Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus
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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert

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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert

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Über die Epochen hinweg haben sich literarische Werke und Genres explizit oder implizit mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt. Doch gerade die vergangenen Jahrzehnte, in welchen der Kapitalismus nach Mark Fisher zum ausweglosen Vorstellungshorizont avanciert ist, zeugen von einer vermehrten Infragestellung des Kapitalismus in der literarischen Produktion sowie der Literaturwissenschaft. Vor diesem Hintergrund vereint der interdisziplinĂ€re Sammelband BeitrĂ€ge aus der Germanistik, Romanistik, Amerikanistik und Anglistik, die den Blick auf verschiedene zeitgenössische Manifestationen des globalen Kapitalismus und deren literarische oder filmische ReprĂ€sentationen richten.

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I. Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus

Kapitalismus, Moral und Ökologie: kritische Darstellungen der italienischen Gegenwart in Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006)

Stephanie Neu-Wendel

1. Literatur als Medium von Wirtschafts- und Gesellschaftskritik

Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Darstellung der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter KriminalitĂ€t Italiens in der zeitgenössischen italienischen Literatur. Als Beispiele dienen zwei nach wie vor aktuelle Bestseller: der Kriminalroman Nelle mani giuste (2007), ins Deutsche ĂŒbersetzt als Schmutzige HĂ€nde (2011), in dem der Richter, Schriftsteller und Journalist Giancarlo De Cataldo den Aufstieg Silvio Berlusconis thematisiert, sowie die „Dokufiction“ Gomorra: Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra1 (2006) des Journalisten Roberto Saviano, die als Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra (2007) ebenfalls ins Deutsche ĂŒbersetzt wurde.2 In Gomorra schildert Saviano in einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen und Fiktion die Strukturen und GeschĂ€fte der kriminellen Organisation Camorra3 und ihre Verbindungen zu Politik und Wirtschaft.
Den Leitfaden der folgenden Analyse bildet eine der Fragen, die von den Organisatorinnen der Ringvorlesung, auf der die folgenden AusfĂŒhrungen basieren, formuliert wurde: „Wie lassen sich gegenwĂ€rtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie fĂŒllt wiederum die Literatur?“ Der Schwerpunkt der AusfĂŒhrungen liegt auf dem Themenfeld ‚Kapitalismus und Moral‘, das insbesondere in Nelle mani giuste im Zusammenhang mit dem darin geschilderten Aufstieg Berlusconis eine zentrale Rolle spielt. Dieser Themenkomplex wird ergĂ€nzt durch einen Exkurs zu ‚Kapitalismus und Ökologie‘; hier liegt der Fokus auf Praktiken der illegalen MĂŒllentsorgung, wie sie Saviano in Gomorra eindrĂŒcklich vor Augen fĂŒhrt.
Der Auseinandersetzung mit den literarischen Beispielen geht eine kurze theoretische EinfĂŒhrung voraus, in der dargelegt wird, welche Aspekte der Kapitalismuskritik als Folie fĂŒr die Analyse dienen und welche Bezugspunkte sich konkret zu den beiden gewĂ€hlten Werken ergeben. Die Betrachtung der beiden Textbeispiele kreist schließlich im Wesentlichen um die Frage, welche Möglichkeiten gerade literarische – und vor allem fiktionale – Texte bieten, Kritik an wirtschaftlichen und politischen (Fehl-)Entwicklungen zu ĂŒben, sei es durch eine Mischung von Fakten und Fiktion oder durch die Charakterisierung der Figuren.4
In Bezug auf die grundsĂ€tzliche, viel diskutierte Frage nach Grenzen und Möglichkeiten der Literatur bei der Darstellung gesellschaftlicher ‚RealitĂ€ten‘ lĂ€sst sich an Überlegungen des Schriftstellers und Journalisten Enno Stahl anknĂŒpfen, dem zufolge die literarische Darstellung der ‚Wirklichkeit‘
eine (vom Autor interpretierte/analysierte) Version der gesellschaftlichen RealitĂ€t anbietet und so ĂŒberhaupt erst kritisches Potential entfalten kann. Um eine blanke Abbildung der Wirklichkeit kann es heute also nicht mehr gehen, weder wirkungs- noch produktionsĂ€sthetisch. (108, Hervorhebung im Orig.)
Stahl bringt explizit die ‚empirischen‘ Autorinnen und Autoren als ‚Interpreten der Wirklichkeit‘ ins Spiel; vergleichbare Überlegungen finden sich ebenfalls in den AusfĂŒhrungen der Narratologin Liesbeth Korthals Altes, die sich – in Anlehnung an Aristoteles – mit dem auktorialen ethos auseinandersetzt.5 Korthals Altes zufolge sei verstĂ€rkt eine Selbstdarstellung von Autorinnen und Autoren zu beobachten, fĂŒr die soziales, gesellschaftliches Engagement und eine kritische, engagierte Haltung zentral seien:
In reaction, it seems, to what was perceived as postmodern ‚anything goes‘ irony and disengagement, writers, like their fellow artists working in other mediums, have voiced their social or ethical commitment through their literary works, often alongside forms of social activism. Motivations for writing, such as wanting to make suppressed voices heard, to disclose history’s forgotten facets, or to defend causes such as homosexuality, are now widely recognized as central concerns of literature, rather than as exogenous, ‚heteronomous‘ ones. An author’s protestations about his or her social mission usually require as a backing that she or he radiate a convincing ethos of sincerity, experience-based authority, and so on. (9)
Sowohl De Cataldo als auch Saviano melden sich auch außerhalb ihrer gesellschaftskritischen Romane zu Wort. So wird De Cataldo beispielsweise in einem Artikel in der ZEIT explizit als Streiter fĂŒr demokratische Werte vorgestellt;6 Saviano wiederum erscheint durch die unmittelbaren Folgen des Erscheinens von Gomorra – Morddrohungen durch die Camorra und ein stĂ€ndiges Leben unter Polizeischutz an versteckten Orten – als besonders glaubwĂŒrdig; zudem Ă€ußert er regelmĂ€ĂŸig in Zeitungsartikeln oder auch im Fernsehen Kritik an aktuellen politischen Entwicklungen in Italien.7 Die in außerfiktionalen ZusammenhĂ€ngen zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Positionierungen können entsprechend auch auf die Rezeption der (fiktionalen) Werke zurĂŒckwirken; besonders deutlich wird dies am Beispiel von Gomorra, in dem die Grenze zwischen ErzĂ€hler- und Autorfigur bereits von der Anlage des Textes her durchlĂ€ssig ist und sich fiktionale ErzĂ€hlstrategien mit konkreten biographischen, faktenbezogenen Anteilen mischen.

