwohl sie wissen, dass es ihnen damit nicht gut geht und sie weiterhin leiden werden.
Wir alle haben verschiedene Rollen zu erfĂŒllen â und das ist gut so. Doch diese Rollen als Vater, Mutter, GeschĂ€ftsfrau, Manager dĂŒrfen uns nicht unserer IdentitĂ€t berauben. Wenn sie das tun, sollten Sie ĂŒber das System nachdenken, in dem Sie agieren. Und seien Sie sich dessen bewusst: Ihre Aktionen lösen immer eine Reaktion aus!
1.3 Artgerecht leben
Wir Menschen sind so geschaffen, dass wir uns stĂ€ndig weiterentwickeln. Uns gegen unsere Prinzipien, ohne Arrangements und ohne Weiterentwicklung unterzuordnen ist fĂŒr uns ebenso fatal, wie in einer Rolle festgefahren zu sein, ohne es zu merken.
Nehmen wir zum Beispiel die Rolle âElternâ. Es gibt Menschen, die blĂŒhen darin regelrecht auf. Sie wissen aber auch, dass sie diese Rolle irgendwann nicht mehr in derselben Weise bekleiden können wie am Anfang, weil die Kinder auf eigenen FĂŒĂen stehen wollen und schlieĂlich ausziehen. Schon allein der Gedanke an diesen Tag schmerzt und viele Eltern fallen nach dem Auszug ihrer Kinder in ein tiefes Loch. Zwar war das eine absehbare Situation, sie haben aber all die Jahre die Augen da...