Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
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Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung

Gunnar Hindrichs, Gunnar Hindrichs

  1. 222 pages
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Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung

Gunnar Hindrichs, Gunnar Hindrichs

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Horkheimer/Adornos im kalifornischen Exil verfasste Dialektik der Aufklärung untersucht das Scheitern menschlicher Befreiung und die Errichtung neuer Herrschaftsformen. Obgleich ein Schlüsseltext der philosophischen Zeitdiagnose, gab es bislang keinen Kommentar zu ihr.
Der hier vorgelegte kooperative Kommentar geht der Dialektik der Aufklärung in zwei Durchgängen nach. Ein erster Durchgang kommentiert die einzelnen Abschnitte des Buches; ein zweiter Durchgang verfolgt Koordinaten seines theoretischen Horizonts (Kant, Hegel, Nietzsche, Freud). Abschließend gelangt die Wirkungsgeschichte des Textes zur Darstellung.
Ein Gravitationstext der kritischen Theorie unserer Zeit findet damit erstmals eine kommentierende Auslegung.

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Information

Publisher
De Gruyter
Year
2017
ISBN
9783110448887
Edition
1
Birgit Sandkaulen

1Begriff der Aufklärung

1.1Einleitung

Aufklärung zielt wörtlich auf Klarheit. Um etwas klar zu sehen, bedarf es des Lichts. Noch besser als im deutschen Begriff kommt der Bezug auf Helligkeit und Licht in den englischen und französischen Begriffen zur Geltung: „Enlightenment“ und „Les Lumières“ heißt „Aufklärung“ hier. Ihren Ursprung hat die Auszeichnung des Lichts bei Platon. Aus der Gefangenschaft in der Höhle, wo Schatten für die Wahrheit gehalten werden, führt der Weg der Erkenntnis ins Helle, dahin, wo die Sonne, und nicht ein unterirdisch flackerndes Feuer, Licht und Wärme spendet. Auch dieser Aufstieg aus der Höhle ist ein Weg der Aufklärung. Wer ihn unter Mühen auf sich nimmt, wird schließlich gewahr, dass er Schein und Sein, Schein und Wahrheit in der Höhle verwechselt hat. Und im Rückgang auf Platon sieht man zugleich auch, worüber sich Aufklärer streiten könnten: nämlich darüber, ob der Prozess der Aufklärung in der schmerzhaften Anstrengung besteht, die Augenöffnen zu lernen, um im Licht der Sonne klar zu sehen, oder darin, zu einer Erkenntnis durchzudringen, die deshalb Erleuchtung bringt, weil sie selber die Lichtquelle ist.
Diesen Streit um die Aufklärung führen Horkheimer und Adorno nicht. In ihrem Text zum Begriff der Aufklärung, den sie als „theoretische Grundlage“ (5) allen folgenden Texten der Dialektik der Aufklärung vorangestellt haben, spielt die Metaphorik des Lichts überhaupt keine maßgebliche Rolle. Das hat seinen guten Grund. Die ganze traditionelle Bilderwelt der Aufklärung, die seit Platon Erkenntnis und Licht positiv aufeinander bezieht, wird eingangs radikal ins Gegenteil verkehrt und darin zerstört: Die „vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (9). In der grellen Helligkeit solcher Strahlen wird nichts sichtbar als Schwärze. Der Weg der Aufklärung, gleichgültig in welcher Variante, führt nicht ins Licht, sondern immer tiefer in die Finsternis hinein. Eine grauenhafte Vision, aber dass diese Diagnose die Wahrheit ist, ist die programmatische These, die sich mit der Behauptung der „Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (5–6) auf nichts Geringeres als die gesamte Menschheitsgeschichte erstreckt.
Ihren Ausgangspunkt bildet die Gegenwart des 20. Jahrhunderts: Die Frage ist, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (1). Faschismus, Stalinismus und der „Massenbetrug“ der „Kulturindustrie“ (128) stellen nicht etwa barbarische Abirrungen vom Weg der Aufklärung dar, sondern sind deren direkte Konsequenz. Das bedeutet zugleich, die von der Aufklärung kultivierte Emanzipation aus dem mythischen Weltbild einzureißen. „Grob ließe die erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (6). Von jeher war die Menschheitsgeschichte in das „Grauen“ verstrickt (236), von Beginn an sind Fortschritt und Rückschritt, der vermeintliche Gang in die Freiheit und die tatsächliche Befestigung der Herrschaft ununterscheidbar zusammengefallen, deren Ursprung in der Verflechtung von „Natur und Naturbeherrschung“ ausgemacht wird (6). Was sich im Fluchtpunkt der Dialektik von Aufklärung und Mythos im 20. Jahrhundert manifestiert, besiegelt diesen Befund, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Denn am Ende des Textes und nicht zufällig noch einmal in negativer Anspielung auf die Metaphorik des Lichts ziehen die Autoren ihre Radikalkritik der Aufklärung in einem ihrer eindrucksvollsten Sätze zusammen: „Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“ (48). Wer verblendet ist, sieht nichts – wie seit je die Gefangenen in Platons Höhle.