2. Kritik am Kapitalismus in Nelle mani giuste und Gomorra: theoretische Bezugspunkte

Wie in der Einleitung skizziert, spielt vor allem in Nelle mani giuste die Verflechtung von Wirtschaft und Politik eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang ließe sich die Frage stellen, ob die Darstellung dieser Allianz dem entspricht, was der Soziologe Johannes Berger als „Herrschaftskritik“, verstanden als „Kritik der politischen Herrschaft im Staat“ (33), beschreibt.1 Wie Berger unter Bezugnahme auf marxistische Theorien erlĂ€utert, zeichnet sich dieser Aspekt der Kapitalismuskritik durch die Annahme aus, dass „[
] der Staat [
] nichts anderes als ein ‚Instrument der herrschenden Klasse‘“ sei (33). Berger selbst steht dieser Sichtweise skeptisch gegenĂŒber und bringt Argumente vor, die dagegen sprechen, „[
] im Staat nur den direkten oder indirekten Agenten des Kapitals zu erblicken“ (34). Er kommt zu dem Schluss, dass „die gegenwĂ€rtige Lage des Staats in westlichen Gesellschaften [
] insgesamt eher durch ‚Herrschaftsverlust und Sanktionsverzicht‘ gekennzeichnet zu sein [scheint] als durch zunehmende Repression“ (34).
Bergers EinwĂ€nde erwecken den Eindruck einer idealtypischen Beschreibung demokratisch organisierter Staaten; im Gegensatz dazu zeigen Romane wie Nelle mani giuste auf, dass auch in Demokratien Regierungen sehr wohl – zum Beispiel durch die Wahl eines Vorzeige-Kapitalisten wie Silvio Berlusconi zum MinisterprĂ€sidenten – einer wirtschaftlich privilegierten Elite in die HĂ€nde spielen können. In diesem Sinne lĂ€sst sich De Cataldos Roman durchaus als „herrschaftskritisch“ bezeichnen.
Eine besondere Rolle kommt, wie bereits angedeutet, in diesem Zusammenhang auch der Frage nach Moral und Unmoral im kapitalistischen System zu; hierzu zĂ€hle laut Berger „die Betrachtung der Auswirkungen der kapitalistischen Expansion auf die soziale und natĂŒrliche Umwelt des Wirtschaftssystems“ (37). Kritik, die im Zusammenhang mit den Folgen fĂŒr die „soziale Umwelt“ geĂ€ußert wird, ziele in erster Linie darauf ab, das kapitalistische Wertesystem unter moralischen Gesichtspunkten zu beleuchten und auf Entwicklungen hinzuweisen, die als negativ wahrgenommen werden:
Das Argument vom Gemeinschaftsverlust (oder Moralverlust) als Folge der Expansion der Marktwirtschaft tritt in mehreren Varianten auf. Es ist z.B. prĂ€sent in den BefĂŒrchtungen der christlichen Kirchen, dass materialistische Einstellungen ĂŒberhand nĂ€hmen und andere, höherwertige moralische Orientierungen (‚SolidaritĂ€t‘) verdrĂ€ngten. Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine breite Strömung der Kritik am Konsumismus und Hedonismus einer kapitalistisch geprĂ€gten Kultur, die an die Stelle Ă€lterer und höher geschĂ€tzter Lebensformen und Wertorientierungen trĂ€ten. (38)
Deutlicher und plakativer als Berger, der Kritik am kapitalistischen System zwar darstellt, aber nicht zwangslĂ€ufig teilt,2 Ă€ußert sich der Philosoph Michael J. Sandel zum Einfluss der Wirtschaft auf die Gesellschaft, insbesondere zum Übergang von einer „market economy“ zu einer „market society“:3
to decide where the market belongs, and where it should be kept at a distance, we have to decide how to value the goods in question – health, education, family life, nature, art, civic duties, and so on. These are moral and political questions, not merely economic ones. [
] The difference is this: A market economy is a tool – a valuable and effective tool – for organizing productive activity. A market society is a way of life in which market values seep into every aspect of human endeavor. It’s a place where social relations are made over in the image of the market. (10-1)
Ebenfalls aus einer soziologischen Perspektive zeichnen Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher und Philipp Ramos Lobato ein Ă€hnlich dĂŒsteres Bild des „‚postfordistisch‘ transformierten Kapitalismus“ (9), in dem „[d]ie ‚Logik‘ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens unter das WarenverhĂ€ltnis und zur Verdinglichung der sozialen Beziehungen, endgĂŒltig zu triumphieren [scheint], und zwar weltweit“ (ebd.).
De Cataldo setzt in Nelle mani giuste ein vergleichbares Szenario literarisch um: Anhand der Überzeichnungen in der Figurendarstellung wird Politik als ein System dargestellt, in dem alle Beteiligten in erster Linie darum bemĂŒht sind, ihren Profit zu maximieren, wĂ€hrend das Gemeinwohl in den Hintergrund tritt. In Gomorra wiederum wird das System der organisierten KriminalitĂ€t als eine Parallelgesellschaft beschrieben, in der – Sandels Darstellung entsprechend – alles und jeder kĂ€uflich zu sein scheint und sowohl Objekte als auch (illegale) Dienstleistungen und Menschen einen ‚Preis‘ haben.
Ein weiterer Aspekt der Kapitalismuskritik, der ebenfalls deutlich in Gomorra zu Tage tritt und mit der Darstellung der kriminellen Parallel-Marktgesellschaft zusammenhĂ€ngt, betrifft Gefahren fĂŒr die Umwelt. Auch hier lassen sich AnknĂŒpfungspunkte an kapitalismuskritische Stimmen erkennen:
Das wirtschaftliche Wachstum fĂŒhrt, so lautet der Tenor der Kritik, zu einer beĂ€ngstigenden Verschmutzung von Luft, Erde und Wasser, es verbraucht in einem atemberaubenden Tempo die natĂŒrlichen Ressourcen, rottet Arten aus, vernichtet uralte WaldbestĂ€nde und gefĂ€hrdet damit nicht nur die LebensrĂ€ume vieler Arten, sondern letztlich auch die Lebensgrundlagen des Menschen. (Berger 38-9)
Savianos Darstellung in Gomorra geht ĂŒber diese generelle Kritik am Wirtschaftswachstum beziehungsweise an einem fehlenden Bewusstsein fĂŒr die Folgen der Expansion und Industrialisierung, fĂŒr die nur die Profitmaximierung im Vordergrund steht, weit hinaus. AusfĂŒhrlich werden die Praktiken der illegalen MĂŒllentsorgung geschildert, von der mehrere Seiten profitieren: zum einen die legale Wirtschaft, da sie Geld spart, zum anderen die organisierte KriminalitĂ€t, hier insbesondere die Camorra, fĂŒr die das MĂŒllgeschĂ€ft zu einer lukrativen Einnahmequelle geworden ist.
Sowohl in Bezug auf Nelle mani giuste als auch auf Gomorra lĂ€sst sich an dieser Stelle festhalten, dass insbesondere Aspekte der Kapitalismuskritik, die mit moralischen und ökologischen Fragestellungen in Zusammenhang stehen, aufgegriffen und mit Mitteln der – fiktionalen – Literatur dargestellt werden. Wie sich diese Umsetzung der Kritik konkret gestaltet, wird in den folgenden beiden Abschnitten anhand ausgewĂ€hlter Textpassagen nĂ€her ausgefĂŒhrt.