Jedoch: Wer diese These formuliert, wer also den „Verblendungszusammenhang“ als einen „Verblendungszusammenhang“ erkennt, sieht doch zumindest dies? Und wer für sich in Anspruch nimmt, das „triumphale Unheil“, das die Aufklärung zu verantworten hat, beim Namen zu nennen, will nicht etwa Einsicht und Erkenntnis befördern – also aufklären? Und wenn es in der Finsternis nichts zu sehen und also auch nichts zu unterscheiden gibt, bedarf es doch eines Lichts, einer Sonne, die scheint, ob man sich ihr zuwendet oder nicht, oder einer aus eigener Quelle leuchtenden Erkenntnis, um die Radikalkritik der Aufklärung durchzuführen? Mit anderen Worten: Von welchem Standpunkt aus wird die Dialektik von Aufklärung und Mythos in ihrer totalen Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Zustand der Welt sichtbar? Und kann sie überhaupt sichtbar werden, wenn die Menschheitsgeschichte den katastrophischen Verlauf genommen hat, den die Autoren behaupten?
Der programmatische Text zum Begriff der Aufklärung ist berühmt – ein Klassiker nicht nur im Kontext der Frankfurter Schule und ihrem „schwärzesten Buch“ der Dialektik der Aufklärung (Habermas 1985, 130), sondern des 20. Jahrhunderts insgesamt. Selten dürfte aber ein Text klassisch geworden sein, der so viele Fragen aufwirft wie dieser. Entsprechend umstritten ist er. Dabei dreht sich die Diskussion nicht allein um den Inhalt, ob also die hier formulierte Diagnose der Aufklärung plausibel ist oder nicht, ob sie das Interesse kritischer Gesellschaftstheorie fördert oder unterhöhlt oder ob sie auch aktuelle Bedeutung hat oder aus gegenwärtiger Perspektive veraltet erscheint. Entscheidend für die Diskussion ist, dies hat sich in der ersten Annäherung ja bereits gezeigt, dass der Inhalt des Textes, wie immer man zu ihm steht, ein gravierendes methodisches Problem mit sich führt. Offenkundig hat man es mit einem Dilemma zu tun. Mit ihrer Kritik unterminieren die Autoren zugleich die Bedingung der Möglichkeit ihrer Kritik, und umgekehrt: Wenn die Bedingung der Möglichkeit der Kritik gegeben ist, läuft ihr radikal negativer Impetus ins Leere.
Die zentrale Frage ist, ob dieses Dilemma in irgendeiner Weise tragbar ist oder ob es das Unternehmen letztlich ruiniert. Und wie schwerwiegend diese Problematik wirklich ist, lässt sich auch daran ermessen, dass sie für so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal des Textes sorgt. Radikale Kritik der Aufklärung hat es vielfach gegeben (Vico, Rousseau, Herder, Jacobi, Hegel, Nietzsche, um nur einige zu nennen), aber nirgends, auch bei Heidegger nicht, ist sie so durchgreifend wie bei Horkheimer und Adorno mit dem methodischen Problem ihrer Darstellbarkeit verwachsen. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Text kann daran nicht vorbeigehen. Das macht die Aufgabe anspruchsvoll, und sie wird keineswegs leichter angesichts einer Textur, die bis in die essayistisch-fragmentarische Form und das verwendete Vokabular hinein den Charakter einer diskursiv argumentierenden Abhandlung sprengt. Zwar kündigt der Titel einen Begriff der Aufklärung an, aber mit den üblichen Verfahrensweisen begrifflicher Verständigung hat dies bewusst nichts zu tun. Die „Arbeit des Begriffs“, wie es in Anlehnung an Hegel heißt, soll etwas ganz anderes als die „falsche Klarheit“ sein, die die Aufklärung erzeugt (4). Die falsche Klarheit ist „dunkel“ (4), womit man erneut auf die Verkehrung der Lichtmetaphorik und im selben Moment auf die Frage stößt, in welcher Art Licht sich diese Kritik der Aufklärung bewegt.
Die Verführung ist groß, dieser Problematik auszuweichen. Entweder gibt man sich dann der Suggestivkraft des Textes hin oder man geht auf Abstand dazu um den Preis zu großer Distanz. Beides ist im Interesse einer genauen und problemorientierten Erörterung zu vermeiden. Um diese Erörterung so transparent wie möglich zu führen, werden im Folgenden zwei Durchgänge durch den Text unternommen. Zunächst geht es in wohlgemerkt künstlicher Isolierung um inhaltliche Aspekte des hier vertretenen Aufklärungsbegriffs, danach folgt die Diskussion des Methodenproblems.