3. Nelle mani giuste: Berlusconis Aufstieg an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Verbrechen

Verstrickungen von Politik, Wirtschaft und Mafia sind nicht nur das zentrale Thema von Nelle mani giuste, sondern auch von dessen VorgĂ€ngerroman Romanzo criminale (2002), in dem De Cataldo ein umfassendes Panorama der Verflechtungen staatlicher, parastaatlicher und krimineller Strukturen in Italien von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart entfaltet.1 Romanzo criminale trĂ€gt bereits im Titel eine Referenz auf den Kriminalroman, ein Genre, das sich in Italien bereits seit seiner Entstehung als kritische und engagierte Literatur prĂ€sentiert.2 Der italienische ‚Giallo‘ – zu Deutsch ‚gelb‘; so benannt nach der Umschlagsfarbe einer Kriminalroman-Reihe des Verlags Mondadori – zeichnet sich zum einen durch einen hohen Lokalbezug aus; zum anderen beziehen sich Autorinnen und Autoren des ‚Giallo‘ immer wieder auf politisch brisante Themen wie ungelöste KriminalfĂ€lle, in die Staat, Mafia und Wirtschaft verwickelt sind, um mit Mitteln der Fiktion literarische Hypothesen aufzustellen und nicht nachwe...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Zur Thematik und AktualitÀt dieses Bandes
  6. I. Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus
  7. II. Über das Wie der Kritik
  8. III. Von Katastrophen, Untergangsszenarien und (mangelnden) AlternativentwĂŒrfen
  9. Fußnoten