1.2Inhaltliche Aspekte I: Instrumentelle Vernunft und Naturbeherrschung

„Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und durch Wissen stürzen. Bacon, ‚der Vater der experimentellen Philosophie‘, hat die Motive schon versammelt“ (9). Auch Horkheimer und Adorno versammeln hiermit ihre Motive – im Grunde ist mit diesem Auftakt alles Entscheidende gesagt. Von Beginn an wird Aufklärung mit dem Komplex aus Furcht und Herrschaft und deren Initial der Naturbeherrschung identifiziert. Dabei fungiert Aufklärung nicht als Epochenbegriff, den man traditionell mit dem 18. Jh. assoziiert, sondern soll „im umfassenden Sinn“ verstanden werden. In diesem umfassenden Sinn kommen alsbald auch die Antike und dann das mythische Weltbild ins Spiel; zunächst aber wird das Selbstverständnis der Aufklärung, sich vom Mythos zu befreien, beim Wort genommen. Mit Francis Bacon soll es den naturwissenschaftlichen Aufbruch der Neuzeit markieren und mit der Formel aus Max Webers Schrift Wissenschaft als Beruf, der „Entzauberung der Welt“ (Weber 1992, 87), wird es programmatisch unterlegt.
Für alles Weitere sind damit die Weichen gestellt. Indes ist zu beachten, wie eigenwillig dieser Auftakt wirklich ist. Ganz abgesehen davon, dass die Adaption der Weberschen Formel quer zu dessen eigenem Anliegen steht und auch die Einfügung Bacons in diesen Kontext nur um den Preis einer Verkürzung seiner Position geschieht, sollte vor allem auffallen, wer hier nicht genannt wird: Descartes nämlich, mit dem sonst jede – auch kritische – Darstellung moderner Rationalität beginnt. Als Gewährsmann einer Neubegründung der Naturwissenschaft, die auf Anwendung zielt und den Menschen als „maîtres et possesseurs“ der Natur nützlich sein soll (Descartes 2011, 107), hätte er durchaus hierher gepasst. Und in gewisser Weise hätte er sogar noch besser als Bacon gepasst,weil er die Erkenntnis der Natur in direkter Abhängigkeit von ihrer Erkennbarkeit durch den Geist bestimmt und eben damit den vielkritisierten Dualismus von Geist und Körper herbeigeführt hat, der die Natur auf eine berechenbare „res extensa“ herunterbricht. Und doch fehlt sein Name hier offenbar nicht umsonst. Denn nicht nur hat Descartes die Grundlagendisziplin einer Metaphysik konzipiert, die als solche allen Anwendungsoptionen vorausliegen soll. In eins damit ist er auch einem Konzept von Vernunft gefolgt, das sich dem widersetzt, was Horkheimer und Adorno dem Auftakt und Fortgang ihres Textes als alternativlose Version eingeschrieben haben: dem Konzept einer ausschließlich instrumentellen Vernunft.1„Technik ist das Wesen dieses Wissens“ (10), und, das berühmte Wort Bacons zitierend, „Macht und Erkenntnis sind synonym“ (10).
Mit anderen Worten: Was der stillschweigende Ausschluss Descartes’ exemplarisch deutlich macht, ist das Verfahren einer Reduktion. Indem der „Begriff der Aufklärung“ auf die Charakteristika instrumenteller Vernunft festgelegt und ausgehend davon dann auch dem Mythos ein instrumentell verstandenes Aufklärungspotential unterstellt wird, handelt es sich um eine Engführung der Vernunft auf lediglich einen Typus von Rationalität. Das wäre dann nicht problematisch, wenn es den Autoren darauf ankäme, die Aufklärung als ein spezifisches Projekt zu analysieren, neben dem es in der Menschheitsgeschichte auch andere Projekte gegeben hat. Auf solche Projekte könnte sich eine Kritik der instrumentellen Vernunft dann unter Umständen auch berufen oder in ihnen zumindest Möglichkeiten eines alternativen Selbst- und Weltverständnisses freilegen. Indessen wird genau diese Option vergleichsweise traditioneller Vernunftkritik im Begriff der Aufklärung gezielt überboten. Aufklärung ist hier kein spezifisches Projekt. Mit der ihr zugewiesenen instrumentellen Grundausrichtung (die als solche im übrigen nicht originell, sondern eingestandenermaßen aus dem Aufklärungskapitel von Hegels Phänomenologie des Geistes übernommen ist; Wiggershaus 1988, 371; vgl. DA 19) soll sie vielmehr den Gesamtverlauf menschlichen Denkens ausnahmslos beherrschen: „Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell“ (14).
Für differenzierende Einschätzungen, abgesehen von der Behauptung einer sich von der Antike über die Neuzeit bis in die Gegenwart fortschreitend steigernden Logik instrumenteller Vernunft, ist hier kein Platz, und damit wird die Sachlage nun sehr wohl problematisch. Dass sie der Vielzahl verschiedenster Positionen erkennbar nicht gerecht wird, ist dabei noch die geringste Schwierigkeit, denn dies, um es etwas ironisch zu sagen, können Parmenides und Russell und alle die, die dazwischen gelebt und gedacht haben, verschmerzen. Viel wichtiger ist, was sich daraus für die Anlage des Textes selbst ergibt. Zum einen kann man den Autoren auf der inhaltlichen Ebene vorhalten, dass sie mit ihrer Kritik mindestens so reduktionistisch verfahren wie die Aufklärung, der sie dies vorwerfen, oder mehr noch, dass sie mit Sätzen wie „Aufklärung ist totalitär“ (12) den Totalitarismus selbst allererst erzeugen, den sie auf die Aufklärung projizieren (Hesse 1984, 117–119). Und zum anderen entsteht ja genau so auch das zentrale methodische Problem: die Frage nach dem Standpunkt oder dem Maßstab, an dem Horkheimer und Adorno ihre Kritik orientieren.
Auf vertrackte Weise drängt sich diese Frage auch gleich anfangs schon auf. Um das Verfahren instrumenteller Vernunft anzugeben, sind die Autoren darauf angewiesen, es gegen einen Hintergrund abzuheben, und nachdem die Aufklärung ihnen zufolge ja die gesamte Denkgeschichte einschließlich ihrer mythischen Ursprünge umfasst, wird dieser Hintergrund in die archaische Gestalt des magischen Animismus verlegt: „Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus“ (11). Vertrackt ist dieser Bezug deshalb, weil daraus einerseits folgt (was oft, so jüngst auch bei Hetzel 2011, übersehen wird), dass Mythos und Magie nicht dasselbe sind und auch nicht sein dürfen, wenn die Kritik überhaupt einen Anhaltspunkt haben soll, andererseits aber keiner Wiederverzauberung das Wort geredet werden soll, so als würde das animistische Weltbild das verlorene Paradies eines glücklichen Urzustandes bezeichnen, in den die Menschheit vielleicht nicht zurückgelangen, aber ihre Sehnsüchte nach einem guten Leben daran doch messen kann. Nach diesem – methodisch stabilen – Modell hat seinerzeit Rousseau die erste „Dialektik der Aufklärung“ verfasst, während Horkheimer und Adorno eben nicht die „Rousseauisten“ des 20. Jahrhunderts sind. Unter dem Stichwort der „Mimesis“ wird darauf später zurückzukommen sein.
Hier kommt es zunächst auf die inhaltliche Bestimmung der instrumentellen Vernunft an, wie sie sich aus der Konfrontation mit dem Animismus ergibt. „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen“ (10) – das ist der schon erwähnte Leitgedanke der Technisierung des Wissens. Demgegenüber wird der Animismus unter dem Leitgedanken der „Qualitäten“ charakterisiert (14, 16, 19). Eine qualitativ bestimmte Erfahrung der Natur „rechnet“ nicht nur mit der Fülle heterogener Phänomene, sondern vor allem auch mit ihrem originären Eigensinn, weil sich einer solchen Weltsicht alles als lebendig und mit eigenen Kräften begabt darstellt. Sich davon als von einer „Illusion“ (12) befreien zu wollen, ist das Interesse der Aufklärung. Und ihrem kritischen Duktus zum Trotz ist dieses Interesse Horkheimer und Adorno zufolge sogar nachvollziehbar, indem Maße nämlich, wie sich im Animismus – von einem ursprünglich heilen Naturzustand weit entfernt – die Urszene menschlicher Furcht manifestiert.
Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht der „Ruf des Schreckens“: „Mana, der bewegende Geist, ist keine Projektion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden“ (21). Um solcher Übermacht zu entkommen, wird im Zeichen fortschreitender instrumenteller Vernunft die Vernichtung der Qualität zugunsten durchgreifender Quantifizierung vollstreckt. Die Grundoperation eines solchen auf Berechenbarkeit zielenden Denkens ist die gewaltsame Herstellung von Identität, die durch Abstraktion, Formalisierung und systematische Vereinheitlichung gekennzeichnet ist (13). „Was anders wäre, wird gleichgemacht“ (18). Aufklärung „schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen“ (19).
Mit dieser im folgenden Abschnitt näher ausgeführten These eines direkten Zusammenhangs zwischen dem Aufklärungsprozess und seinen realgesellschaftlichen Folgen widersprechen die Autoren nicht nur der Vorstellung einer kontextlos reinen Denkgeschichte, sondern auch, und diese Pointe ist für das Profil der Kritischen Theorie dieser Zeit mindestens so wichtig, der marxistischen Doktrin von Basis und Überbau. Dass sich aber im Gang dieses Prozesses alles zu einem einzigen totalitären Zwangszusammenhang zusammenzieht und somit jeglicher Rede von angeblich eroberter Freiheit spottet, wird hier als das zentrale Merkmal des Mythos markiert. Als frühestes Produkt der Aufklärung wollen bereits die Mythen die Welt „erklären“ (14). Entscheidend aus Sicht Horkheimers und Adornos ist dabei der im Mythos greifbare Erklärungstyp, der alles Geschehen in den Bann schicksalhafter „Wiederholung“ stellt (17–18). Scheinbar das Gegenteil dessen, was Aufklärung für sich beansprucht, verkörpert der Mythos in Wahrheit den zwanghaften Komplex unentrinnbarer Notwendigkeit, in den Aufklärung nicht so sehr „zurückschlägt“, wie es in der Vorrede heißt, sondern in den sie sich von Anfang an verstrickt. Instrumentelle Vernunft ist die unheimliche mythische Vernunft, deren Auswüchse in der Barbarei des 20. Jahr...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. Zitierweise
  7. Einleitung
  8. 1 Begriff der Aufklärung
  9. 2 Exkurs I. Odysseus oder Mythos und Aufklärung
  10. 3 Exkurs II. Juliette oder Aufklärung und Moral
  11. 4 Kulturindustrie
  12. 5 Elemente des Antisemitismus
  13. 6 Aufzeichnungen und Entwürfe
  14. 7 Kant in the Dialectics of Enlightenment
  15. 8 Die Dialektik in der Dialektik der Aufklärung. Die Spur Hegels
  16. 9 Verkehrte Aufklärung. Die Spur Nietzsches
  17. 10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
  18. 11 Die Dialektik der Aufklärung nach siebzig Jahren
  19. 12 Auswahlbibliographie
  20. Biographische Angaben
  21. Namensregister
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[author missing]. (2017). Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1st ed.). De Gruyter. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1138859/max-horkheimertheodor-w-adorno-dialektik-der-aufklrung-pdf (Original work published 2017)

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[author missing]. (2017) 2017. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik Der Aufklärung. 1st ed. De Gruyter. https://www.perlego.com/book/1138859/max-horkheimertheodor-w-adorno-dialektik-der-aufklrung-pdf.

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[author missing] (2017) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. 1st edn. De Gruyter. Available at: https://www.perlego.com/book/1138859/max-horkheimertheodor-w-adorno-dialektik-der-aufklrung-pdf (Accessed: 14 October 2022).

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[author missing]. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik Der Aufklärung. 1st ed. De Gruyter, 2017. Web. 14 Oct. 2022.